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Open AccessForum – Diskussionsbeitrag

Einordnung und Kommentierung der INCOG-2.0-Leitlinie „Exekutive Funktionen“ im Kontext kognitiver Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma

Published Online:https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000389

Abstract

Zusammenfassung: Exekutive Funktionen (EF) umfassen Fähigkeiten, welche mit höheren Steuerungs- und Planungsaufgaben sowie der Koordination basaler kognitiver Prozesse assoziiert sind. Durch ein moderates bis schweres Schädel-Hirn-Trauma (SHT) können EF langfristig beeinträchtigt werden und die funktionale Lebensführung sowie die Lebensqualität erheblich einschränken. Die Klinische Neuropsychologie verfügt über Methoden, exekutive Dysfunktionen zu diagnostizieren, und hält eine Vielzahl von Strategien zu deren Behandlung bereit. Ein interdisziplinäres Expert_innennetzwerk, die International Group of Cognitive Researchers and Clinicians, hat im Jahr 2023 eine überarbeitete und aktualisierte Leitlinienempfehlung zur Behandlung beeinträchtigter EF und Self-Awareness nach moderatem bis schwerem SHT veröffentlicht. Im vorliegenden Artikel werden zentrale Punkte dieser Leitlinien zusammengefasst und diskutiert. Zudem erfolgt eine Gegenüberstellung mit der deutschsprachigen S2e-Leitlinie „Diagnostik und Therapie von exekutiven Dysfunktionen bei neurologischen Erkrankungen“.

Commentary on the INCOG 2.0 Guideline «Executive Functions» Regarding Cognitive Rehabilitation after Traumatic Brain Injury

Abstract: Executive functions include mental abilities associated with higher control and planning tasks and the coordination of basal cognitive processes. Moderate to severe traumatic brain injury (TBI) can impair these abilities in the long term and significantly limit all-day functioning and quality of life. Clinical neuropsychology has methods for diagnosing executive dysfunctions and offers a variety of strategies for their treatment. In 2023, an interdisciplinary network of experts, the International Group of Cognitive Researchers and Clinicians (INCOG), published a revised and updated guideline recommendation for treating impaired executive functions and self-awareness after moderate to severe TBI. This article summarizes and comments on the central points of these guidelines. In addition, it compares them to the S2e guidelines of the Association of the Scientific Medical Society e. V. (AWMF) and the German Society for Neurology (DGN) on “Diagnostics and Therapy of Executive Dysfunctions in Neurological Diseases.” The article concludes with a discussion of the limitations and practical applicability of the guidelines.

Einleitung

Als Schädel-Hirn-Trauma (SHT) werden Läsionen bzw. funktionale Beeinträchtigungen des Gehirns durch äußerliche Gewalteinwirkung verstanden (vgl. Weber & Kätterer, 2023). In Europa erleiden jedes Jahr etwa 2.5 Mio. Menschen ein SHT (vgl. Maas et al., 2015). In Deutschland liegt die jährliche Inzidenz für ein SHT bei über 300 Fällen pro 100 000 Einwohner_innen (Bražinová et al., 2021). Ein SHT zieht häufig für Betroffene und deren Angehörige langanhaltende Krankheitsfolgen nach sich; zugleich verursachen SHTs beträchtliche finanzielle und gesamtgesellschaftliche Kosten. So zeigte eine prospektive Kohortenstudie, dass etwa 50 % der behandelten Patient_innen auch mit nur einem milden Ausprägungsgrad eines SHT nach einem Jahr noch immer eine Behandlung benötigten (Rickels, von Wild & Wenzlaff, 2010). Darüber hinaus schätzt dieselbe Studie deutschlandweit die gesamtgesellschaftlichen finanziellen Kosten, die im Kontext von SHT für Rettungseinsätze, Krankenhausaufenthalte, Diagnoseverfahren, Operationen und Rehabilitationsmaßnahmen sowie die Produktivitäts- und Einkommensverluste aufgrund von Schul- und Arbeitsunfähigkeit entstehen, auf einen Gesamtwert von jährlich 2.8 Mrd. Euro.

Ein SHT geht bei vielen Betroffenen auch lange nach der Akutphase mit Beeinträchtigungen exekutiver Funktionen einher (McDowell, Whyte & D’Esposito, 1998). Exekutive Funktionen umfassen eine Vielzahl mentaler Fähigkeiten, welche mit höheren Steuerungs- und Planungsaufgaben sowie der Koordination basaler kognitiver Prozesse assoziiert sind. Sie ermöglichen es Menschen, Ziele zu erreichen, sich an neue Situationen des Alltags anzupassen und soziale Interaktionen einzugehen (vgl. Cristofori, Cohen-Zimerman & Grafman, 2019; Müller et al., 2020). In der Literatur existiert eine Vielzahl von Klassifikationen exekutiver Funktionen. So betrachtet Diamond (2013) die drei Kernbereiche Inhibition (Response Inhibition und Interferenzkontrolle), Arbeitsgedächtnis (Working Memory) und kognitive Flexibilität als zentrale Komponenten. Stuss und Alexander (2007) schlagen eine Unterteilung in drei attentionale Kontrollprozesse vor, die eng mit der Funktion des präfrontalen Kortex und dessen Interaktion mit posterioren Hirnarealen verbunden sind: Energization (Initiierung und Aufrechterhaltung von Handlungen), Task Switching (Aufgabenwechsel) und Monitoring (Überwachungsprozesse). Monitoringprozesse umfassen neben der Handlungsüberwachung auch Prozesse der Selbstwahrnehmung (Self-Awareness). Self-Awareness beschreibt die Fähigkeit, vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges Verhalten der eigenen Person verhältnismäßig zur objektiven Leistung oder den Bewertungen anderer einschätzen zu können (vgl. Hoerold et al., 2008). In der Literatur werden zwei Komponenten von Self-Awareness unterschieden (Toglia & Goverover, 2022; Toglia & Kirk, 2000): Generelle Self-Awareness umfasst die Eigenwahrnehmung und das Wissen um eigene Stärken und Schwächen, Online-Awareness bezieht sich auf die Fähigkeit eigene Handlungen beobachten und überwachen sowie an Situationen und Veränderungen anpassen zu können. Die verschiedenen Komponenten der Self-Awareness sind für einen effektiven Einsatz exekutiver Funktionen essenziell und wirken sich auch auf das Störungsbewusstsein aus.

Sind exekutive Funktionen und Self-Awareness beispielsweise durch ein SHT gestört, kann dies mit weitreichenden Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsveränderungen einhergehen, die die Lebensqualität Betroffener erheblich reduzieren und eine Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben langfristig erschweren. Draper und Ponsford (2008) konnten in einer Studie anhand neuropsychologischer Testungen aufzeigen, dass bei SHT-Betroffenen selbst nach 10 Jahren noch immer signifikante Leistungsdefizite in den Bereichen der Verarbeitungsgeschwindigkeit, des Gedächtnisses und der exekutiven Funktionen im Vergleich zu gesunden Kontrollproband_innen nachzuweisen waren. Insbesondere bei pathologischer Involvierung ventro- und dorsolateraler Bereiche des Frontallappens kann die Symptomatik das klinische Bild eines dysexekutiven Syndroms annehmen und damit Bereiche wie die Handlungsplanung, -organisation und -überwachung, das Arbeitsgedächtnis und schlussfolgernde Denken, die kognitive Flexibilität und die Selbstwahrnehmung betreffen (vgl. Müller et al., 2020; Stuss, 2011). Auch Tsai et al. (2021) stellten fest, dass 48 % ihrer Stichprobe von SHT-Patient_innen in der subakuten Phase Beeinträchtigungen exekutiver Funktionen aufwiesen, was die Verbreitung und Behandlungsnotwendigkeit dieser Symptomatik nochmals verdeutlicht. In einer querschnittlichen Beobachtungsstudie konnten zudem signifikante Korrelationen zwischen exekutiven Funktionen und metakognitiver Self-Awareness bei Patient_innen mit SHT identifiziert werden (Bivona et al., 2008). Darüber hinaus belegt eine systematische Metaanalyse die Relevanz exekutiver Funktionen für den Rehabilitationserfolg nach SHT und betont die Wichtigkeit eines frühen Interventionsbeginns, um den Rehabilitationserfolg zu maximieren (Krynicki, Jones & Hacker, 2023).

Zusammenfassend ist es demnach von hoher Wichtigkeit, konkrete und evidenzbasiert wirksame Ansätze zur Behandlung dieses komplexen Störungsbildes im Bereich der Klinischen Neuropsychologie zu etablieren, um mögliche Folgeschäden abzuschwächen, kognitive Fähigkeiten zu restituieren sowie Leid und Beeinträchtigungen Betroffener zu mindern.

Leitlinie der International Group of Cognitive Researchers and Clinicians (INCOG) zur kognitiven Rehabilitation bei Schädel-Hirn-Trauma

Ein interdisziplinäres Expert_innennetzwerk, die International Group of Cognitive Researchers and Clinicians (INCOG), formulierte bereits im Jahr 2014 auf Grundlage wissenschaftlicher Evidenzen konkrete Empfehlungen zur kognitiven Rehabilitation nach moderatem bis schwerem SHT (Bayley et al., 2014). Im Jahr 2023 wurde eine aktualisierte Fassung veröffentlicht (Bayley et al., 2023). Ziel der Empfehlungen ist es, die Behandlungsergebnisse von SHT-Patient_innen zu verbessern sowie die Auswirkungen kognitiver Defizite zu reduzieren (vgl. Bayley et al., 2023). Zudem soll der klinischen Praxis ein besserer Zugang zu den aktuellen Forschungsergebnissen in Bezug auf rehabilitative kognitive Interventionen für Patient_innen mit moderatem bis schwerem SHT verschafft und gleichzeitig eine Entscheidungshilfe für den Einsatz und die Bewertung von Rehabilitationsmaßnahmen bei SHT gegeben werden. Thematisch wurden die Leitlinien in einzelne Abschnitte, welche sechs Hauptbereiche kognitiver Rehabilitation betreffen, unterteilt: Grundprinzipien kognitiver Diagnostik oder Intervention (Bayley et al., 2023), posttraumatische Amnesie (Ponsford, Trevena-Peters, et al., 2023), Aufmerksamkeitsdefizite (Ponsford, Velikonja, et al., 2023), Gedächtnisstörungen (Velikonja et al., 2023), kognitive Kommunikationsstörungen (Togher et al., 2023) und exekutive Dysfunktionen und Self-Awareness (Jeffay et al., 2023). Letztgenannte Empfehlungen bilden den Schwerpunkt dieses Artikels.

Das INCOG-Gremium setzt sich aus verschiedenen Expert_innen unterschiedlicher, an der kognitiven Rehabilitation beteiligter Professionen zusammen (d. h. Neuropsychologie, Ergotherapie, Logopädie, Medizin und Physiotherapie) sowie aus Forschenden und Personen mit Erfahrung in der Leitlinienerstellung. Für jeden Rehabilitationsbereich wurden zudem kleinere Expert_innengruppen gebildet. Die wissenschaftliche Evidenz wurde auf Grundlage einer systematischen Literaturrecherche unter Einbezug diverser Literaturdatenbanken (Medline, Embase, Cochrane, CINAHL, und PsycINFO) generiert. Zusätzlich zur Literatur, die in die vorherige Fassung der Empfehlungen einging, wurden Publikationen im Zeitraum von 2014 bis Juli 2021 betrachtet. Die verwendete Suchstrategie beinhaltete Begriffe im Kontext von Hirnverletzungen und Kognition und jeweils den spezifischen Rehabilitationsbereichen (für die vollständige Suchstrategie siehe Supplementary Material von Bayley et al., 2023). Einschlusskriterien erforderten, dass es sich um Interventionsstudien in englischer Sprache mit nicht weniger als drei Teilnehmenden handeln musste, die nur Patient_innen enthielten, welche ihre Hirnschädigung im Alter von über 18 Jahren erworben hatten, und Stichproben, in denen mindestens 50 % der Fälle ein moderates bis schweres SHT aufwiesen. Ein moderates bis schweres SHT wurde als Wert von < 13 zu einem Zeitpunkt nach der Hirnschädigung auf der Glasgow Coma Scale definiert. Systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen wurden separat bearbeitet. Nach dem besagten Zeitraum publizierte Studien wurden dabei nach Ermessen des Expert_innengremiums ergänzend hinzugefügt. Im nächsten Schritt wurden auf der alten INCOG-Leitlinie beruhende Übersichtstabellen erstellt, welche nun durch die Leitlinienempfehlungen der aktuellen Suche ergänzt wurden. Die unterschiedlichen Arten von Evidenzen (z. B. klinische Studien, Metaanalysen, systematische Reviews) wurden dabei in Form einer Zusammenfassung eingefügt und neue Themenbereiche entsprechend hervorgehoben. Nachfolgend ordneten die bereichsspezifischen Arbeitsgruppen von Expert_innen die neuen Erkenntnisse ein, aktualisierten vorherige bzw. verfassten neue Empfehlungen und prüften deren klinische Anwendbarkeit. Die Empfehlungen wurden in gradueller Abstufung hinsichtlich der Stärke der Evidenz (A, B, C; siehe Tabelle 1) eingeordnet und ein Konsens zum Wortlaut der Empfehlung bei einstimmiger Zustimmung aller Mitglieder der Arbeitsgruppe erreicht. Darüber hinaus wurde zur Erleichterung der praktischeren Anwendbarkeit für jeden Rehabilitationsbereich ein klinischer Entscheidungsalgorithmus erstellt sowie ein Audit-Tool entwickelt, welches für individuelle Patient_innen gestattet, die Adhärenz der Behandlung mit den Leitlinienempfehlungen zu bewerten.

Tabelle 1 Übersicht über die Evidenzgrade/-klassen und Empfehlungsgrade beider Leitlinien

Die überarbeitete Fassung INCOG 2.0 umfasst für alle sechs Rehabilitationsbereiche 80 nach Evidenzgrad unterschiedene, in der Praxis bewährte Empfehlungen für die Rehabilitation nach SHT (25 Stufe A, 15 Stufe B und 40 Stufe C), wovon 27 gänzlich neu sind (vgl. Bayley et al., 2023). Es werden 38 Empfehlungen für übergeordnete Versorgungsprinzipien, die für alle Rehabilitationsbereiche gelten, gegeben. Berücksichtigt werden in diesem Kontext eine ausführliche Diagnostik der SHT-Patient_innen (zehn Empfehlungen), bereichsübergreifende, generelle Prinzipien der kognitiven Rehabilitation (sechs Empfehlungen), Medikamente zur Verbesserung der Kognition (zehn Empfehlungen), Prinzipien zur Verwendung von ferngestützter Diagnostik (Teleassessment; fünf Empfehlungen) und Rehabilitation (Telerehabilitation; sieben Empfehlungen). Die Empfehlungen für die einzelnen Rehabilitationsbereiche werden in spezifischen Artikeln behandelt. Für den Bereich der exekutiven Funktionen und Self-Awareness wurden acht Behandlungsempfehlungen ausgesprochen, welche im Folgenden genauer beschrieben werden (siehe auch Tabelle 2).

Tabelle 2 INCOG-2.0-Leitlinienempfehlungen für die Behandlung exekutiver Funktionsstörungen und beeinträchtigter Self-Awareness nach Schädel-Hirn-Trauma (SHT) einschließlich des wissenschaftlichen Evidenzgrades

INCOG-2.0-Empfehlungen für die Behandlung beeinträchtigter Exekutivfunktionen und Self-Awareness als Folge eines moderaten bis schweren SHT

#Empfehlungen 1a und b: Förderung von Selbstbeobachtung/Handlungsüberwachung zur Stärkung von Self-Awareness

Der erste Schwerpunkt befasst sich mit Interventionen für Patient_innen mit SHT-bedingt eingeschränkter Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung (Self-Awareness). Empfehlung 1a spricht sich für den Einsatz von metakognitiven Strategietrainings aus, die sowohl zur Selbstbeobachtung und Überwachung eigener Leistungen und Handlungen anregen als auch ein Feedback beinhalten. Empfehlung 1b befürwortet den Einsatz von spezifischen Self-Awareness-Trainings, um die Fähigkeit zu verbessern, Fehler bei der Ausführung von Handlungen erkennen und korrigieren zu können. Hinzukommend zur bisherigen Evidenz der alten INCOG-Leitlinie konnten im Zuge der Aktualisierung zwei neue randomisierte, klinische Studien (RCT) ergänzt werden (Cantor et al., 2014; Fleming, Goh, Lannin, Ownsworth & Schmidt, 2019) und die Empfehlung wird jetzt dem Evidenzgrad A zugewiesen. Die Arbeitsgruppe hebt hervor, dass für ein geschärftes Bewusstsein von Defiziten die Selbstreflexion sowie die Selbstbeobachtung und Handlungsüberwachung in Bezug auf Fehler verbessert werden müssen. Da diese Fähigkeiten jedoch nicht bereichsübergreifend seien, sollten für jede kognitive/emotionale Domäne (z. B. Gedächtnis vs. Problemlösen) bereichsspezifische Interventionen eingesetzt werden. Die Forschung im Bereich der metakognitiven Strategien zur Förderung von Self-Awareness habe bisher allerdings eher gemischte Ergebnisse gebracht (vgl. Jeffay et al., 2023). Als eine mögliche Erklärung für diese inkonsistenten Befunde werden die Grenzen der verwendeten Erhebungsinstrumente (Vergleich von Selbst- und Fremdrating) angeführt, welche bestimmten Verzerrungen unterliegen könnten.

Im Vergleich unterschiedlicher Feedback-Varianten, welche im Rahmen von Self-Awareness-Trainings vermittelt werden können, stellten die Autor_innen der INCOG-Arbeitsgruppe fest, dass sich eine Kombination aus einem verbalen und videogestützten Feedback am effektivsten gestalte. Darüber hinaus werden übergreifende Behandlungsempfehlungen ausgesprochen. So wird ein schrittweises Vorgehen nach dem Schema „Pause, Aufforderung, Lob“ angeraten. Für Patient_innen mit Gedächtnisschwäche sollte man erwägen, das Feedback während der Übung und nicht danach auszusprechen, weil ansonsten potenzielle Fehler unter Umständen bereits wieder vergessen sein könnten. Um eine bessere Generalisierbarkeit zu ermöglichen, sollte ein Feedback außerdem in verschiedensten Behandlungssituationen vermittelt werden. Als letzter Punkt wird angeführt, dass Therapien auch ohne vollständiges Bewusstsein des Defizits begonnen werden können. Eine fortlaufende Evaluation der Self-Awareness im Verlauf der gesamten Rehabilitation wird angeraten. Sollten in anderen Therapien keine Fortschritte erzielt werden, könne eine vorwiegende Konzentration auf die Kompetenz der Self-Awareness sinnvoll sein, bis sich das Bewusstsein verbessert.

#Empfehlung 2: Vermittlung metakognitiver Strategien

In der zweiten Empfehlung wird angeraten, metakognitive Strategien zu vermitteln (z. B. Goal Management Training), die eine schrittweise Handlungsüberwachung anleiten (plan-do-check-review), sowie Strategien, die mit der Vorhersage von Handlungsergebnissen arbeiten, insbesondere für SHT-Patient_innen mit Störungen verschiedener exekutiver Funktionen sowie Defiziten in Problemlösung, Planung und Organisation. Generell verwenden metakognitive Interventionen Elemente der Selbstbeobachtung/Handlungsüberwachung, des Einbezugs von Feedback in die Handlungsplanung sowie des Trainings der emotionalen Selbstregulierung. Aus Sicht der Leitlinienautor_innen sollten sich metakognitive Strategien direkt auf Belange des alltäglichen Lebens sowie auf persönlich relevante Funktionen beziehen. Zusätzlich zur wissenschaftlichen Evidenz der vorherigen Leitlinienempfehlung konnten vier weitere RCTs (Cantor et al., 2014; Cizman Staba, Vrhovac, Mlinaric Lesnik & Novakovic-Agopian, 2020; Elbogen et al., 2019; Tornås et al., 2016) der aktualisierten Fassung hinzugefügt werden, die damit dem Grad A entspricht. Als optimale Voraussetzung für metakognitives Strategietraining wurde bewertet, wenn sich SHT-Patient_innen der Notwendigkeit der Anwendung einer Strategie bewusst seien und konkrete Anwendungskontexte identifizieren könnten. Nochmals wird betont, dass die Anwendung von metakognitiven Strategien jedoch auch die Self-Awareness stärken könne bzw. ihr Einsatz sogar bei unvollständiger Self-Awareness hilfreich sei, sofern sinnvolle Ziele gesetzt und eine angemessene Therapiebeteiligung erreicht werden können. Auch solle die Anwendung der metakognitiven Strategien mindestens 6 Monate nach dem SHT direkt im Lebensumfeld erfolgen. Zudem wird aus der Literatur geschlossen, dass für langfristige Effekte (> 6 Mon.) Auffrischungssitzungen notwendig sein könnten.

#Empfehlung 3: Einsatz von Strategien zur Verbesserung des schlussfolgernden Denkens

Nahezu unverändert bleibt die Grad-A-Empfehlung der INCOG-Version von 2014, bei SHT-Patient_innen mit vorherrschenden Einschränkungen im schlussfolgernden Denken Strategien einzusetzen, die zu einer Verbesserung der Fähigkeit beitragen, Informationen zu analysieren und zu synthetisieren. Im bereits erwähnten RCT von Cantor et al. (2014) sehen die Autor_innen einen neuen unterstützenden Befund, da zusätzlich auch Problemlösefähigkeiten verbessert wurden.

#Empfehlung 4: Einsatz gruppenbasierter Interventionen

Im Rahmen dieser Empfehlung wird der Einsatz von gruppenbasierten Interventionen zur Wiederherstellung von Störungen im Bereich der exekutiven Funktionen und des Problemlösens nach SHT nahegelegt. Die Evidenzlage konnte infolge aktueller Literaturbelege von Grad B auf Grad A angehoben werden. Diesbezüglich wird erneut auf die besagte Studie von Cantor et al. (2014) verwiesen. Wichtig zu erwähnen ist jedoch auch, dass jenes Studiendesign in Ergänzung zu den Gruppeninterventionen auch Individualsitzungen beinhaltete.

#Empfehlung 5: Einsatz strukturierter rhythmischer Musiktherapie

Für SHT-Patient_innen mit beeinträchtigten exekutiven Funktionen sollte, unabhängig vom Grad der musikalischen Vorerfahrung, ein strukturiertes Musiktherapieprogramm mit folgenden Elementen in Erwägung gezogen werden: 1) rhythmisches Training (z. B. Spielen von Rhythmen und Ausführen koordinierter bimanueller Bewegungen mit Trommeln oder unter Einbezug des Körpers), 2) strukturiertes kognitiv-motorisches Training (z. B. Übungen mit Schlagzeug unter Klavierbegleitung durch Therapeut_in) sowie 3) unterstütztes Musizieren unter Berücksichtigung individueller Interessen der Person und des Lernfortschritts (z. B. mit Unterstützung Lieblingslieder auf dem Klavier spielen). Es handelt sich dabei um eine neue Empfehlung, welche sich auf zwei RCTs und eine Metaanalyse stützt und dem Evidenzgrad A zugewiesen wurde. In der ersten Studie, welche im Jahr 2021 durch eine Nachbefragung ergänzt wurde, führten Siponkoski et al. (2020) mit Patient_innen, die von einem moderaten bis schweren SHT betroffen waren, im Rahmen eines Crossover-Designs eine 3-monatige musiktherapeutische Maßnahme durch, welche immer zweimal wöchentlich über eine Zeitspanne von jeweils 60 Minuten umgesetzt wurde. Es zeigte sich mittels neuropsychologischer Testverfahren nach 3 Monaten eine signifikante Verbesserung der exekutiven Funktionen sowie nach 6 Monaten eine Aufrechterhaltung der Verbesserungen. Die Verbesserungen standen außerdem mit funktionellen Veränderungen der Hirnaktivität in Verbindung (Martínez-Molina et al., 2021). Die Metaanalyse von Mishra et al. (2021) untermauert diese Befunde und zeigt, dass rhythmische Musiktherapie mit signifikanten Verbesserungen der exekutiven Funktionen einhergeht. Zudem gingen in diese Analyse Patient_innen ein, bei denen der Abstand zwischen Verletzung und Intervention stark variierte. Darin sehen die INCOG-Autor_innen ein Indiz für ein breites therapeutisches Behandlungsfenster für rhythmische Musiktherapie.

#Empfehlung 6: Einsatz von Virtual-Reality-Plattformen

Behandler_innen wird empfohlen, sofern verfügbar, den Einsatz von Interventionen mit Virtual Reality (VR) als Ergänzung zu persönlichen Konsultationen in Betracht zu ziehen. Ziel dieser Empfehlung ist es, SHT-Patient_innen mit Störungen der exekutiven Funktionen einen zeitnahen und adäquaten Zugang zur Versorgung zu ermöglichen. Auch hierbei handelt es sich um eine neue Empfehlung, eingestuft nach Evidenzgrad A, basierend auf drei Studien (Alashram et al., 2019; Manivannan et al., 2019; De Luca et al., 2020).

Im Kontext von VR wird als besonderes Merkmal die hohe methodische Heterogenität der unterschiedlichen Verfahren wie auch der Grad der Immersion, d. h. des Realitätsgrades der künstlichen Umgebung, hervorgehoben. So lasse sich diese in vollständig immersiv (z. B. Head-Mounted-Display), halbimmersiv (z. B. Verwendung von Peripheriegeräten wie einem Joystick) oder nichtimmersiv (z. B. nur Tastatur und Bildschirm) unterteilen. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung der meisten Verfahren wird basierend auf Manivannan et al. (2019) die Aufgliederung in spielbasierte, in aufgabenorientierte (z. B. Route Learning) oder in simulierte Aktivitäten des täglichen Lebens angeführt. Dass der Einsatz von VR als Instrument zur rehabilitativen Behandlung neurokognitiver Defizite zwar methodisch aufgrund der Vielgestaltigkeit schwer einzugrenzen ist, jedoch trotzdem sinnvoll sein kann, zeigte vor allem das systematische Review von Alashram et al. (2019). Dieses beinhaltete insgesamt neun Studien, von denen drei Studien exekutive Funktionen in methodisch angemessener Qualität evaluierten. Es konnten infolge der VR-Interventionen Verbesserungen der exekutiven Funktionen, des Gedächtnisses und mit schwacher Evidenz auch der Aufmerksamkeit bei SHT-Patient_innen festgestellt werden. Die Autor_innen der Übersichtsarbeit kamen zu dem Schluss, dass ein Behandlungsschema von zwei bis vier Sitzungen pro Woche mit einer Dauer von jeweils zwischen 20 und 40 Minuten und insgesamt zehn bis zwölf Sitzungen den größtmöglichen Nutzen bringen könne. Aus Sicht des INCOG-Gremiums müsse diese Empfehlung allerdings noch durch zukünftige Studien untermauert werden, sodass momentan noch kein spezifisches Protokoll empfohlen werden könne.

#Empfehlung 7: Individuelles per Telerehabilitation vermitteltes metakognitives Strategietraining

Telerehabilitative individuelle metakognitive Strategietrainings (z. B. Goal Management Training) werden vonseiten des Gremiums angeraten, sofern die Fernbehandlung die komfortabelste oder einzige Möglichkeit darstellt, die Betroffenen zu erreichen. Diese sollten im Eins-zu-eins-Setting umgesetzt werden und anhand etablierter Telerehabilitationsrichtlinien, welche im Rahmen der INCOG-2.0-Leitlinien im allgemeinen Teil explizit aufgeführt werden (Bayley et al., 2023), erfolgen. Für diese Empfehlung konnten keine Studienbefunde erbracht werden, sodass es sich mit Evidenzgrad C um eine Expert_innenmeinung handelt. Innerhalb des Gremiums habe dahingehend Einigkeit bestanden, dass die Fortsetzung der Therapie über ein noch durch Studien zu validierendes Zugangsmedium therapeutisch sinnvoller sei, als eine Therapie beispielsweise pandemiebedingt unterbrechen zu müssen. Hierzu ist anzumerken, dass die Leitlinien während der SARS-CoV-2-Pandemie erstellt wurden.

#Empfehlung 8: Per Telerehabilitation vermittelte gruppenbasierte Behandlung

Zum jetzigen Zeitpunkt wird nicht empfohlen, gruppenbasierte Behandlungen exekutiver Funktionsbeeinträchtigungen im Rahmen einer Fernbehandlung durchzuführen. Als Begründung wird angeführt, dass aufgrund der höheren Komplexität von Gruppenbehandlungen persönliche Supervision und Eingreifen von Therapeut_innen notwendig sein könne, um negative klinische Auswirkungen zu verhindern. Da es aktuell keine Evidenz gebe, die für eine Anwendung spreche, bedürfe es noch weiterer Untersuchungen. Es handelt sich bei dieser Empfehlung ebenfalls um Expert_innenkonsens gemäß Evidenzgrad C.

Vergleich der INCOG-2.0-Leitlinie mit der AWMF-DGN-Leitlinie zur „Diagnostik und Therapie von exekutiven Dysfunktionen bei neurologischen Erkrankungen“

Im deutschsprachigen Raum wurde im Jahr 2015 die S2e-Leitlinie „Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter“ veröffentlicht (vgl. Firsching et al., 2015), welche inzwischen veraltet ist und sich inhaltlich mit der evidenzbasierten Versorgung von SHT-Patient_innen befasst. Allerdings enthält diese Leitlinie keine Empfehlungen zur neuropsychologischen Rehabilitation und verweist an dieser Stelle auf die Leitlinie „Multiprofessionelle neurologische Rehabilitation“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN; Ackermann & Schönle, 2012). Daneben gibt es im deutschsprachigen Raum unabhängig von der zugrundeliegenden Ätiologie eine S2e-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) und der DGN zur „Diagnostik und Therapie von exekutiven Dysfunktionen bei neurologischen Erkrankungen“, welche im Jahr 2019 aktualisiert wurde (Müller, Klein et al., 2019; Müller et al., 2020). Hier werden nach Evidenzgrad kategorisierte Therapieempfehlungen (für eine Übersicht der Empfehlungsgrade vgl. Tabelle 1) ausgesprochen, welche sich auf die Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche für den Zeitraum von 2007 bis 2017 stützen. Aus der Gruppe der kognitiven Rehabilitationsansätze werden der allgemeine Einsatz von kognitiv übenden Verfahren, Arbeitsgedächtnistrainings, Methoden zur Förderung des planerischen Denkens sowie von kognitiven Trainingsansätzen mehrerer Funktionsbereiche unter Einschluss der Exekutivfunktionen dabei als zentrale Interventionen mit Empfehlungsgrad A bewertet. Problemlösetraining wird der Empfehlungsgrad B zugewiesen. Aus der Gruppe der Ansätze zum Verhaltensmanagement werden Goal Management Training mit dem Evidenzgrad A und Impulskontroll- bzw. Selbstregulationstraining mit dem Evidenzgrad B empfohlen. Aufgrund der unzureichenden Studienlage spricht die Leitlinie für den Einsatz von Selbstwirksamkeits-/Self-Monitoring-Trainings aktuell keine Empfehlung aus. Ebenfalls ohne Empfehlung bleiben Ansätze zur Modifikation der Umwelt sowie pharmakologische Ansätze. Obwohl sich die INCOG- und die AWMF-DGN-Leitlinie in Bezug auf die Zielstellung unterscheiden (Behandlungsempfehlungen für exekutive Dysfunktionen nach moderatem bis schwerem SHT vs. Behandlungsempfehlungen für exekutive Dysfunktionen für alle neurologischen Erkrankungen unter Ausschluss von Störungen der Entwicklung und psychiatrischer Krankheitsbilder), gibt es in Bezug auf das Vorgehen und die Behandlungsempfehlung für exekutive Dysfunktionen Gemeinsamkeiten. Die INCOG- und die AWMF-DGN-Leitlinie betonen die wichtige Rolle der exekutiven Funktionen für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft sowie die Notwendigkeit von Leitlinienempfehlungen zur Verbesserung der Behandlung in der neuropsychologischen Rehabilitation. Sie stellen übergeordnet eine sorgfältige Diagnostik unter Beachtung der individuellen Defizite und den Einbezug vielfältiger Methoden sowie eine konkrete Bedarfs- und Zielbestimmung an den Beginn der neuropsychologischen Rehabilitation. Explizit wird die Bedeutung von Methoden zur Modifikation und Unterstützung in der Lebensumwelt hervorgehoben, auch wenn sie nicht als Empfehlungen aufgenommen wurden.

Insgesamt liegt bei den Empfehlungen der INCOG-2.0-Leitlinie ein Fokus auf metakognitiven bzw. Strategietrainings. Bei SHT-Patient_innen, die wenig motiviert erscheinen bzw. wenig Bewusstsein für ihre Defizite aufweisen, werden Self-Awareness-Trainings bzw. der Einsatz von Self-Monitoring-Techniken als zentrale Elemente empfohlen, die in der deutschsprachigen Leitlinie keine Therapieempfehlung erhalten. Diese empfiehlt mit hoher Stärke den Einsatz von kognitiv übenden Verfahren für unterschiedliche Funktionsbereiche. In der INCOG-2.0-Leitlinie werden hier explizit nur das Training des schlussfolgernden Denkens und das Problemlösetraining empfohlen. Scheinbar wurde die Evidenzlage für Funktionstrainings in anderen Bereichen zur Rehabilitation spezifisch bei SHT-Patient_innen von der INCOG-Expert_innengruppe als nicht ausreichend beurteilt.

Unterschiede in den Leitlinienempfehlungen können einerseits durch die unterschiedliche Zielstellung, aber auch methodisch bedingt sein. So können Unterschiede in der Abbildung aktueller Entwicklungstrends über abweichende Suchzeiträume erklärt werden. Zudem wurden unterschiedliche Evidenzklassifizierungen (vgl. Tabelle 1) benutzt. Die AWMF-DGN-Leitlinie verwendet gestufte Handlungsempfehlungen („Soll“-Empfehlung, „Sollte“-Empfehlung, „Kann“-Empfehlung, „Good clinical practice“). Diese lassen sich aus den Empfehlungen des INCOG-Gremiums hingegen nicht ableiten. Auch ist die INCOG-Leitlinie international und interdisziplinär ausgerichtet und fokussiert sich speziell auf die Rehabilitation nach SHT. Die AWMF-DGN-Leitlinie auf der anderen Seite hat auf nationaler Ebene Gültigkeit im deutschsprachigen Raum und richtet sich insbesondere an Neuropsycholog_innen und verwandte Berufsgruppen. Außerdem liegen auch inhaltliche Unterschiede in Betrachtungsweisen und Organisationsprinzipien vor (auf generelle Befundlage ausgerichtete Empfehlungen der INCOG-2.0-Leitlinie vs. Therapieverfahren zugeordnete Empfehlungen in der deutschsprachigen Leitlinie), die sich auf die Strukturierung der Ergebnisdarstellung auswirken. So wird in der AWMF-DGN-Leitlinie die aufkommende Bedeutung von Virtual-Reality-Programmen, welche in der INCOG-2.0-Leitlinie mit dem Evidenzgrad A belegt werden, als Therapiezugang für zukünftige Entwicklungen diskutiert, es erfolgt aber an der Stelle keine Empfehlung, da sie nicht als eigenes Therapieverfahren betrachtet wurde. Dies gilt ebenso für den Einsatz von gruppenbasierten Methoden. Die rhythmische Musiktherapie, welcher in der INCOG-2.0-Leitlinie der Evidenzgrad A zugewiesen wird, findet in der deutschsprachigen Leitlinie keine Berücksichtigung. Ansätze der Telerehabilitation und digitalen Versorgung werden in der letztgenannten Leitlinie ebenfalls nicht erwähnt und wurden in der INCOG-2.0-Leitlinie vor allem wegen der zum Erstellungszeitpunkt bestehenden SARS-CoV-2-Pandemie aufgenommen.

Diskussion

Im Zuge der Überarbeitung der vorherigen Leitlinie konnte das INCOG-Gremium nicht nur gegebene Empfehlungen mit neuer Evidenz bekräftigen, sondern auch neuere Innovationen im Bereich der Behandlung exekutiver Funktionsstörungen bei SHT berücksichtigen. Somit wurden die ursprünglichen vier Empfehlungen für die Bereiche der Self-Awareness, der metakognitiven Strategien, der Interventionen bei Beeinträchtigung des schlussfolgernden Denkens und der gruppenbasierten Verfahren der Problemlösung um zwei neue Empfehlungen im Bereich der rhythmischen Musiktherapie und der Virtual Reality ergänzt. Die rhythmische Musiktherapie mit ihrem Einbezug von musikalischen, körperorientierten und kognitiven Elementen erweitert das Spektrum neuropsychologischer evidenzbasierter Rehabilitationsansätze. Als potenziell vielversprechender Ansatz werden in diesem Zusammenhang auch die Tanztherapie oder andere bewegungsorientierte Ansätze wie Yoga diskutiert, für die momentan aber noch die Evidenzbasis fehlt. Virtual Reality kann über multiple Zugangskanäle individualisierbare erlebnis- und alltagsnahe Trainingsumgebungen mit hohem Aufforderungscharakter schaffen und wird in der nächsten Zeit vermutlich noch viel stärker in unterschiedlichste Rehabilitationsmaßnahmen eingebettet werden können. Auch fanden telerehabilitative Interventionen in zwei weiteren Empfehlungen Berücksichtigung, wobei hier explizit eine nicht ausreichende Evidenzlage festgestellt wurde, um vor allem gruppenbasierte Telerehabilitationsverfahren hinreichend bezüglich ihrer Wirksamkeit evaluieren zu können. Trotzdem bieten Telerehabilitation und digitale Ansätze zukünftig vielversprechende Herangehensweisen, um auch schwer erreichbare Patient_innen zu behandeln. Als zukünftig aussichtsreich werden auch Entwicklungen im Bereich der non-invasiven Neurostimulation (z. B. transkranielle Gleichstromstimulation) und des Neurofeedbacks sowie pharmakologische Interventionen gesehen.

Limitationen

Mit der INCOG-2.0-Leitlinie wird ein fundierter Überblick über den aktuellen Forschungsstand in diesem so wichtigen Kontext der Rehabilitation nach moderatem bis schwerem SHT, insbesondere für den Bereich der exekutiven Funktionen, gegeben. Nichtsdestotrotz sind die Empfehlungen an vielen Stellen recht unspezifisch und zukünftig sollte ein Schwerpunkt der Forschung darauf liegen, Empfehlungen in Form konkreter Ablaufprotokolle auf die klinische Praxis zu übertragen. So wäre es in der Praxis hilfreich, auf konkrete Aufgaben bzw. Vorgehensweisen, auch in Bezug auf die zeitliche Dauer und Intensität der Rehabilitationsmaßnahmen, zurückgreifen zu können. Ein Beispiel, wie konkrete Empfehlungen zu Intensität und Häufigkeit neuropsychologischer diagnostischer und therapeutischer Interventionen im Rahmen der stationären neurologischen Rehabilitation gestaltet werden können, bieten die „Best-Practice“-Empfehlungen von Maurer-Karattup, Neumann, Danneil und Thöne-Otto (2022) für den deutschsprachigen Raum. Zwar hat sich die Studienlage seit der Erstversion der INCOG-Leitlinien aus dem Jahr 2014 verbessert, insgesamt konnten in die INCOG-2.0-Leitlinie zur Behandlung exekutiver Dysfunktion allerdings nur 11 neue Referenzen aufgenommen werden, was in Anbetracht des weiten Spektrums von exekutiven Funktionen, potenziellen Rehabilitationsmethoden und Patient_innencharakteristika auf noch erheblichen Forschungsbedarf verweist. Wie auch von den Autor_innen selbst betont, benötigt es an vielen bereits genannten Stellen weiterer wissenschaftlicher Studienbefunde, um die Wirksamkeit abzusichern und damit letztlich auch weiterführend konkretere Anwendungsempfehlungen, auch für individualisierte Rehabilitationsmaßnahmen, vermitteln zu können. Erschwert wird die systematische Literatursuche und Generierung von Therapieempfehlungen auch dadurch, dass es keine anerkannte Taxonomie exekutiver bzw. kognitiver Funktionen gibt und daher die Begrifflichkeiten nicht eindeutig verwendet werden (Webb, Loh, Lampit, Bateman & Birney, 2018). Zudem werden die Begrifflichkeiten von den Autor_innen selbst oft nicht definiert und uneinheitlich genutzt. So stimmen die Begriffe und Empfehlungen in Text, Entscheidungsalgorithmus und Audit-Tool nicht komplett überein. Eine inhaltliche Einordnung der Empfehlungen nach Rehabilitationsbereichen wie in der deutschsprachigen Leitlinie würde die Übersichtlichkeit ebenfalls verbessern (z. B. Einsatz metakognitiver Strategietrainings im persönlichen Behandlungskontext, als Gruppentraining, unter Zuhilfenahme von VR und als Eins-zu-eins-Fernintervention). Obwohl sich das Autor_innengremium der INCOG-2.0-Leitlinien als international bezeichnet, ist die deutliche Mehrzahl der Autor_innen mit kanadischen Forschungsinstitutionen affiliiert. Auch die Finanzierung des Projektes erfolgte durch kanadische Förderstellen. Im Vergleich von INCOG-2.0- und AWMF-DGN-Leitlinie wird deutlich, dass verstärkte und internationalere Zusammenarbeit nationaler Forschungsverbünde bzw. Fachgesellschaften umfassendere Blickwinkel und Erfahrungshorizonte zusammenführen und somit fruchtvolle Entwicklungen im Bereich der neuropsychologischen Rehabilitation von SHT vorantreiben könnte.

Relevanz für die Praxis

Die INCOG-Arbeitsgruppe hat zur Anwendung der vorgestellten Verfahren einen Entscheidungsalgorithmus entwickelt, welcher Kliniker_innen das Vorgehen in der Behandlung erleichtern soll. Dieser hat nun gemeinsam mit den evidenzbasierten Empfehlungen ebenfalls eine Aktualisierung erfahren und enthält zudem eine übersichtliche Aufstellung von empfohlenen Behandlungskomponenten (siehe Abbildung 1). Wir haben diesen Algorithmus leicht modifiziert, um eine eindeutigere Zuordnung zu den Leitlinienempfehlungen zu ermöglichen. Zusätzlich bereitgestellt wurde ein Audit-Tool, welches dem Zweck dient, die Einhaltung der Leitlinienempfehlungen in der klinischen Praxis zu bewerten. Als wichtigste und übergeordnete Interventionskomponente wird darin das metakognitive Strategietraining priorisiert. Dazu werden explizit verschiedene Aspekte aufgeführt, die ein solches Training umfassen sollte und die in den Krankenakten der Patient_innen hinsichtlich einer Einhaltung überprüft werden können. Ermöglicht werden damit letztlich eine Evaluation der Empfehlungen sowie eine Anregung hinsichtlich potenzieller Verbesserungen. Mit diesen Schritten werden nicht nur für die klinische Praxis relevante Grundsteine gesetzt, sondern perspektivisch wird auch für eine breitere Anwendung und Qualitätskontrolle der beschriebenen rehabilitativen Maßnahmen gesorgt.

Abbildung 1 Klinischer Entscheidungsalgorithmus zur INCOG-2.0-Leitlinie zur rehabilitativen Behandlung von Beeinträchtigungen exekutiver Funktionen und Self-Awareness nach Schädel-Hirn-Trauma (SHT; adaptiert nach Jeffay et al., 2023).

Literatur