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Open AccessÜbersichtsarbeit

Diagnostik und Therapie von Suizidalität im Jugendalter: Das Wichtigste in Kürze aus den aktuellen Leitlinien

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000516

Abstract

Zusammenfassung. Aufgrund der klinischen Relevanz von suizidalen Krisen, Suizidversuchen und Suiziden im Jugendalter wurde eine konsensusbasierte Leitlinie als Handlungsempfehlung erstellt. Jede Andeutung in Richtung Suizidalität muss ernst genommen werden. Suizidalität ist ein zentraler Bestandteil des psychopathologischen Befunds und Patienten sollten gezielt auf kurz- und langfristige Suizidgefährdung exploriert werden. Eine klinische Einschätzung des akuten Suizidrisikos ergibt sich aus einem vertrauensvollen anamnestischen Gespräch, der Erhebung von Risikofaktoren und dem Erfassen von psychischen Störungen sowie von Suchtmittelkonsum. Bei akuter Selbstgefährdung besteht eine Indikation zur stationären Behandlung, die zum Schutz des Patienten notfalls auch gegen dessen Willen umgesetzt werden muss. Eine adäquate Dokumentation ist unumgänglich. Nach einem Suizidversuch ist neben der fachärztlichen medizinischen Erstversorgung darauf zu achten, dass der Patient sich nicht schaden kann und rasch ein Konsil in der akutversorgenden Klinik erfolgt. Erstes therapeutisches Ziel ist die Reduktion der Suizidalität und ggf. das Wiedererreichen der Absprachefähigkeit. Für wiederkehrende Suizidgedanken ist ein Notfallplan zu erstellen. Zur Entlastung kann zusätzlich zu Gesprächsangeboten vorübergehend eine sedierende Medikation notwendig werden. Im Falle eines Suizids in einer Klinik sollte ein Handlungsleitfaden vorliegen, der die Zuständigkeiten und Abläufe genau regelt und festhält. Wirksame präventive Maßnahmen sind Schulungen von Multiplikatoren, Aufklärungskampagnen, Einschränkung der Verfügbarkeit von Suizidmethoden und die Einhaltung der Richtlinien zur Suizidberichterstattung.

Assessment and therapy of suicidality in adolescence: the most important recommendations of the current guideline

Abstract. Due to the clinical relevance of suicidal risks, suicide attempts, and suicides in adolescence consensus-based guidelines with clinical recommendations were updated and summarized in this article. It should be considered that each indication has to be taken serious. Suicidality is an essential component of the psychopathological report and should be explored for the short- and long term risk. The clinical assessment of the acute suicidality results from a trustful anamnestic conversation, assessment of risk factors, mental disorders, and the use of alcohol and drugs. Acute suicidality is an indication for an inpatient treatment that for the protection of the patient has to be implemented also against his will. An adequate documentation is inevitable. After a suicide attempt, in addition to the initial medical treatment it has to be paid attention that the patient cannot harm himself any further and a rapid consultation in the responsible clinic takes place. First therapeutic goal is the reduction of suicidality and if necessary the re-achievement of the ability to negotiate a non-suicide agreement. For recurrent suicide thoughts an emergency plan has to be created. In addition to offer conversations, for a further relief a temporary sedated psychopharmacology can be necessary. In case of a suicide in a clinic, recommendations should be present that regulates responsibilities and procedures. Effective prevention methods are multiplier training, public education, restricted access to methods, and complying with media guidelines.

Einleitung

Aufgrund der klinischen Relevanz von Suizidalität im Jugendalter wurde die dritte Auflage der Leitlinie Suizidalität im Kindes- und Jugendalter (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie [DGKJP] et al., 2007), deren Gültigkeit abgelaufen war, als konsensusbasierte S2-Leitlinie (S2k) aktualisiert und im Juli 2016 unter der AWMF-Registernummer 028/031 veröffentlicht (DGKJP et al., 2016). Die Leitliniengruppe, unter Koordination der DGKJP, setzte sich dabei nach den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaften der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) aus benannten Mitgliedern verschiedener beteiligter Fachgesellschaften zusammen. Da es keine im engeren Sinne Betroffenengruppen gibt, waren des Weiteren die Selbsthilfeorganisation AGUS – Angehörige um Suizid e. V. sowie Freunde fürs Leben e. V. beteiligt. Herausfordernd war v. a. die Bewertung der vorliegenden Literatur, da keine einheitliche Definition von Suizidalität verwendet wird (sondern z. T. selbstschädigendes Verhalten ohne suizidale Intention ebenfalls in manchen der vorliegenden Studien analysiert wurde), die Studien sich häufig auf Erwachsene bzw. auf ein breiteres Altersspektrum bezogen (deren Ergebnisse nicht zwangsläufig auf Minderjährige übertragbar sind) und auch bekannt ist, dass sich Suizidmethoden in den verschiedenen Ländern unterscheiden, was die Übertragbarkeit auf Deutschland z. T. erschwert. Diese Punkte wurden kritisch, konstruktiv und lösungsorientiert diskutiert und eine konsensusbasierte Leitlinie (S2k) mit Handlungsempfehlungen erstellt, die im Folgenden in deutlich gekürzter Version dargestellt werden soll. Der Volltext der Leitlinie ist bei der AWMF online abrufbar (http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028–031.html).

Die beiden Leitlinien zur Suizidalität im Kindes- und Jugendalter sowie zu Nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) wurden von der identischen Leitliniengruppe bearbeitet (DGKJP et al., 2015, Plener et al., 2016a, b), um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und Widersprüche in den Handlungsempfehlungen zu vermeiden.

Klassifikation und Definitionen

Im multiaxialen Klassifikationsschema nach ICD-10 (Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2012) können Suizidversuche nur als vorsätzliche Selbstbeschädigung auf der vierten Achse im Abschnitt X60–X84 klassifiziert werden. Im amerikanischen Klassifikationssystem DSM-5 (American Psychiatric Association [APA], 2013) wurde erstmalig die Suizidale Verhaltensstörung („Suicidal Behavior Disorder“) als Diagnose in der Sektion Klinische Erscheinungsbilder mit weiterem Forschungsbedarf (Sektion III) aufgenommen (Falkai & Wittchen, 2015; S. 1096; s. Tab. 1).

Tabelle 1 DSM-5-Kriterien der „Suizidalen Verhaltensstörung“ (Falkai & Wittchen, 2015; S. 1096 ff.)

Der Begriff Suizidalität umfasst den gesamten Bereich von Suizidgedanken und Suizidankündigungen über Suizidpläne bis hin zu Suizidversuchen und Suiziden.

Unter Suizid versteht man die von einer Person willentlich und im Bewusstsein der Irreversibilität des Todes selbst herbeigeführte Beendigung des eigenen Lebens.

Als Suizidversuch wird jede selbstinitiierte Verhaltenssequenz eines Individuums beschrieben, welches zum Zeitpunkt des Handlungsbeginns erwartet, dass die getroffenen Maßnahmen zum Tode führen werden. Als Beginn des Verhaltens wird jener Zeitpunkt gewählt, zu dem eine Handlung initiiert wurde, welche die Anwendung der Suizidmethode beinhaltet (APA, 2013). Alle Handlungen, die mit dem Ziel unternommen werden, das Leben zu beenden, die jedoch nicht tödlich enden, gelten als Suizidversuch.

Ein Suizidplan liegt dann vor, wenn zusätzlich zu Suizidgedanken gedanklich bereits eine konkrete Methode formuliert wird, mittels derer das Individuum plant, aus dem Leben zu treten (Nock et al., 2008). Die Unterscheidung zwischen Suizidgedanken und Suizidplänen ist von klinischer Relevanz, da Jugendliche mit Suizidplänen dreimal häufiger einen Suizidversuch unternehmen (Nock et al., 2013).

Als Suizidgedanken werden jene Überlegungen bezeichnet, die den Inhalt haben, das eigene Leben aktiv zu beenden.

Unter akuter Suizidalität versteht man das Vorliegen einer konkreten Suizidabsicht oder drängender Suizidgedanken mit unmittelbar drohender Suizidhandlung und zur Verfügung stehender Mittel.

In der Einschätzung der Suizidalität kann zwischen Basissuizidalität, erhöhter Suizidgefahr und akuter Suizidgefahr differenziert werden (Wolfersdorf, 2008), wobei die Übergänge fließend sind.

Suizidmethoden

Unter den Kodes X60–X84 werden in der ICD-10 Suizid(versuchs)methoden aufgeführt. Dabei wird zwischen den Hauptgruppen vorsätzliche Selbstvergiftung durch Einnahme oder Exposition gegenüber verschiedenen Substanzen (X60–X69) und vorsätzliche Selbstbeschädigung (X70–X84) unterschieden. Man kann zwischen aktiven (z. B. Erschießen, Erhängen, Sturz aus großer Höhe, Selbstvergiftung) und passiven (z. B. Nichtbefolgung ärztlicher Anweisungen, Verweigerung der Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme) Methoden unterscheiden. Die Wahl der Suizidmethode wird stark beeinflusst von der Verfügbarkeit (z. B. Schusswaffen, gesammelte Medikamente etc.), kulturellen Faktoren und weiteren Gegebenheiten (inkl. Infrastruktur wie z. B. Bahngleise, Sprungmöglichkeiten etc.). Insbesondere im Kindes- und Jugendalter sollte nicht von der Suizidversuchsmethode vorschnell auf die Ernsthaftigkeit bzw. den Schweregrad der Suizidalität geschlossen werden (insbesondere bei Kindern bzw. unterdurchschnittlich begabten Jugendlichen). Selbst einer aus ärztlicher Sicht objektiv nicht lebensbedrohlichen Handlung kann ein starker Suizidwunsch (der in Bezug auf das Wiederholungsrisiko von hoher Relevanz ist) zugrunde liegen (z. B. bei Unkenntnis/Fehleinschätzung des Risikos).

Von suizidalem Verhalten müssen selbstgefährdende Verhaltensweisen ohne Intention zu sterben abgegrenzt werden, wie Automutilation und NSSV, Nahrungsrestriktion bei Anorexia nervosa, chronischer Substanzmissbrauch, Risikoverhalten im Jugendalter (inkl. Mutproben), Selbsttötungen ohne suizidale Absicht (z. B. im Rahmen von akuten Psychosen bei Realitätsverkennung oder unter akuter Drogenintoxikation), Unfälle oder sexuell motivierte Strangulationen („Choking Games“). Auch wenn es sich bei diesen Handlungen per definitionem nicht um Suizidalität handelt, sind sie dennoch aufgrund der Gesundheitsschädigung ernst zu nehmen. Außerdem können manche der o. g. Diagnosen mit zusätzlicher Suizidalität einhergehen (z. B. suizidale Krise im Rahmen einer Essstörung etc.).

Epidemiologie

Im Jugendalter stehen Suizide in den westlichen Ländern an zweiter oder dritter Stelle der Todesursachenstatistik in dieser Altersgruppe (Kokkevi, Rotsika, Arapaki & Richardson, 2012). In Deutschland sind Suizide nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache im Jugendalter. Im Jahr 2014 starben insgesamt 222 Menschen im Alter von 10 bis 20 Jahren durch Suizid (Statistisches Bundesamt, 2015; s. Tab. 2).

Tabelle 2 Anzahl der Suizide von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland 2014

Während Suizide bei männlichen Jugendlichen häufiger vorkommen, werden Suizidversuche häufiger von weiblichen Jugendlichen verübt (Kaess, Parzer, Haffner et al., 2011).

Dass männliche Jugendliche häufiger (vollendeten) Suizid begehen als weibliche Jugendliche wird v. a. auf die Wahl von Suizidmethoden mit höherem Letalitätsindex bei Männern zurückgeführt (Cibis et al., 2012).

Die Suizidversuchsziffer (Suizidversuche/100 000 der Altersgruppe pro Jahr) bei 15- bis 19-Jährigen beträgt nach der repräsentativen WHO-Multicenter-Studie (Zeitraum 2002–2006) 186 bei den männlichen und 312 bei den weiblichen Jugendlichen. Im europäischen Vergleich liegen diese Zahlen im europäischen Mittel (Schmidtke & Monsue-Consortium, 2010). In einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung an Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren aus 11 Europäischen Ländern zeigte sich, dass von 12 395 untersuchten Jugendlichen 4.2 % (n = 516) über ernsthafte Suizidgedanken und Suizidpläne innerhalb der letzten 14 Tage berichteten, also akut von Suizidalität betroffen waren (Cotter et al., 2015).

Aus Deutschland liegen mehrere Studien zur Häufigkeit von Suizidgedanken und Suizidversuchen vor. Angaben zur Lebenszeitprävalenz von Suizidgedanken bei Jugendlichen variieren dabei zwischen 14.4 % (Brunner et al., 2007) und 39.4 % (Donath, Graessel, Baier, Bleich & Hillemacher, 2014), wobei Mädchen häufiger über Suizidgedanken berichteten (Kaess, Parzer, Haffner et al., 2011). Ein Suizidversuch in der Vergangenheit wurde von 6.5 % (Plener, Libal, Keller, Fegert & Muehlenkamp, 2009) bis 9 % (Donath et al., 2014) der Jugendlichen in deutschen Schulstudien berichtet. Suizidversuche im Kindesalter sind selten, danach steigen die Zahlen jedoch deutlich an (s. Tab. 2). In kinder- und jugendpsychiatrischen Populationen berichten 70.4 % der stationär behandelten Patienten über konkrete Suizidgedanken und 25.6 % von einem Suizidversuch in der Vorgeschichte (Kaess, Parzer, Mattern et al., 2011). In der WHO/EURO-Studie wurde eine Wiederholungsrate von Suizidversuchen von 37 % für männliche und 50 % für weibliche 15- bis 19-Jährige ermittelt (Schmidtke et al., 1996). Das höchste Risiko für Wiederholungen besteht in den ersten 12 Monaten nach einem Suizidversuch.

Störungsspezifische Diagnostik und Risikofaktoren

Auch wenn das Vorliegen psychischer Erkrankungen Hauptrisikofaktor für Suizidalität ist, kommt Suizidalität auch bei Jugendlichen ohne psychische Erkrankung vor. Suizidgedanken sollten in folgenden Situationen gezielt exploriert werden:

  • beim Vorliegen psychischer Störungen (als fester Bestandteil des psychopathologischen Befundes) sowohl bei der Primärdiagnostik als auch beim Vorliegen von Risikofaktoren im Verlauf
  • bei unklaren Verletzungsmustern, Unfällen mit nicht durchgehend nachvollziehbarem Unfallhergang und Intoxikationen (unklare Tablettenüberdosierungen, auffällig hohe Alkohol- oder Drogendosis)
  • beim Vorliegen unerklärlicher Complianceprobleme bei schwerwiegenden körperlichen Erkrankungen (z. B. keine Insulininjektionen bei Diabetes mellitus)
  • beim Vorliegen von Risikofaktoren (s. u.)
  • bei Verdacht auf Suizidalität und Suizidversuchen in der Vorgeschichte
  • bei Verhaltensänderungen des Jugendlichen und dem Vorliegen von Warnzeichen (s. Tab. 3)
  • bei Hinweisen aus dem sozialen Umfeld auf Suizidäußerungen oder -andeutungen des Jugendlichen gegenüber Dritten
  • bei Äußerung von Hoffnungslosigkeit, starkem Überforderungserleben, Todeswunsch bzw. schon konkreten Suizidideen
  • bei Suizidversuchen bzw. Suiziden im Umfeld des Jugendlichen (aufgrund der Gefahr der Nachahmung)
Tabelle 3 Warnzeichen für Suizidalität im Jugendalter (ergänzt nach Kostenuik & Ratnapalan, 2010; Kasper et al., 2011)

Kinder und Jugendliche, die an einer psychischen Störung leiden, weisen ein 3- bis 12-fach erhöhtes Suizidrisiko auf (Kasper et al., 2011). Dies trifft insbesondere zu bei affektiven Störungen, Angsterkrankungen, Abhängigkeitserkrankungen, schädlichem Substanzmissbrauch, Essstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Störungen des Sozialverhaltens, Persönlichkeitsstörungen, Belastungsreaktionen, Psychosen sowie sexuellen Identitätsstörungen. Da Alkoholkonsum zur Verminderung der Kritikfähigkeit und Enthemmung führt, muss auf alkoholisierte Jugendliche mit suizidalen Gedanken besonders geachtet werden. Zu den stärksten Risikofaktoren zählen vorangegangene Suizidversuche sowie NSSV (Kirkcaldy, Siefen, Urkin & Merrick, 2006; Hawton, Saunders & O’Connor, 2012, Plener, Brunner et al., 2016; Plener, Fegert et al., 2016). Weitere Risikofaktoren für Suizidalität sind Impulsivität, erniedrigte Frustrationstoleranz, niedriger Selbstwert, geringe Selbstwirksamkeitserwartung, emotionale Instabilität, pessimistische Zukunftshaltung, erhöhte Reizbarkeit, Angst vor Neuem, anhaltende Insuffizienzgefühle, Kritiküberempfindlichkeit, nichtheterosexuelle sexuelle Orientierung sowie pathologischer Internetgebrauch (Fischer et al., 2012; Wichstrøm, 2009). In der Praxis kommen (selten) plötzliche Suizidgedanken bei sonst nicht gefährdeten Kindern und Jugendlichen aufgrund unerwünschter Arzneimittelwirkungen vor (Übersicht bei Robertson & Allison, 2009), weswegen auch nach aktueller Medikation (inkl. Antibiotika) zu fragen ist.

Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status (Schmidtke et al., 1996) und jene mit verminderten schulischen Leistungen (Fortune, Stewart, Yadav & Hawton, 2007) haben ein erhöhtes Suizidrisiko. Weitere Risikofaktoren sind häufige Streitigkeiten, Scheidung oder Trennung der Eltern, Verlust eines Elternteils oder sexueller Missbrauch/Misshandlungen in der Vorgeschichte (Hawton et al., 2012; Brent, Melham, Masten, Porta & Walker Payne, 2012). Auch chronische organische Erkrankungen sowie körperliche Behinderungen können mit einem erhöhten Suizidalitätsrisiko einhergehen (Kasper et al., 2011). Weitere Risikofaktoren sind suizidales Verhalten in der Familie (Kirkcaldy et al., 2006) und im Freundeskreis (Feigelman & Gorman, 2008), welches v. a. bei längerer Persistenz mit erhöhten Risiken für nachfolgende Suizidalität assoziiert ist (Koenig et al., 2016).

In der Praxis ist die Anzahl der Risikofaktoren zusammen mit der situativen Einschätzung der akuten Suizidalität ein wichtiges Instrument zur Erkennung und Prävention von Suizidalität.

Diagnostik

Die klinische Einschätzung des akuten Suizidrisikos ergibt sich aus dem vertrauensvollen anamnestischen Gespräch (DGKJP et al., 2016).

Bei der Intervention nach einem Suizidversuch erfolgt die ausführliche Anamnese der Suizidhandlung sowie ihrer Begleitumstände, gefolgt von der weiteren psychiatrischen Anamnese inkl. Fremdanamnese. Bei der Diagnostik suizidalen Verhaltens wird unterschieden zwischen der langfristigen Gefährdung eines Patienten (aufgrund bestimmter Risikofaktoren, eine suizidale Handlung zu begehen) und der akuten, kurzfristigen Gefährdung eines Patienten (aufgrund einer Krisensituation, akut eine suizidale Handlung zu begehen). Die Abklärung der kurz- und langfristigen Suizidgefährdung erfolgt dabei durch getrennte Exploration des Jugendlichen und seiner Bezugspersonen. Zur Einschätzung der generellen Suizidgefährdung sind die o. g. Risikofaktoren zu erheben, ebenso wie Suizide im Umkreis, ggf. (auch fiktive) Suizidmodelle sowie Nutzung von „Suizidforen“ im Internet bzw. Posten von Suizidankündigungen in sozialen Medien (Schmidtke & Schaller, 2000; Becker, El-Faddagh & Schmidt, 2004; Becker, Mayer, Nagenborg, El-Faddagh & Schmidt, 2004). Wenn Suizide von wichtigen Personen im Umfeld des Jugendlichen vorliegen, sind die Daten zu erfragen (aufgrund des höheren Suizidrisikos bei „Jahrestagen“ wie Todestage o. Ä.).

Zur Gefährdungseinschätzung des Jugendlichen müssen des Weiteren die gegenwärtige soziale Situation (Familiensituation, soziale Unterstützung, Freundeskreis, Mobbingerfahrungen etc.), die psychische Situation des Jugendlichen (Vorliegen von „Warnzeichen“ wie „Brüche“ in der Lebensgestaltung, zunehmende Einengung im Denken, Fühlen und Handeln u. Ä.) und das Vorliegen früherer Suizidversuche (Anzahl, Methode, Anlass sowie Reaktion der Umwelt) erfasst werden.

Nach einer suizidalen Handlung und Erstversorgung in der Kinderklinik oder Kinderchirurgie sollte die Kontaktaufnahme mit einem Kinder- und Jugendpsychiater (Konsil!) möglichst früh erfolgen, um Dissimulationseffekte zu vermeiden und die eventuell durch den Suizidversuch neu vorliegende Therapiemotivation zu nutzen. Die Diagnostik sollte multimethodal (Gespräch, Testverfahren, Beobachtung) und multimodal (emotionale, kognitive, offene Verhaltensebene) erfolgen (Zusammenfassung bei Schaller & Schmidtke, 2007), wobei verschiedene Informationen erhoben werden sollten:

  • Ablauf und Art der suizidalen Handlung (z. B. Wann trat der Gedanke erstmals auf? Wie schnell wurde er umgesetzt? War die Handlung vorher geplant oder erfolgte sie spontan?)
  • Umstände, die der suizidalen Handlung unmittelbar vorausgingen und vom Patienten als Gründe angegeben werden (z. B. Trennung von Freund/Freundin, Versagenserlebnisse)
  • die Intentionalität der Suizidhandlung (z. B. Ernsthaftigkeit des Suizidversuchs, evtl. nachträgliche Distanzierung von der Suizidhandlung)
  • alle auf die suizidale Handlung folgenden Bedingungen (z. B. Wie reagierten die Bezugspersonen? Welche Konsequenzen hat der Jugendliche erwartet?)

Standardisierte Diagnostikverfahren bzw. spezifische deutschsprachige Tests (mit ausreichender Spezifität und Sensitivität) zur Einschätzung suizidalen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen liegen nicht vor. Standardisiert erfasst werden können Risikofaktoren, Impulsivität und mangelnde emotionale Regulationsfähigkeit (Brent & Mann, 2006). Der Einsatz von Checklisten hilft dabei, wesentliche Variablen nicht zu übersehen. Die Beurteilung der Suizidalität erfolgt aber immer klinisch nach persönlichem Gespräch und kann nicht nur anhand eines Fragebogenergebnisses beurteilt werden. Zu Erhebung suizidaler Gedanken, Pläne und Handlungen wurde das Self-Injurious Thoughts and Behavior Interview (SITBI) entwickelt (Nock, Holmberg, Photos & Michel, 2007), das in der deutschen Übersetzung1 an einer klinischen Stichprobe validiert wurde (Fischer et al., 2014). Bei Hinweisen auf assoziierte psychische Störungen soll eine weitere standardisierte Diagnostik erfolgen. Es sollte auch gezielt nach aktuellem Alkohol- und Drogenkonsum sowie Medikamenteneinnahme gefragt werden. Bei Anhaltspunkten für eine aktuelle Intoxikation sollte der Atemalkoholgehalt gemessen und ggf. ein Drogenschnelltest durchgeführt werden. Tabelle 4 stellt den Konsensus der Leitliniengruppe zur Diagnostik bei Suizidalität dar.

Tabelle 4 Konsensus zu Diagnostik bei Suizidalität

Hierarchie des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens

Diagnostisch muss zuerst die Aktualität der Suizidalität eingeschätzt werden vor der Erfassung etwaiger auslösender Ereignisse („Warum hier und jetzt?“), psychischer Störungen, dem Vorliegen von Risikofaktoren und der Erfassung von belastenden sowie unterstützenden Umweltfaktoren.

Das erste Ziel ist es, dafür Sorge zu tragen, dass die Sicherheit des Patienten gewährleistet wird und – im Falle akuter Suizidalität – der Jugendliche in einem geschützten Rahmen ist, damit eine Selbstschädigung verhindert werden kann (d. h. begleitete, sichernde Verlegung in die zuständige Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie; der Jugendliche muss dabei unter ständiger Beobachtung sein, solange keine glaubhafte Absprachefähigkeit in Hinblick auf die Suizidalität besteht). Das erste therapeutische Ziel ist die Reduktion der akuten Suizidalität und das (Wieder-)Erreichen der Absprachefähigkeit. Vor der Entlassung aus der Klinik sollte ein spezifischer Notfallplan erarbeitet werden, damit der Jugendliche weiß, was er im Falle erneut auftretender Suizidgedanken tun kann (z. B. Teismann & Dorrmann, 2014).

Interventionen

Grundsätzlich muss zwischen Prävention, Krisenintervention, Therapie und Postvention unterschieden werden, da diese unterschiedliche Settings erfordern.

Bei akuter Suizidalität mit konkreter Planung und mangelnder Absprachefähigkeit muss eine stationäre Aufnahme erfolgen. Eine ambulante Diagnostik und Therapie ist möglich bei Suizidgedanken ohne konkrete Planung und guter Absprachefähigkeit. Da Krisensituationen auftreten können, ist es wichtig, dass der Jugendliche (bzw. dessen Eltern) weiß, an wen er sich wenden muss, wenn der ambulante Behandler nicht erreichbar ist (z. B. außerhalb der Praxiszeiten). In Abbildung 1 ist der Algorithmus zu Behandlungsentscheidungen bei Suizidalität dargestellt.

Abbildung 1 Stellt den Algorithmus zu Behandlungsentscheidungen bei Suizidalität dar.

Rechtliche Grundlagen

Bei akuter Suizidalität und damit akuter Selbstgefährdung eines Jugendlichen besteht eine Indikation zur stationären Behandlung, die zum Schutz des Patienten notfalls auch gegen dessen Willen umgesetzt werden muss. Grundsätzlich sind bei Nichtfreiwilligkeit mehrere rechtliche Unterbringungswege möglich: nach den jeweiligen Psychisch-Kranken-Gesetzen (PsychKG) der Bundesländer oder (im Kindes- und Jugendalter zu bevorzugen) nach § 1631b BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) oder, bei nicht kooperativen oder nicht erreichbaren Eltern, nach § 42 KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) durch eine Inobhutnahme in der Klinik. Bei der Inobhutnahme ist das Jugendamt zuständig für die Einbindung des Familiengerichts und die Einholung des Einverständnisses der Sorgeberechtigten.

Behandlung nach einem Suizidversuch oder Übernahme von Kinderkliniken, Kliniken für (Kinder-)Chirurgie oder anderen somatischen Kliniken

Somatische Kliniken bzw. Praxen müssen neben der fachärztlichen medizinischen Erstversorgung aktiv Sorge dafür tragen, dass der Patient sich nicht (weiteren) Schaden zufügen kann (d. h. er darf z. B. nicht alleine in einem Raum mit leicht zu öffnenden Fenstern oder chirurgischen Werkzeugen warten). Nur wenn eine akute Suizidalität sicher ausgeschlossen werden kann und der Patient absprachefähig ist, kann von dieser Regel abgewichen werden. Die pädiatrische, (kinder)chirurgische oder internistische Versorgung soll nach den jeweiligen fachärztlichen Standards erfolgen.

Im Kontakt mit dem Patienten ist eine neutrale, nichtwertende und unaufgeregte Grundhaltung einzunehmen. Sobald die Erstversorgung erfolgt ist, soll der für die Klinik zuständige fachkundige Konsiliardienst informiert werden. Es wird geklärt, ob die Exploration des Patienten in der erstversorgenden Klinik erfolgen muss (z. B. bei weiterer Behandlungsnotwendigkeit dort) oder, je nach regionaler Organisation, eine ambulante Vorstellung des Jugendlichen mit seinen Sorgeberechtigten beim zuständigen Konsiliardienst bzw. der zuständigen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie möglich ist. Anstelle des Konsils kann in manchen Fällen die direkte, begleitete Verlegung (nach Absprache) in die zuständige Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll sein, wo dann entweder die Entlassung (nach Ausschluss akuter Suizidalität) oder aber die Aufnahme in einer geschützten Station erfolgt.

Vor der Verlegung ist es wichtig, dass die somatischen Untersuchungen und notwendigen Interventionen, die je nach Suizidmethode variieren, abgeschlossen sind (wie z. B. Detoxikation bei Intoxikation). Im begleitenden Arztbrief oder im Übergabegespräch muss explizit auf mögliche organische Komplikationen und wichtige Kontrolluntersuchungen im Verlauf hingewiesen werden (z. B. Leberwerte-Laborkontrollen nach Paracetamolintoxikation).

Pharmakotherapie

Bei akuter Suizidalität kann, in Ergänzung zu kontinuierlicher Überwachung und Betreuung (z. B. im Überwachungszimmer in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie; 1:1-Betreuung) und entlastenden Gesprächsangeboten, vor- übergehend zur Entlastung eine sedierende Medikation notwendig werden. Hier kommen entweder Medikamente aus der Gruppe der Benzodiazepine (z. B. Lorazepam) oder niederpotente Neuroleptika (z. B. Pipamperon, Levomepromazin, Chlorprothixen, Melperon) infrage. Vor einer Medikation ist unbedingt zu überprüfen, ob eine Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenintoxikation vorliegt, da in diesen Fällen die Gabe von Benzodiazepinen kontraindiziert ist (u. a. Gefahr der Atemdepression). Unter Medikation müssen in regelmäßigen Abständen die Vitalparameter (Puls/RR) erhoben, überwacht und dokumentiert werden (Gerlach, Mehler-Wex, Walitza, Warnke & Wewetzer, 2016). Liegt der Suizidalität eine psychische Störung zugrunde, so muss diese entsprechend den Leitlinien und Standards der jeweiligen Störung behandelt werden (z. B. Leitlinie Depressive Störungen bei Kindern und Jugendlichen, DGKJP et al., 2013). Eine wichtige Maßnahme zur längerfristigen Suizidprävention bei psychischen Grunderkrankungen ist die Durchführung einer Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe. Sowohl unter Antikonvulsiva als auch unter Antidepressiva muss sorgfältig auf ein mögliches Suizidrisiko geachtet werden. Grundsätzlich sollte bei jeglicher Pharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit den Sorgeberechtigten bzw. Betreuern von Jugendhilfeeinrichtungen sowohl eine sichere Aufbewahrung der Medikation gewährleistet sein als auch die Überwachung der regelmäßigen Einnahme.

Psychotherapeutische Interventionen

Die Wirksamkeit spezifischer psychotherapeutischer Verfahren auf die Reduktion suizidalen Verhaltens bei Jugendlichen ist noch unzureichend untersucht. Meist liegen Studien zu depressiven Störungen vor, die auch den Einfluss auf die Suizidalität bei Jugendlichen untersucht haben. Psychotherapeutische Interventionen müssen grundsätzlich in einen ressourcenorientierten Gesamtbehandlungsplan eingebettet sein, in dem bei akuter Gefährdung die Sicherstellung eines schutzbietenden Raums und qualifizierter Betreuung, zumeist in Form einer stationären Behandlung, vorrangig ist. Auch die Behandlerkontinuität sollte gewährleistet sein. Neben der Überwachung des Patienten sollte, wenn nötig, die (Mit-)Behandlung von akuten, assoziierten psychischen Symptomen erfolgen. Psychotherapeutische Zugänge sollten altersspezifische Ausdrucksformen suizidalen Verhaltens und Risikokonstellationen berücksichtigen. Bei der Behandlung von Jugendlichen mit repetitiven suizidalen Gedanken/Impulsen im ambulanten Setting sind psychotherapeutische Interventionen vorrangig auf die Suizidalität im Sinne eines hierarchischen Vorgehens in der Gestaltung der Therapiestunden ausgerichtet, z. B. Konzept der Dialektisch-Behavioralen Therapie für Adoleszente (DBT-A; Fleischhaker, Munz, Böhme, Sixt & Schulz, 2006; Fleischhaker et al., 2011) oder der Interpersonellen Psychotherapie (IPT; Tang, Jou, Ko, Huang & Yen, 2009).

Verschiedene Therapiestudien zur DBT-A zeigten eine Abnahme von Suizidgedanken, eine Reduktion selbstverletzender Verhaltensweisen und/oder eine Reduktion von Suizidversuchen (Rathus & Miller, 2002; Katz, Cox, Gunasekara & Miller, 2004; Fleischhaker et al., 2011; Mehlum et al., 2014). Der mentalisierungsbasierte Ansatz zeigte sich in einer Therapiestudie einer TAU (treatment as usual)-Bedingung überlegen in der Reduktion von suizidalen und nichtsuizidalen Selbstverletzungen bei gleichzeitiger Abnahme depressiver Symptome sowie von Risikoverhaltensweisen (Rossouw & Fonagy, 2012). In der „Treatment of Adolescent Suicide Attempters“ (TASA)-Studie zeigte sich eine Reduktion von Suizidgedanken bei einer verhaltenstherapeutischen Intervention, einer antidepressiven Medikation alleine vs. einer Kombination von beiden, aber keine Gruppenunterschiede (Brent et al., 2009; Vitiello et al., 2009; Stanley et al., 2009). Mittels Home Treatment (als Add-on zu herkömmlichen Interventionen) konnte bei nichtdepressiven Jugendlichen mit einer Suizidversuchsvorgeschichte eine Reduktion von Suizidgedanken und -versuchen erreicht werden (Harrington, Whittaker & Shoebridge, 1998).

Ambulante und stationäre Behandlung der Suizidalität

Bei akuter Suizidalität muss eine stationäre Behandlung in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt werden. Für eine ambulante Behandlung sollten Absprachefähigkeit, ein stabiles Umfeld, gute Compliance und ein ausreichendes Funktionsniveau vorhanden sein sowie ein geringer Schweregrad der Suizidalität und eine erkennbare Zukunftsperspektive des Jugendlichen.

Der adäquaten Befunddokumentation und der fremdanamnestischen Einschätzung kommt eine entscheidende Bedeutung zu, um ggf. einen Nachweis über die Grundlagen der Entscheidung zur ambulanten Behandlung zu haben.

Ein Notfallplan für Patienten und deren Eltern soll Informationen über Ansprechpartner und Zugangswege für den Krisenfall festhalten. Hilfreich ist die Aushändigung einer Liste mit Angaben zu Telefonnummern und Adresse der zuständigen kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik, der Polizei, der sozialpsychiatrischen Dienste und des ärztlichen Notdienstes (je nach regionaler Versorgungsstruktur). Je nach vorliegenden Risikofaktoren können zusätzliche Unterstützungs- und Beratungsangebote notwendig sein, wobei für die Beratung über verschiedene Unterstützungs- und Hilfsangebote in Familien und Implementierung von Maßnahmen zu Hilfen zur Erziehung das Jugendamt zuständig (§ 1 Abs. 3 SGB [Sozialgesetzbuch] VIII) ist.

Die stationäre Behandlung ist bei nicht einschätzbaren, v. a. mittelgradigen bis schweren Formen der Suizidalität indiziert. Diese muss in der Regel auf der geschützten Akutstation einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgen mit den dafür notwendigen baulichen und personellen Voraussetzungen. Die stationäre Behandlung erfolgt stets in dem Spannungsfeld zwischen therapeutischer Atmosphäre und Sicherungsnotwendigkeit. Die Anordnung und Dokumentation der Maßnahmen muss von Anfang an eindeutig auf die Sicherheit des Patienten in einer psychiatrischen Notfallsituation ausgerichtet sein (Rund-um-die-Uhr-Betreuung bzw. Überwachungszimmer, ausreichende personelle Besetzung, bauliche Sicherung, Entfernen gefährlicher Gegenstände, ggf. auch Sedierung oder Fixierung). Diese Maßnahmen stehen in einem Spannungsfeld zu den berechtigten Autonomiewünschen des Patienten. Allerdings sind die juristischen Anforderungen an die Aufsichtspflicht hoch, sodass es gerade bei Zweifeln angebracht ist, den sichersten Weg zu gehen. In Tabelle 5 sind die Interventionen bei Suizidalität zusammengefasst.

Tabelle 5 Konsentierte Zusammenfassung zu Interventionen bei Suizidalität

Postvention und Prävention

Unter Postvention versteht man die Summe aller nach einem Suizidversuch oder Suizid für die von der suizidalen Handlung Betroffenen in die Wege geleiteten Maßnahmen, die das Umfeld des Betroffenen mit einbeziehen (Plener, 2015). Die Intention dabei ist, den Trauerprozess zu unterstützen und die Inzidenz von suizidaler Ansteckung zu verringern (Szumilas & Kutcher, 2011). Die Verhinderung von Folge- und Imitationssuiziden ist ein wichtiges Ziel. Kenntnisse in Postvention sind für alle Berufsgruppen, die im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeiten, von großer Bedeutung (aktuelle Übersicht: Becker et al., 2017). Kliniken wird in der aktualisierten Leitlinie (DGKJP et al., 2016) empfohlen, klare Handlungsanweisungen und Standards zum konkreten Umgang mit dem Thema Patientensuizid zu verschriftlichen.

Bei der Prävention lassen sich universelle und selektive Präventionsansätze unterscheiden. Als Ort von Präventionsmaßnahmen kommt im Kindes- und Jugendalter der Schule eine besondere Bedeutung zu, da dort Risikoevaluationen oder Präventionsprogramme kostengünstig und effektiv durchgeführt werden können. Im EU-Projekt „Saving and Empowering Young Lives in Europe“ (SEYLE) (Wasserman et al., 2010; Fischer, Göbelbeker & Schneider für das Heidelberger Seyle-Team, 2011), das in 10 europäischen Ländern unter Einbezug von über 11 000 Schülern stattfand, wurden verschiedene schulbasierte Präventionsprogramme zur Senkung von suizidalem Verhalten getestet. Hierzu wurden ein Gatekeeper-Training, ein Awareness-Programm (Youth Awareness of Mental Health [YAM]) und ein professionelles Screening gegen eine Kontrollgruppe (Minimalintervention) untersucht. Während nach 3 Monaten kein Gruppenunterschied bestand, zeigte sich im 12-Monats-Follow-up in der YAM-Gruppe eine signifikante Reduktion der Suizidversuche und Suizidgedanken im Vergleich zur Kontrollgruppe (Wasserman et al., 2015). Wirksamkeitsnachweise verschiedener internetbasierter Interventionen stehen noch aus. Wichtig im Kontext der Suizidprävention sind des Weiteren Entstigmatisierungskampagnen, Schulungen von Multiplikatoren, die Einschränkung der Verfügbarkeit von Suizidmethoden, Vereinbarung von Nachfolgeterminen nach einem Suizidversuch in der ersten Woche nach der Entlassung sowie die Kenntnis und Einhaltung der Richtlinien zur Suizidberichterstattung (http://www.suizidprävention-deutschland.de/presse.html) in den Medien (Mann et al., 2005).

Um Ihr CME-Zertifikat zu erhalten (min. 3 richtige Antworten), schicken Sie bitte den ausgefullten Fragebogen mit einem frankierten Ruckumschlag bis zum 29.12.2017 an die nebenstehende Adresse. Spater eintreffende Antworten und solche ohne bzw. mit nicht frankierten Rückumschlägen konnen nicht mehr berücksichtigt werden.

Daniela Pingel

LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Heithofer Allee 64

59071 Hamm, Deutschland

Interessenkonflikt: Nein

Abbildung 2

Abbildung 2 Fortbildungszertifikat.

Literatur

1 Hinweis: Die deutsche Version des SITBI kann hier kostenlos runtergeladen werden: http://nocklab.fas.harvard.edu/files/nocklab/files/sitbi_shortform_german.pdf?m=1435341299

Anhang

CME-Fragen

  1. 1
    Welche der folgenden Aussagen ist richtig? Suizidversuch wird in den aktualisierten Leitlinien definiert als ...
    • a)
      eine fast zum Tode geführt habende selbstinitiierte Handlung mit Suizidabsicht, nach Ausschluss einer Psychose oder Intoxikation.
    • b)
      jede selbstinitiierte Verhaltenssequenz eines Individuums, welches zum Zeitpunkt des Handlungsbeginns erwartet, dass die getroffenen Maßnahmen zum Tode führen werden.
    • c)
      eine nach einem Suizidplan durchgeführte Handlung, die auch nach objektiver Einschätzung hätte tödlich enden können.
    • d)
      jede Art bewussten, massiven selbstschädigenden Handelns gegen die eigene Person, unabhängig von der Intention.
    • e)
      jene Überlegungen und Gedanken mit konkreter Planung, die den Inhalt haben, das eigene Leben zu beenden.
  2. 2
    Wie können aktuell in dem multiaxialen Klassifikationsschema nach ICD-10 Suizidversuche klassifiziert werden?
    • a)
      als Hauptdiagnose auf der ersten Achse unter F32.9 (Depressive Episode, nicht näher bezeichnet).
    • b)
      auf der zweiten Achse als umschriebenes, spezifisches Problem der Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen.
    • c)
      auf der dritten Achse unter F74 dissoziierte Intelligenz.
    • d)
      auf der vierten Achse als vorsätzliche Selbstbeschädigung im Abschnitt X60-X84.
    • e)
      auf der fünften Achse als akut belastendes Lebensereignis für die Eltern des/der Betroffenen.
  3. 3
    Welche der folgenden Aussagen zu Suizidalität im Jugendalter ist falsch?
    • a)
      Todesfälle durch Automutilation, durch Nahrungsrestriktion bei Anorexia nervosa oder durch sexuell motivierte Strangulationen werden definitionsgemäß nicht als Suizide gewertet.
    • b)
      Suizide kommen häufiger bei männlichen Jugendlichen vor, Suizidversuche häufiger bei weiblichen.
    • c)
      Suizide sind in Deutschland die zweithäufigste Todesursache im Jugendalter.
    • d)
      In den ersten 12 Monaten nach der suizidalen Handlung besteht das höchste Wiederholungsrisiko.
    • e)
      Das Vorliegen nicht-suizidaler selbstverletzenden Verhaltensweisen (NSSV) erhöht definitionsgemäß nicht das Risiko suizidaler Handlungen im Entwicklungsverlauf.
  4. 4
    Welche der folgenden Aussagen zur Diagnostik von Suizidalität ist richtig?
    • a)
      Die klinische Einschätzung des akuten Suizidrisikos ergibt sich aus einem vertrauensvollen anamnestischen Gespräch und ist fester Bestandteil des psychopathologischen Befundes.
    • b)
      Es ist hilfreich, den Jugendlichen und seine Eltern in einem gemeinsamen Gespräch zur Suizidalität zu be- fragen.
    • c)
      Es gibt inzwischen standardisierte Diagnostikverfahren bzw. spezifische deutschsprachige Tests, die aufgrund ausreichender Spezifität und Sensitivität die sichere Einschätzung von Suizidalität bei Jugendlichen ermöglichen.
    • d)
      Bei der Diagnostik von Suizidalität ist der Schwerpunkt auf Suizidgedanken und -planungen, soziale Risikofaktoren und psychische Symptome (inklusive Erfassung von Hoffnungslosigkeit) zu legen, und auf Fragen zu Alkohol- und Drogenkonsum oder Medikamenteneinnahmen kann verzichtet werden.
    • e)
      Bei einem schweren Suizidversuch mit somatischer Behandlungsbedürftigkeit in einer Kinderklinik oder Kinderchirurgie sollte am Ende dieser Behandlung vor Entlassung ein kinder- und jugendpsychiatrisches Konsil erfolgen zur Diagnostik von Suizidalität und Beratung.
  5. 5
    Welche der folgenden Aussagen zur Intervention und Therapie bei akuter Suizidalität im Jugendalter ist richtig?
    • a)
      Bei akuter Suizidalität sollten, neben kontinuierlicher Überwachung, sedierende Medikamente (Benzodiazepine) zum Einsatz kommen.
    • b)
      Es gibt eine hinreichend gute Datenlage (inklusive Metaanalysen) zur Wirksamkeit spezifischer psychotherapeutischer Verfahren zur Reduktion suizidalen Verhaltens Jugendlicher in Deutschland.
    • c)
      Da mittels Home Treatment nichtdepressive Jugendlichen mit Suizidversuchsanamnese gut behandelbar sind, können bei akuter Suizidalität mit konkreter Planung Jugendliche auch mittels Home Treatment behandelt werden als Alternative zur vollstationären Behandlung.
    • d)
      Wenn eine psychische Störung der Suizidalität zugrunde liegt, sollte diese (auch) entsprechend der Leitlinien und Standards der jeweiligen Störung behandelt werden.
    • e)
      Die berechtigten Autonomiewünsche des Patienten und Wunsch nach Privatheit (z. B beim Toilettengang) müssen unbedingt respektiert werden, auch wenn dies vorübergehend zu Lasten der Sicherheit geht.
Prof. Dr. Katja Becker, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg und Universitätsklinikum Marburg (UKGM), Hans-Sachs-Str. 6, 35039 Marburg, Deutschland, E-Mail