Skip to main content
Open AccessMini-Review

Der Stellenwert der tiefen Hirnstimulation bei der schwer behandelbaren sowie therapierefraktären Depression

Published Online:https://doi.org/10.1024/1661-8157/a004047

Abstract

Zusammenfassung: Die tiefe Hirnstimulation («THS») ist ein minimalinvasives, neurochirurgisches und hypothesengeleitetes Therapieverfahren zur dauerhaften, lokalen Regulation pathologischer Regelkreise. Während die Depression ein heterogenes Syndrom mit multifaktorieller Ätiopathogenese darstellt, fördert die neurowissenschaftliche Forschung die Evidenz zur Identifikation von Mechanismen auf Netzwerkebene, die in der Pathophysiologie der Depression eine tragende Rolle spielen. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über den Stellenwert der THS bei der therapieresistenten oder schwer behandelbaren Depression. Dabei möchten wir praxisnah den Bekanntheitsgrad der THS fördern und die Herausforderungen bei Therapie und Implementierung diskutieren.

The Value of Deep Brain Stimulation in Difficult-To-Treat and Treatment-Refractory Depression

Abstract: Deep Brain Stimulation (“DBS”) is a minimally invasive, neurosurgical and hypothesis-driven therapeutic procedure for permanent local regulation of pathological circuits. While depression represents a heterogeneous syndrome with multifactorial etiopathogenesis, neuroscience research is advancing evidence to identify network-level mechanisms that play an important role in the pathophysiology of depression. In the following article, we will review the role of DBS in treatment-resistant or difficult-to-treat depression. The aim is to increase the awareness of DBS and to discuss the challenges of its therapy and implementation.

La place de la stimulation cérébrale profonde dans la dépression difficile à traiter et réfractaire aux thérapies

Résumé: La stimulation cérébrale profonde («SCP») est une méthode de thérapie neurochirurgicale, peu invasive, qui a pour but de réguler de manière permanente et locale les circuits présentés comme pathologiques. Bien que la dépression soit un syndrome hétérogène comportant une étiopathogénie multifactorielle, la recherche neuroscientifique propose de nouvelles avancées concernant l’identification des mécanismes des circuits impliqués qui jouent un rôle majeur dans la physiopathologie de la dépression. L’article suivant donne un aperçu de l’importance de la SCP dans la dépression résistante au traitement, ou de la dépression dites «difficile à traiter». L’objectif de cet article est de sensibiliser le lecteur à la SCP et d’ouvrir le dialogue concernant les différents obstacles de cette thérapie et de sa mise en œuvre.

Im Artikel verwendete Abkürzungen

BNST Bettkern der Stria terminalis

DSM V Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th edition («Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen» fünfte Auflage)

EKT Elektrokonvulsionstherapie

ICD10/11 International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10th & 11th ed. (internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. & 11. Version)

ITP Unterer Thalamusstiel

NAc Nucleus accumbens

SCC Subcallosales Cingulum

slMFB Superolaterales mediales Vorderhirnbündel

THS Tiefe Hirnstimulation

TRD Therapierefraktäre Depression

VC/VS Ventrale Kapsel/ventrales Striatum

Einleitung

Die Depression zählt mit etwa 322 Millionen Betroffenen [1] zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt. Sie rangiert gemäss einer Prognose der Weltgesundheitsorganisation bis 2030 auf dem ersten Platz der globalen Krankheitslast [1]. 10–30% aller Patientinnen und Patienten mit Depression weisen trotz pharmakotherapeutischer und teils alternativer Behandlungsmethoden, wie etwa der Elektrokonvulsionstherapie (EKT), einen schwer behandelbaren oder therapierefraktären Verlauf auf [2, 3]. Dies und die Komplexität dieser heterogenen Erkrankung unterstreichen die Notwendigkeit neuer Behandlungsmethoden.

Das neuromodulatorische Verfahren der sogenannten tiefen Hirnstimulation (THS) ist in Deutschland und der Schweiz fester Bestandteil der Behandlung des idiopathischen Parkinson-Syndroms, trotz invasiven Charakters und den damit verbundenen, wenn auch seltenen Risiken. Dieses hypothesengeleitete, gezielt lokal applizierbare, potenziell reversible Verfahren weist in kleinen Fallberichten und neueren Übersichtsarbeiten und Metaanalysen bei schweren therapierefraktären Verläufen der Depression ein Ansprechen in etwa 50% der Patientinnen und Patienten aus [4]. Trotz Evidenz einer anhaltenden Wirkung bei der Subgruppe der schweren, therapierefraktären Depression (TRD) wird die THS in der klinischen Praxis bei der Depression selbst bei hoch therapierefraktären Verläufen äusserst selten evaluiert und angewendet. Vorurteilsfreie Kenntnisse über die THS, ihre Wirkung und ihre Risiken sind notwendig für die objektive Evaluation eines möglichen Einsatzes dieser hochspezialisierten Therapiemethode.

Therapierefraktäre oder schwer behandelbare Depression

Die Depression ist ein heterogenes Syndrom mit multifaktorieller Ätiopathogenese. Auch wenn keine einheitliche Definition für eine TRD vorliegt, wird zumeist von einem therapierefraktären Verlauf gesprochen, wenn mindestens zwei verschiedene Antidepressiva in einer adäquaten Dosierung und Behandlungsdauer in der gegenwärtigen depressiven Episode ohne Remission oder ohne ausreichendes Ansprechen angewendet wurden [5]. Je nach Klassifikation (DSM-5, ICD-10, ICD-11) werden unterschiedliche Subtypen oder «specifier» differenziert, die die TRD jedoch nicht separat in den Klassifikationssystemen abbilden. Dies reflektiert auch das Fehlen eines entsprechenden Konsensus hinsichtlich der genaueren Spezifizierung sowohl der Anzahl nötiger Therapieversuche als auch der adäquaten Dosierung und Dauer für eine einheitliche Definition von Therapierresistenz [6]. Ferner werden psychotherapeutische sowie interventionelle Verfahren, wenngleich leitliniengemäss, nicht mitberücksichtigt. Die schwer behandelbare Depression betrifft Patientinnen und Patienten, deren Verlauf durch eine initial kurze Stabilisierung und partielles Therapieansprechen, gefolgt von einer schnellen Rückkehr der depressiven Symptome gekennzeichnet ist und somit trotz aller üblicher Behandlungsbemühungen weiterhin eine erhebliche Belastung darstellt [7].

In Fällen einer schwer behandelbaren und therapieresistenten Depression werden Antidepressiva gewechselt, Kombinationen oder Add-on-Strategien («Augmentation») gewählt, alternative psychotherapeutische Verfahren verwendet und ggf. neuromodulatorische Stimulationsverfahren wie die repetitive transkranielle Magnetstimulation, die Gleichstromstimulation, die Vagusnervstimulation oder die Elektrokonvulsionstherapie eingesetzt. Letztere zeigt Ansprechraten von 60–80% und eine Remissionsrate von 50–60% [8]. Die Rückfallraten sind relativ hoch, und kumulativ kann es bei langen EKT-Behandlungen, höheren Stimulationsparametern sowie bilateralen Interventionen zu kognitiven Nebenwirkungen kommen [8].

Bei einem psychopharmakologisch therapierefraktären Verlauf ohne Vorliegen schwerer psychiatrischer Komorbiditäten oder psychosozialer aufrechterhaltender Faktoren, einer störungsspezifischen Psychotherapie und der frustranen Durchführung einer EKT als Goldstandardtherapie bei der TRD kann eine THS im Sinne eines individuellen Heilversuchs evaluiert werden. Bei dieser wird im Gegensatz zu den oben aufgeführten Behandlungsoptionen eine dauerhafte, lokalisierte Stimulation durchgeführt.

Obwohl invasive Verfahren in Fachkreisen immer mehr an Relevanz gewinnen, werden diese im psychiatrischen Kontext vergleichsweise selten im klinischen Alltag evaluiert und eingesetzt [9].

Die tiefe Hirnstimulation bei der Depression

Die tiefe Hirnstimulation gehört zu den neuromodulatorischen Therapieverfahren. Es werden dabei zumeist quadripolare Elektroden bilateral in vordefinierte Zielpunkte «in der Tiefe des Gehirns» stereotaktisch und minimalinvasiv implantiert. Diese feinen Elektroden sind über ein Verlängerungskabel subkutan mit dem sich abdominal oder pektoral befindenden Impulsgenerator (dem «Schrittmacher», bestehend aus Batterie und Computereinheit) verbunden (Abb. 1). Über die Spitze der Elektroden erfolgt eine elektrische Hochfrequenz-Stimulation mit dem Ziel, über strategisch wichtige Knotenpunkte modulierend auf dysfunktionale Netzwerke einzuwirken (z.B. [4]). Auch nach der Elektrodenimplantation kann über die unterschiedlichen Pole der Elektrode eine räumlich begrenzt flexible Ansteuerung erfolgen, zwecks Ausrichtung und Justierung des elektrischen Feldes sowie des Stimulationsorts. Die Einstellungsmöglichkeiten beinhalten die Art der Stimulation (beispielsweise monopolar versus bipolar), die Stimulationsamplitude (zumeist in mA oder Volt, i.d.R. um 1,5 bis 4mA), die Frequenz (i.d.R. zwischen 130–180 Hz) und die Impulsbreite (zumeist 60–90µs). Die Einstellung der Stimulationsparameter erfolgt über ein externes Programmiergerät im Rahmen der ambulanten Behandlung im Anschluss an den operativen Eingriff sowie während der weiteren Langzeitbetreuung. Der Wirkeintritt der Stimulation ist variabel und abhängig vom Stimulationsort und der zur Behandlung im Vordergrund stehenden Symptomatik.

Abbildung 1 Illustration von Lennart Stieglitz: Hardware zur tiefen Hirnstimulation mit Impulsgenerator, Verlängerungskabel und Elektroden.

Heute wird die THS erfolgreich bei der Behandlung von Bewegungsstörungen eingesetzt und gehört beim idiopathischen Parkinson-Syndrom, bei Tremor-Erkrankungen und bei Dystonien in vielen Ländern zum therapeutischen Goldstandard. Anders sieht es beim Einsatz der THS für psychiatrische Indikationen aus, für welche die entsprechenden Erkenntnisgewinne durch die klinische Forschung stetig erweitert werden. Entsprechend stellen Personen mit einem idiopathischen Parkinson-Syndrom mit etwa 300000 Betroffenen die mittels einer THS behandelt wurden das weitaus grössere Patientenkollektiv dar, verglichen zu den schätzungsweise bislang erst 500 therapierten Personen, die unter einer schweren therapirefraktären psychiatrischen Erkrankung leiden [10].

Die Depression als Netzwerkerkrankung und die hypothesengeleitete Therapie mit der tiefen Hirnstimulation

Unsere Sicht auf die Pathophysiologie der Depression wurde lange, basierend auf der Wirksamkeit der Antidepressiva der ersten und zweiten Generation, von der Monoamin-Hypothese dominiert. Gemäss dieser liegt bei der Depression in erster Linie ein gestörtes Gleichgewicht vor allem der serotonergen und noradrenergen Neurotransmitter vor [11].

Auf der Grundlage neuerer Studien wird die Depression zunehmend als komplexe und heterogene Netzwerkerkrankung des Gehirns konzeptualisiert, als Folge von maladaptiven, z.B. stress-induzierten, neuroplastischen Veränderungen mit Einfluss auf spezifische neuronale Netzwerke [12, 13], die verschiedene emotionale, aber auch kognitive Funktionen codieren. Dysfunktionen sowie Veränderungen in diesen eng und wechselseitig verbundenen limbischen Regelkreisen wurden mit der Depression und einer antidepressiven Wirkung assoziiert [14].

Die Wirkmechanismen der THS sind, wie bei anderen Behandlungsmethoden (beispielsweise der Psychotherapie) nach wie vor nicht restlos geklärt. Unbestritten sind die komplexen elektrischen Effekte auf einzelne Neuronen sowie neuronale Netzwerke, Veränderungen auf Neurotransmitterkonzentrationen sowie -dynamiken, und Einwirkungen auf die Mikroumgebung inklusive Astrozyten, Mikroglia und Endothelial-Zellen [15]. Eine Hypothese zum Wirkmechanismus der THS bei der Depression ist das Überschreiben oder Hemmen überaktiver limbisch-kortikaler Verbindungen durch die chronische elektrische Stimulation [16] und eine damit einhergehende Modulation dysfunktionaler neuronaler Netzwerke.

Bildgebungsstudien verhalfen zur hypothesengeleiteten Therapie, indem über den Einsatz dieser Methode beispielsweise ein bestimmtes metabolisches Aktivierungsmuster im subgenualen Gyrus cinguli identifiziert werden konnte. Bei depressiven Probanden wurde entsprechend ein erhöhter zerebraler Blutfluss und Glukosemetabolismus nachgewiesen, welche durch Antidepressiva reduziert werden konnten. Basierend auf diesen Beobachtungen erfolgte die THS in der subgenualen Region des Gyrus cinguli, der Brodmann Area 25, anlässlich der ersten Publikation zur modernen THS bei der Depression im Jahr 2005 [17]. In dieser Publikation wurde von einem signifikant anhaltenden Ansprechen der depressiven Symptomatik in vier von fünf Patientinnen auf die chronische Stimulation der weissen Substanz berichtet.

Zielstrukturen für die Stimulation bei der Depression

Seit den ersten Berichten wurden – die Symptomvielfalt und die Netzwerk-Komplexität der Depression widerspiegelnd – verschiedene Zielstrukturen anvisiert.

Im Gegensatz zur THS im Kontext der Tremor-Erkrankungen, bei welchen nur eine Zielstruktur stimuliert wird, kommen bei der Depression je nach Hypothese, Zentrum und Arbeitsgruppe neben dem subcallosalen Cingulum (SCC), dessen Stimulation sich positiv auf den negativen Affekt auswirken soll, weitere Stimulationsstrukturen zum Einsatz. Zu diesen zählen die ventrale Kapsel und das ventrale Striatum (VC/VS), der Nucleus accumbens (NAc), der untere Thalamusstiel (ITP), der Bettkern der Stria terminalis (BNST), die laterale Habenula und das superolaterale mediale Vorderhirnbündel (slMFB). Letztere Zielstruktur, die sich durch ein rasches Ansprechen der depressiven Symptomatik auszeichnet, ist wie der NAc Teil des Belohnungssystems und zielt damit auf die Anhedonie als Hauptsymptom der Depression ab. Alle oben aufgeführten Strukturen stellen wichtige Knotenpunkte dar, die an der Emotionsverarbeitung beteiligt und Bestandteile der neuronalen Netzwerke der verschiedenen Symptomausprägungen der Depression sind [18].

Wirkung und Zulassung

Die THS bei der TRD hat unter Einbezug der unterschiedlichen Zielstrukturen in verschiedenen Open-label-Studien und Fallserien eine durchschnittliche Ansprechrate von 60% erzielt [19]. Ferner konnten zwei kürzlich erschienene Metaanalysen, eine mit 9 eingeschlossenen Studien [20], die andere mit 12 verblindeten Studien [21], eine klare Wirksamkeit einer aktiven versus einer Placebo-Stimulation aufzeigen. Dennoch variieren die Ansprechraten interindividuell und zwischen den Studien [19]. Der Wirksamkeitsnachweis wird dabei oftmals durch die relativ geringen Stichprobengrössen oder der Verwendung von Open-label-Studien und demzufolge dem Fehlen einer Placebokontrolle, wie dem Fehlen einer sham-Stimulation, erschwert. Trotz dokumentierten Ansprechraten [22] fehlt der THS für die Indikation der Depression die Zulassung. Zwei grosse kontrollierte randomisierte Studien (mit Stimulation im SCC und VC/VS) wurden nach einer Interim-Analyse vorzeitig gestoppt [23, 24]. Um Studien für einen Wirknachweis besser zu konzipieren, werden aktuell folgende methodologische Anpassungen evaluiert: Optimierung des Studiendesigns inklusive der Stichprobengrösse, der adäquaten Patientenselektion, Auswahl der Stimulationsparameter, Wahl des Zielpunktes sowie der Elektrodenposition innerhalb der Zielregion. Entsprechend sind aussagekräftigere Wirksamkeitsstudien und Übersichtsarbeiten für die THS bei der Depression erst kürzlich erschienen und teilweise noch in Ausarbeitung.

Die Gründe der teilweise fehlenden Nachweisbarkeit der Effektivität sind komplex und liegen beispielsweise in der Natur der Behandlungsmethode selbst, wie etwa bei der Notwendigkeit einer personalisierten Einstellung der Stimulationsparameter unter Berücksichtigung der zu postulierenden interindividuell variablen Verbindungen der unterschiedlichen Netzwerke. Aus eigener Erfahrung ist eine individualisierte und extensive Optimierung der Stimulationsparameter im Sinne einer Trial-and-error-Strategie nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, gerade wenn die Stimulation keine Wirkung zeigt. Auch dieser Aspekt wird in den meisten Studienprotokollen nicht ausreichend berücksichtigt. Insgesamt ist die schiere Zahl möglicher Parameterkombinationen mit deren unterschiedlichen hirnphysiologischen Auswirkungen jedoch so hoch, dass verfeinerte Modelle zukünftig nötig sind, die optimierte Stimulationsprotokolle für individuelle Patientinnen und Patienten und/oder Symptomprofile vorhersagen; dies gilt allerdings auch für andere Therapieverfahren bei der Depression. Verfeinerte Modelle basieren beispielsweise auf der individuellen Darstellung spezifischer Nervenbahnen für die Elektrodenimplantation [25, 26], auf Computermodellen zur Darstellung von Effekten unterschiedlicher Parameterkombinationen auf das Nervengewebe [27] sowie der Identifikation von Biomarkern [28].

Risiken und unerwünschte Wirkung

Die Risiken und unerwünschten Wirkungen im Zusammenhang mit der THS können in operationsassoziierte Risiken, Stimulations-assoziierte unerwünschte Wirkungen sowie Risiken durch die Anwendung der Methode als solche im weiteren Sinne unterteilt werden. Letztere Gruppe umfasst beispielsweise den Umstand, dass, auch wenn es sich um ein potenziell reversibles Verfahren handelt, bei welchem die Elektroden auch nach Jahren wieder explantiert werden können, die THS mit der intensiven präoperativen Diagnostik, dem Eingriff selbst und dem Verlauf nach der Operation im Sinne einer Ultima Ratio eine Zäsur darstellt, bei welcher in einem besonderen Masse Hoffnungen geweckt oder auch zerschlagen werden. So kann sich allein der Einfluss der Operation in diesem gefassten Sinn signifikant auf den Krankheitsverlauf und die Symptomatik auswirken.

Chirurgische Risiken

Durch die flexiblen, dünnen Elektroden mit stumpfer Spitze, die Anwendung hoch auflösender Bildgebung mittels Magnetresonanztomografie und das stereotaktische Verfahren als solches, bei welchem der Zugang zu den Zielstrukturen durch den Stereotaxiering als externes Referenzsystem millimetergenau geplant werden kann, sind die chirurgischen Risiken gering und vergleichbar mit den Risiken im Rahmen anderer Indikationen, wie dem idiopathischen Parkinson-Syndrom.

Am gefürchtetsten sind symptomatische intrazerebrale Blutungen mit 0,78% [29], gefolgt von Infektionen, welche im ungünstigsten Fall eine Explantation des gesamten Systems zur Folge haben können (1,7% [30]).

Es wurde ausserdem über Allergien, Delirien, Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, geschwollene Augen, Schwindel und Heiserkeit berichtet; zudem kann es zu Hardwaredefekten und der Notwendigkeit einer Elektrodenlagenreposition kommen [20].

Stimulationsassoziierte unerwünschte Wirkungen

Die Wirkung wie auch die Nebenwirkungen der Stimulation sind abhängig von dem Zielpunkt, der Elektrodenlage und den Einstellungen der Stimulationsparameter.

Durch eine Anpassung der Stimulationsparameter können diese beeinflusst werden.

Als psychiatrische Nebenwirkungen können – je nach gewähltem Zielpunkt – hypomanische oder auch manische Symptome, innere Unruhe und Agitation, eine Verschlechterung der Depression oder Ängste auftreten. Zudem kann es zu Schlafstörungen, einer veränderten Libido, Nausea, Miktionsproblemen, ausgeprägtem Schwitzen, Geschmacksveränderungen, Kopfschmerzen, Parästhesien, visuellen oder auditiven Störungen, epileptischen Anfällen [20] und Doppelbildern kommen.

Suizidalität

Ein besonderes Augenmerk bei der therapieresistenten Depression liegt auf dem Suizidrisiko. Bei mindestens 30% der Patientinnen und Patienten mit einer TRD erfolgt störungsbedingt mindestens ein Suizidversuch. In THS-Studien konnte mit einer Rate von Suizidversuchen von 6,7% kein erhöhtes Suizidrisiko ermittelt werden [19].

Standortbestimmung und Schlussfolgerung

Die Depression mit ihrer multifaktoriellen Ätiopathogenese stellt eine äusserst komplexe und heterogene Netzwerkerkrankung dar, bei der unterschiedliche, symptomspezifische Regelkreise in unterschiedlichem Ausmass betroffen sein können. Die THS ist eine vielversprechende, bislang nur experimentell eingesetzte Methode für Patientinnen und Patienten mit TRD. Die Behandlung wird in der Schweiz ausschliesslich von hochspezialisierten Zentren mit interdisziplinären Teams von Fachspezialisten angeboten. Sie kann als dauerhafte, individualisierte Therapie bei Patientinnen und Patienten mit schwer behandelbarer Depression, bei Betroffenen, die also nur ungenügend auf gängige Therapieversuche ansprechen, zum Einsatz kommen. Eine individuelle Aufklärung und Evaluation sowie eine engmaschige Langzeitbetreuung sind entscheidend für die erfolgreiche Anwendung dieser Behandlung.

Key messages
  • Die tiefe Hirnstimulation ist ein minimalinvasives neurochirurgisches Verfahren zur dauerhaften und lokalen Regulation pathologischer Regelkreise.
  • Leider spricht ein nicht zu unterschätzender Teil der Patientinnen und Patienten nach wie vor ungenügend oder gar nicht auf die gängigen Therapieverfahren zur Behandlung der Depression an. Dies unterstreicht die Notwendigkeit für Behandlungsalternativen bei der therapierefraktären Depression.
  • Aufgrund bemerkenswerter Ansprecharten der THS bei etwa 50% der Patientinnen und Patienten mit therapierefraktärer Depression gilt es, die Möglichkeit eines Therapieeinsatzes bei ausgewählten Patientinnen und Patienten sorgfältig zu prüfen.

Bibliografie