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Open AccessAus der Praxis – für die Praxis

Gut leben zuhause mit Multimorbidität

Praxisprojekt zum Beitrag der klinischen Pflegeexpertise MSc / APN in der häuslichen Pflege

Published Online:https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000838

Abstract

Zusammenfassung.Hintergrund: Immer mehr ältere Menschen leben mit Multimorbidität, reduzierter Autonomie und Lebensqualität, komplexen Therapieregimes und erhöhten Komplikations- und Hospitalisationsraten. Bei funktionalen Einschränkungen oder zur Unterstützung des Therapiemanagements ist die professionelle häusliche Pflege unerlässlich. In der stationären Versorgung verbessern Advanced Practice Nurses (APN) aufgrund ihrer erweiterten Kompetenzen die Versorgungsqualität. Für mehrfach erkrankte Klient_innen zuhause ist die Rolle der APN hingegen neu. Ziel: Ausgehend von international etablierten APN-Kernkompetenzen sollte die APN-Rolle in einem häuslichen Pflegedienst für Menschen mit Multimorbidität entwickelt werden. Methoden: Das Praxisprojekt orientierte sich am PDCA-Zyklus. Merkmale von zugewiesenen Klient_innen sowie Fallsituationen wurden analysiert und so der Mehrwert der APN für die Klient_innen, deren Angehörige, die Pflegeteams und die interprofessionelle Zusammenarbeit herausgearbeitet. Ergebnisse: Im Projektzeitraum wurden 40 Klient_innen durch die APN begleitet. Durch ihre Interventionen stabilisierten sich vielschichtige Lebens- und Krankheitssituationen, und sie vermittelten den Beteiligten Sicherheit im Gesundheitsmanagement. Diskussion: Leadership in der Praxisentwicklung und interprofessionelle Zusammenarbeit waren zentrale Erfolgsfaktoren. Die APN nahm eine wichtige Koordinationsrolle innerhalb der zahlreichen Akteure wahr. Grenzen und Transfer: Diese Rolle muss für die häusliche Pflege konsolidiert und ihre Wirksamkeit auf die Versorgungsqualität empirisch erforscht werden.

Living well at home with multimorbidity – A project on the contribution of advanced practice nursing in home health care

Abstract.Background: Multimorbidity has increased among the elderly, leading to loss of autonomy, lower quality of life, complex treatment plans and higher rates of complications and hospitalisations. Functional impairment and challenging therapy management make the use of home health nursing services essential. Experience in primary care and in hospitals has shown that Advanced Practice Nurses (APN) lead to a better quality of care for patients with multimorbidity. However, there is no data yet regarding the potential contribution of APNs to the care of these patients in home healthcare settings. Aim: To develop the role of the APN in a home health nursing organisation for patients with multimorbidity, applying internationally established APN core competencies. Methods: Characteristics of referred clients were collected and presented in case studies in an APN practice development project based on the PDCA-cycle. Benefits for clients, family caregivers, the nursing team, and for interprofessional collaboration were elaborated. Results: During the project period, a total of 40 clients were assigned to APN-care. An increase in stability in complex situations and higher confidence of clients and family caregivers in their individual health management were achieved. Discussion: The key factors were the APN’s leadership role in best practice development and interprofessional collaboration. The APN played an important role in coordinating the numerous parties involved. Limits and transfer: This role must be further established. Empirical research is required to show the effect on quality of care.

Einleitung

Was ist zu dieser Thematik schon bekannt?

Advanced Practice Nurses (APN) verbessern die Pflegequalität bei mehrfach erkrankten Menschen in der stationären Versorgung.

Was ist neu?

Die APN stabilisiert in der häuslichen Pflege komplexe Lebens- und Krankheitssituationen und verbessert das Gesundheitsmanagement des Pflegeteams durch Leadership.

Welche Konsequenzen haben die Ergebnisse für die Pflegepraxis?

Diese Rolle muss für die häusliche Pflege konsolidiert und ihre Wirksamkeit empirisch erforscht werden.

Die nachhaltige, bedarfsorientierte Versorgung von mehrfach erkrankten Menschen ist für die professionelle häusliche Pflege höchst anspruchsvoll. Das vorliegende Praxisprojekt beschreibt die Einführung von Pflegeexpert_innen MSc / Advanced Practice Nurses (APN), um die vielfältigen Anforderungen dieser komplexen Pflegesituationen besser zu meistern.

Die Bewältigung von Multimorbidität ist international eine der wichtigsten Aufgaben in der Gesundheitsversorgung. Denn von Multimorbidität – d. h. dem gleichzeitigen Auftreten von zwei oder mehr dauerhaften Gesundheitsbeeinträchtigungen und Symptomkomplexen (NICE, 2016) – sind in der Schweiz rund 22 % der über 50-Jährigen betroffen (Battegay, 2014). Der Anteil steigt ab 80 Jahren auf 41 % (Moreau-Gruet, 2013) und wird sich bei dieser Altersgruppe bis 2045 verdoppeln (Weber et al., 2016). Herausfordernd ist nicht allein die Zahl der Gesundheitseinschränkungen, sondern deren Wechselwirkung im Kontext von Alter und Lebenssituation, die zu erhöhter Komplexität und Krankheitslast führen. Besonders stark betroffen sind alleinlebende Menschen (Haslbeck, Klein, Bischofberger & Sottas, 2015), denn für sie intensivieren sich die Bewältigungsanforderungen. Die fragmentierte und spezialisierte Gesundheitsversorgung ist nicht auf diese Situationen ausgerichtet, denn diese erfordern ein Zusammenspiel von zahlreichen generalistischen und spezialisierten Diagnostik- und Therapieregimes. Durch den fehlenden Gesamtblick erhöhen sich das Komplikationsrisiko und die Hospitalisationsrate (Battegay, 2014; Moreau-Gruet, 2013).

Hintergrund

Als Grundlage für den Umgang mit Multimorbidität in der Primärversorgung dient oft das Chronic Care Modell (CCM) von Bodenheimer, Wagner & Krumbach (2002), welches ein mehrdimensionales Vorgehen empfiehlt: interprofessionelles Team, Selbstmanagementförderung, Therapieentscheidungen nach Best-Practice-Vorgaben, Einbettung in gemeindenahe Unterstützungsangebote sowie elektronischer Informationsaustausch. Ergänzend zum CCM und um die Komplexität von Multimorbidität noch besser zu berücksichtigen, wurden klinische Leitfäden und Erkenntnisse zu diesem spezifischen Themenkomplex in der Primärversorgung hinzugezogen. Dazu gibt es inzwischen evidenzbasierte Strategien zur Priorisierung im Therapie- und Gesundheitsmanagement (American Geriatrics Society, 2012) sowie Guidelines (Mercer, Furler, Moffat, Fischbacher, Smith & Sanci, 2016; NICE, 2016) und eine systematische Übersichtsarbeit (Smith, Wallace, Dowd & Fortin, 2017). Fünf Handlungsschwerpunkte sind demnach bei Multimorbidität zentral: (1) Prioritäten, Werte und Ziele der Patient_innen als Entscheidungsgrundlage für die Therapie, (2) einfach umsetzbare Therapieregimes, (3) individuelle Versorgungspläne, (4) eine designierte Fachperson mit generalistischem Wissen zur Versorgungskoordination, (5) Unterstützung der pflegenden Angehörigen und Einbindung von verfügbaren Ressourcen des Gemeinwesens. Diese Handlungsschwerpunkte werden den Anforderungen der Praxissituationen erfahrungsgestützt gerechter, denn sie berücksichtigen sowohl die Behandlung als auch die personzentrierte Umsetzung im sozialen Kontext.

Pflegeexpertise MSc / Advanced Practice Nurses

In diesem Kontext bietet die konsekutive Masterausbildung in Pflege (MScN) mit klinischem Schwerpunkt national (De Geest et al., 2008) und international (Schober et al., 2020) einen Mehrwert für die Gesundheitsversorgung. Neben erweiterten Untersuchungs- und Behandlungskompetenzen sowie der Verordnungsbefugnis (je nach örtlicher Gesetzgebung) sind MSc in Pflege Absolvent_innen als APN in der klinischen Praxis, Gesundheitsförderung, Patientenedukation und Koordination der interprofessionellen Zusammenarbeit tätig (Donald et al., 2013; Grant, Lines, Darbyshire & Parry, 2017). In der medizinischen Grundversorgung (Laurant et al., 2018) und der stationären Langzeitpflege (Donald et al., 2013) ist diese Rolle international etabliert, und Qualität und Sicherheit der Leistungen sind unbestritten. In Deutschland, Österreich und der Schweiz sprachen sich die nationalen Berufsverbände der Pflegeberufe in einem gemeinsamen Positionspapier zur Pflegeexpertise MSc / APN auch in der Grundversorgung aus (DBfK, ÖGKV & SBK, 2013). In Deutschland wurde die Community Health Nurse mit MSc-Abschluss für Gesundheitszentren eingeführt (Weskamm, Keßler & Marks, 2018). In der Schweiz wird die Rolle zunehmend in der medizinischen Grundversorgung etabliert (Sailer Schramm et al., 2019).

Der zusätzliche Nutzen einer APN für Patient_innen mit Multimorbidität und ihre Angehörigen gründet auf ihrer zentralen Kompetenz der fortgeschrittenen klinischen Praxis und folgenden sechs Kernkompetenzen: Beratung und Coaching für Klient_innen und Angehörige, Konsultation und Unterstützung von Fachpersonen und Teams, intra- und interprofessionelle Zusammenarbeit, klinisches und fachliches Leadership, Implementation evidenzbasierter Praxis und ethische Entscheidungsfindung (Tracy & O’Grady, 2019).

Kontext Privathaushalt

Die meisten Menschen mit Multimorbidität leben in Privathaushalten. Hier sind Hausarztpraxen (Herzig et al., 2018) und vor allem bei funktionalen Einschränkungen, Überbeanspruchung der Angehörigen oder Anforderungen im Therapiemanagement auch die professionelle häusliche Pflege (in der Schweiz auch Spitex genannt) gefragt. Dies trifft besonders – aber nicht nur – auf das hohe Alter zu. Im Jahr 2019 bezogen in der Schweiz 29 % der zuhause lebenden Personen ab 80 Jahren Spitexleistungen (Francis & Lazzeri, 2020). Seit einigen Jahren beauftragen Spitexbetriebe Pflegeexpert_innen MSc / APN damit, die mehrfach erkrankten Klient_innen mit dem nötigen Rundumblick und Know-how zu unterstützen. Dies erfordert APNs mit generalistischen Kompetenzen, denn breit gefasste Aufgaben sind der größte Teil der Spitexleistungen (Imhof, de Wolf-Linder, Waldboth, Braun & Mahrer Imhof, 2017), doch bislang waren APNs meist in Spezialgebieten wie palliativer oder psychosozialer Pflege tätig. Der MSc-Abschluss in Pflege ist in der Schweiz bisher weder im Gesundheitsberufegesetz geregelt, noch bestehen auf nationaler Ebene dafür vorgesehene Abrechnungsmöglichkeiten im Rahmen des Krankenversicherungsgesetzes. Diese regulatorische Situation eröffnet Betrieben und Kantonen ein Experimentierfeld für die Implementation fortgeschrittener Pflegepraxis in der Spitex, wobei dies jedoch lokal in der Ausgestaltung der Rolle und des Stellenprofils bei der Umsetzung verunsichern kann.

Zielsetzung

Ziel des Praxisprojekts war, die Funktion von generalistisch tätigen Pflegeexpert_innen MSc / APN in einem urbanen Spitexbetrieb der Deutschschweiz mit kommunalem Leistungsauftrag und Versorgungspflicht systematisch einzuführen und die Zusammenarbeit mit ausgewählten Spitexteams sowie der Hausärzteschaft im Hinblick auf eine „Gute APN-Praxis“ zu analysieren. In diesem Artikel fokussieren wir auf den APN-Beitrag zugunsten von Klient_innen, Angehörigen und des Spitexbetriebs.

Methode

Methodisch orientierte sich das Praxisprojekt am PDCA-Zyklus nach Deming mit den Schritten „Planung – Umsetzung – Überprüfung – Anpassung“ (Angermeier, 2016), die den Veränderungsprozess leiteten. Das Projekt war in das MScN-Studium der Erstautorin eingebettet und wurde, begleitet von den beiden Co-Autorinnen, von Januar 2016 bis Oktober 2019 durchgeführt.

Dieser Abschnitt konkretisiert die Umsetzung der einzelnen Schritte im Projektverlauf anhand des PDCA-Zyklus (siehe Abb. 1):

Abbildung 1 Projektverlauf der APN-Rollenentwicklung in der Spitex für Menschen mit Multimorbidität und ihre Angehörigen.
  1. 1.
    Planung: Erkennen von Verbesserungspotenzial, Definition eines Veränderungszieles und Planen von entsprechenden Maßnahmen.
  2. 2.
    Umsetzung: Testen der Maßnahmen. Wichtig ist, dass diese noch nicht etabliert werden, sondern dass eine Reaktion des Systems ausgelöst wird.
  3. 3.
    Überprüfung: Analyse der Auswirkungen. Die Ergebnisse entscheiden darüber, wie die Maßnahmen modifiziert und weiter umgesetzt werden.
  4. 4.
    Anpassung: Änderungen werden nachhaltig umgesetzt, z. B. indem neue Standards definiert werden. Um die positive Umsetzung voranzutreiben, setzt im Zyklus ein erneuter Schritt der Planung ein.

Projektsetting

Im Betrieb der Erstautorin (Anzahl Mitarbeitende zu Projektbeginn: 549 Vollzeitstellen, davon 3 APNs) sind seit 2014 Pflegeexpert_innen MSc / APN in verschiedenen Spezialgebieten wie palliativer oder psychosozialer Pflege tätig. Um den spezifischen Bedarf von mehrfach erkrankten Klient_innen in besonders komplexen Situationen zu decken, wurde 2016 die Stelle einer APN Chronic Care (im weiteren APN genannt) geschaffen und mit der Erstautorin besetzt. Ihr zur Seite standen die Qualitätsverantwortliche, eine betriebsinterne Projektgruppe und weitere APNs für den kollegialen Austausch.

In der Planungsphase erfolgte die Literaturanalyse zu Schwerpunkten der APN in der Spitex und ihrer Integration in den Betrieb. Gestützt darauf wurden Überweisungskriterien formuliert, anhand derer Klient_innen von Spitex-Mitarbeitenden und Hausarztpraxen an die APN überwiesen werden konnten. Dafür mussten zwei oder mehr chronische Erkrankungen vorliegen und mindestens eines der folgenden Kriterien zutreffen:

  • Komplexes Therapie- und Medikamentenmanagement und Schwierigkeiten mit der Adhärenz
  • Reduzierte Selbstmanagement-Fähigkeiten
  • Notfälle und ungeplante Hospitalisationen wegen Exacerbation der Grunderkrankung
  • Fehlendes, brüchiges oder stark belastetes soziales Netz
  • Erschwerte Zusammenarbeit im interprofessionellen Team
  • Anzeichen eines Frailty Syndroms im Alter

In einem nächsten Schritt stellte die APN das neue Angebot und die Überweisungskriterien in einem ausgewählten Spitexzentrum (lokaler Stützpunkt für mehrere Spitexteams) sowie den organisationsinternen Fachstellen und einer hausärztlichen Gruppenpraxis vor. Diese überwiesen ihr im weiteren Projektverlauf Klient_innen. Sie übernahm die fachlich umfassende, evidenzbasierte und zeitlich intensive Begleitung, bis sich die gesundheitliche Situation so weit stabilisiert hatte, dass das örtliche Spitexteam die Fallführung übernehmen, resp. wieder übernehmen konnte. Die APN dokumentierte im Rahmen des Praxisprojekts kontinuierlich Klientenmerkmale, Probleme, Art und Dauer ihrer Unterstützung, bearbeitete Themen wie z. B. Therapiemanagement, die Mitwirkung pflegender Angehöriger oder die interprofessionelle Koordination und die aus ihrer Unterstützung resultierenden Situationsveränderungen. Sie erstellte jeweils personenbezogene Fallbeschreibungen und analysierte diese anhand der APN-Kompetenzen (Tracy & O’Grady, 2019) mit dem Ziel, die Veränderungen durch die APN-Unterstützung zu identifizieren. Die Ergebnisse wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Rahmen des MScN-Studiums diskutiert und mit APN-Kolleginnen kritisch reflektiert.

Das Praxisprojekt fiel als betriebliche Qualitätsentwicklung ohne empirische Forschung nicht in den Geltungsbereich des Eidgenössischen Humanforschungsgesetzes, so dass keine Genehmigung durch die zuständige Ethikkommission erforderlich war. Die klinischen Daten der Dokumentation wurden anonymisiert und nach den geltenden Datenschutzvorgaben behandelt. Beide Personen, deren Daten die Grundlage der nachfolgenden Fallbeispiele bilden und deren Namen pseudonymisiert sind, willigten schriftlich für die Publikation gemäß den Empfehlungen von Schlüer et al. (2019) ein.

Ergebnisse

Im Projektzeitraum wurden der APN insgesamt 40 Klient_innen überwiesen (von Spitexzentrum und -fachteams sowie Hausarztpraxis), wobei die Gesamtzahl an Klient_innen des zuweisenden Spitexzentrums und der Fachteams im selben Zeitraum nicht ermittelt wurde. Tabelle 1 zeigt ausgewählte Merkmale der überwiesenen Klient_innen. Ihre soziodemographischen und krankheitsbezogenen Merkmale unterscheiden sich nicht wesentlich von der Gesamtpopulation der Klient_innen des Spitexbetriebs, d. h. hohes Alter und Multimorbidität sind dominante Merkmale bei Spitex-Leistungsbezüger_innen (Imhof et al., 2017).

Aus den 40 Situationen wählten wir zwei Beispiele mit komplementären Aspekten und besonders aussagekräftigen Veränderungen aus. Diese Beispiele illustrieren die angestrebte „Gute APN-Praxis“ in der zentralen Kompetenz der direkten klinischen Praxis wie auch in den sechs Kernkompetenzen. Ihre Analyse wird in Tabelle 2 anhand des zugrundliegenden Modells dargestellt.

Tabelle 1 Merkmale der Klientensituationen
Tabelle 2 Analyse der Fallbeispiele nach APN-Kompetenzen

Fallbeispiel 1: Sicherheit durch beratende Begleitung

Herr Dünki, 80-jährig, Hauptdiagnose progrediente Lungenerkrankung, Nebendiagnosen koronare Herzkrankheit und chronisches thorakales Schmerzsyndrom unklarer Ursache, leichte kognitive Einschränkung. Er wohnte zusammen mit seiner Ehefrau, die ihn im Selbstmanagement unterstützte. Seine Hausärztin überwies ihn zur Abklärung und Unterstützung an die APN mit dem Ziel, die Situation zu stabilisieren, sein Selbstmanagement zu fördern und die Versorgung vorauszuplanen. Die APN-Einsätze beim Ehepaar erfolgten während eines Jahres flexibel und angepasst an die jeweilige Verlaufsdynamik der Mehrfacherkrankungen mit den Schwerpunkten Selbstmanagementschulung in der Symptominterpretation und Therapieumsetzung. Dank vertieftem klinischen Assessment, erweiterten pharmakologischen Kenntnissen und kontinuierlicher, zeitnaher Zusammenarbeit mit der Hausärztin verringerte sich die Symptomlast und verbesserte sich die Lebensqualität deutlich. Das Ehepaar resümierte den Einsatz der APN: „Es gibt eine enorme Sicherheit, dass man nicht allein auf sich gestellt ist, und dass man jemanden im Hintergrund hat, zu dem man Vertrauen hat.“

Fallbeispiel 2: Spitex statt Übergangspflege im Pflegezentrum

Frau Tobler, 85-jährig, Austritt nach Hause direkt nach dem Spitalaufenthalt wegen Schenkelhalsfraktur, insulinpflichtiger Diabetes mit instabilen Blutzuckerwerten, Belastungsdyspnoe bei Herzinsuffizienz, starke Rückenschmerzen durch Wirbelkompressionsfrakturen bei Osteoporose, allein wohnend im 2. Stock ohne Lift, Tochter wohnte in einer anderen Gemeinde. Ziele der Unterstützung waren der kontinuierliche Mobilitätsaufbau und die funktionale Unabhängigkeit. Zuhause nach dem Spitalaustritt war Fr. Toblers erste Aussage: „Ich verlasse meine Wohnung jetzt ein halbes Jahr nicht mehr!“ Nach vier Monaten erreichte sie allerdings dank den systematischen und konsequenten APN-Interventionen sowie der Unterstützung des Spitexteams eine bessere Mobilität und einen größeren Bewegungsradius als vor der Schenkelhalsfraktur. Dies illustriert ihre Aussage gegenüber der APN: „Ich kann jetzt nicht lange telefonieren, ich bin am Einkaufen.“

Die Analyse zeigt, dass die APN die beiden zunächst instabilen Fallsituationen mit intensiver Unterstützung und umsichtigem Gesundheitsmanagement so stabilisierte, dass keine weiteren Hospitalisationen wegen Exacerbation der Grunderkrankung oder Stürzen erfolgten. Das Ehepaar Dünki erhielt eine sorgfältige, individuell ausgerichtete Beratung und Edukation zu Symptombeobachtung, -interpretation und Therapie und erlangte so mehr Sicherheit im Selbstmanagement. Die APN arbeitete beim Spitalaustritt eng mit dem Spitalteam zusammen und gewährleistete so den sicheren Übergang nach Hause. Intensives Coaching in Mobilitätsaufbau, Ernährung und Therapiemanagement führten bald zu verbesserter funktioneller Gesundheit im Alltag.

In beiden Situationen gleiste die APN die engmaschige und proaktive Zusammenarbeit mit den Hausärztinnen auf. Dies bot dank zielgerichteter und konziser Kommunikation allen Beteiligten die nötige Orientierung im Prozess. Die APN vermittelte dem zuständigen Spitexteam spezifische Kenntnisse und Kompetenzen für die Situation von Frau Tobler und lebte bei gemeinsamen Einsätzen die personzentrierte Kommunikation mit der Kundin vor.

Aufgrund dieser Erkenntnisse integrierte der Spitexbetrieb ab Oktober 2019 die APN-Rolle für mehrfach erkrankte Klient_innen mit herausfordernden Altagssituationen in die Regelversorgung und weitete das Angebot auf den ganzen Betrieb aus. Siehe Absatz Ergebnisse, zweiter Paragraph.

Diskussion

Die kontinuierliche Reflexion und Analyse der Fallbeispiele aus dem Praxisprojekt zeigten, dass die „Gute APN-Praxis“ drei maßgebliche Elemente umfasst: a) zweckmäßige Triage von Klient_innen, b) spezifischer Mehrwert der Rolle für Klient_innen, Angehörige und Spitexteams und c) die Versorgungskoordination im interprofessionellen Kontext.

Triage von Klient_innen

Eine APN erkennt aufgrund ihrer Pflegeexpertise frühzeitig die komplexen Zusammenhänge und Risiken im Versorgungsverlauf und baut rasch Problemlösungsstrategien sowie eine interprofessionelle Kollaboration auf (Tracy & O’Grady, 2019). Ziel der Triage ist, mehrfach erkrankte Klient_innen in komplexen Situationen und instabilem Krankheitsverlauf zu erfassen. Die soziodemographischen und krankheitsbezogenen Merkmale der ersten 40 Klient_innen im APN-Projekt unterschieden sich nicht wesentlich von der Gesamtpopulation des Spitexbetriebs. Insofern sind die Überweisungskriterien für Spitexteams und Hausärzteschaft an die APN empirisch zu überprüfen und zu schärfen. Damit die APN ihre fortgeschrittenen Kompetenzen noch fundierter einsetzen kann, könnte sie krankheitsspezifische Kriterien der Klientensituation proaktiv und risikobasiert einschätzen, um Belastungssituationen frühzeitig zu identifizieren.

Spezifischer Mehrwert der Rolle

Erkrankungen, Therapien, funktionale Einschränkungen und Lebenssituation beeinflussen sich in den Fallbeispielen gegenseitig. Priorisierungen im Krankheitsmanagement waren nötig, um Veränderungen rechtzeitig anzugehen und gleichzeitig den Möglichkeiten, Vorstellungen und Zielen von Klient_innen und Angehörigen gerecht zu werden (Mercer et al., 2016; NICE, 2016). Die Fähigkeit, den Alltag gemäß eigener Bedürfnisse und Wünsche zu gestalten und zu bewältigen, ist für die Lebensqualität im Alter bei Multimorbidität zentral (Weber et al., 2016). In den beiden Fallbeispielen war dies dank Alltagsnähe, kommunikativen Fähigkeiten und einem Rundum-Blick der APN auf die individuelle Situation möglich (Bonsack & Reichart, 2013; Trilla et al., 2018).

Grundlage war das umfassende klinische Assessment durch die APN, mit welchem sie die Ausprägungen der Gesundheitseinschränkungen der Klient_innen erfasste und entsprechend proaktiv und partizipativ die Versorgung mit Klient_innen, Angehörigen und dem interprofessionellen Team plante (Counsell et al., 2007; Imhof, Naef, Wallhagen, Schwarz & Mahrer Imhof, 2012). Die systematische Durchführung eines multidimensionalen geriatrischen Assessments ist im stationären Setting bereits etabliert. Für die professionelle Pflege zuhause ist dies, wie in einzelnen Studien ersichtlich, noch ausbaufähig (Pilotto & Martin, 2018).

In beiden Fallbeispielen half die APN den Spitexteams, die Themen in den Konsultationen situativ zu priorisieren und so eine stabile Situation zu erreichen. Die Spitexteams profitierten dabei von ihren Leadership-Kompetenzen und der Vermittlung von evidenzbasiertem Wissen. Zudem konnten sie niederschwellige Inputs zur praktischen Umsetzung auf weitere Pflegesituationen übertragen. Die APN hatte dabei eine Vorbildfunktion und diente auch als Change Agent (Tracy & O’Grady, 2019).

Versorgungskoordination im Kontext interprofessioneller Zusammenarbeit

Die APN hat dank ihres geschärften Blicks auf das Gesamtsystem der Gesundheitsversorgung einschließlich der Finanzierungsmechanismen eine auch international breit erforschte Funktion in der Versorgungskoordination bei Multimorbidität (Doessing & Burau, 2015). Dadurch sinkt in einigen ambulanten Versorgungsmodellen die Häufigkeit von akuten Ereignissen mit Notfalleinweisung und Hospitalisation signifikant (Councell et al., 2007; Imhof et al., 2012; Trilla et al., 2018). Die Fallbeispiele verdeutlichen, wie die APN in ihrer Spitexpraxis durch klinische, fachliche und kommunikative Expertise maßgeblich zu Kontinuität, Zugang und Sicherheit in der Gesundheitsversorgung beitrug. Diese so ausgeübte Versorgungskoordination beugt Komplikationen vor. In der Schweiz ist die Koordination bereits heute als verrechenbare Leistung der professionellen häuslichen Pflege möglich, muss aber immer wieder argumentiert werden (Giger, Häusler, Sander & Staffelbach, 2018).

Grenzen

Limitierend an diesem Praxisprojekt ist, dass die betriebliche Rolle stark kontextabhängig und daher nicht unmittelbar auf andere Situationen übertragbar ist. Zudem hatte das Projekt Pilotcharakter, bei dem der PDCA-Zyklus den methodischen Rahmen bildete. Die Erhebung empirischer Daten stand bei der Planung und Durchführung nicht im Zentrum, so dass z. B. keine robusten Aussagen zu Outcomes möglich sind. Dennoch können die Ergebnisse Impulse für die professionelle häusliche Pflege geben, auch über die Landesgrenze hinweg, und ebenfalls für ein etwaiges empirisches Forschungprojekt.

Schlussfolgerungen und Transfer

Der geschärfte Blick auf die Lebenswelt, die Nutzung umfassender klinischer Kompetenzen, die gezielte interprofessionelle Kommunikation und die umsichtige Praxisentwicklung sind als Kern des Projekterfolgs zu werten. Um darüber hinaus das volle Potenzial der Kompetenzen von Pflegeexpert_innen MSc / APN für eine wirksame und effiziente häusliche Pflege auszuschöpfen, muss die Rolle auf individueller, betrieblicher und staatlicher Ebene weiter erprobt, entwickelt und deren Wirksamkeit durch Begleitforschung mit definierten Prozess- und Outcome-Indikatoren überprüft werden. Dadurch könnten sowohl die Versorgungs- als auch die Lebensqualität von Klient_innen und deren Angehörigen maßgeblich gefördert werden.

Die gesetzliche Reglementierung der Masterausbildung mit klinischem Fokus und die entsprechende Berufsausübung sowie die Finanzierung der Leistungen sollten zukünftig weiterentwickelt werden. Bis dahin können Betriebe in der Experimentalphase ihre APN-Aktivitäten evaluieren (lassen), um diese nachhaltig auszurichten. Dadurch wird gewährleistet, dass die Versorgungsqualität nicht einzelnen engagierten Spitexbetrieben und klinischen Pflegeexpert_innen MSc / APN oder dem Zufall überlassen bleibt, sondern sich auf eine solide Wissensbasis stützt und damit Chancengleichheit für Klient_innen und Angehörige ermöglicht.

Ein herzlicher Dank geht an Arda Teunissen, Pflegeleitung Spitex Zürich Limmat, und die Teamkolleginnen der Fachentwicklung Chronic Care: Nicole Hollenstein, Sandra Kunkel, Azra Karabegovic und Christine Reichart.

Rachel Jenkins, RN, MScN, MPH, Spitex Zürich Limmat AG, Rotbuchstrasse 46, 8037 Zürich, Schweiz, [email protected]

Was war die größte Herausforderung bei Ihrem Praxisprojekt?

Die Projektdurchführung in einem sehr dynamischen beruflichen und betrieblichen Umfeld.

Was wünschen Sie sich bezüglich der Thematik für die Zukunft?

Eine bereichernde Zusammenarbeit unter APN Kolleg_innen verschiedener Pflegesettings, damit die Rolle an Ausstrahlungskraft und Impact gewinnt.

Was empfehlen Sie zum Weiterlesen / Vertiefen?

Tracy, M.F. & O’Grady, E.T. (eds.). (2019). Hamric and Hanson’s Advanced Practice Nursing. An Integrative Approach (6thed.). Siehe Literatur.

Literatur