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Free AccessOriginalarbeit

Die Selbstwirksamkeitserwartung von Jugendlichen mit Anorexia nervosa im poststationären Setting

Eine Querschnittstudie

Published Online:https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000922

Abstract

Zusammenfassung:Hintergrund: Die in diese Studie involvierte Population betrifft Personen mit Anorexia nervosa (AN). AN ist eine Erkrankung mit teilweise lebensbedrohlichem Untergewicht. Selbstwertproblematik, Ängste und soziale Probleme begleiten Betroffene. AN verläuft oft chronisch. Hospitalisiert nehmen die Betroffenen an Gewicht zu, oft persistiert die zugrundeliegende Essproblematik, was zur Rehospitalisation führt. Untersuchungen zur Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) Betroffener fehlen weitgehend. Ziel: Das Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung der SWE bei Betroffenen im poststationären Setting mit Bezug zum Alter, der Anzahl Hospitalisationen und des Krankheitsverlaufs. Methode: Im Rahmen dieser Querschnittstudie wurden Betroffene im poststationären, psychosomatischen Setting anhand eines standardisierten Fragebogens „Allgemeine SWE“ befragt. Die Daten wurden deskriptiv und mittels Inferenzstatistik ausgewertet. Ergebnis: Befragt wurden 85 Jugendliche. Bei der Stichprobe lag der SWE-Score bei durchschnittlich = 28.53 bis und mit drei und bei = 24.68 ab vier Hospitalisationen. Lag der stationäre Aufenthalt erst kürzlich zurück, wies der SWE-Score einen tieferen Wert auf (= 26.08) als bei jenen mit länger zurückliegendem Aufenthalt (= 29.00). Schlussfolgerung: Die Resultate weisen darauf hin, dass die SWE den Krankheitsverlauf von Betroffenen beeinflussen können. Personen mit höheren SWE-Werten zeigen einen günstigeren Krankheitsverlauf mit weniger Rehospitalisationen. Die Stärkung der SWE ist deshalb im stationären und ambulanten Setting durch gezielte Interventionen seitens Fachpersonen von großer Bedeutung.

Self-efficacy expectancy in adolescents with anorexia nervosa in the outpatient setting: A cross-sectional study

Abstract:Introduction: The population involved in this study are individuals with anorexia nervosa (AN). AN is a disease with sometimes life-threatening underweight. Self-esteem problems, anxiety and social problems accompany those affected. AN is often chronic. Hospitalized patients quickly gain weight, but often the underlying eating problem persists, which leads to rehospitalization. Studies on the self-efficacy expectation (SWE) of those affected are largely lacking. Aim: The aim of this study is to examine the SWE in those affected in the post-hospital setting with reference to the age of the affected persons, the number of hospitalizations and the course of the disease. Method: As part of this cross-sectional study, those affected were interviewed in the post-hospital, psychosomatic setting using a standardized questionnaire “General SWE”. The data were evaluated descriptively and by means of inferential statistics. Result: 85 young people were interviewed. In the sample, the SWE score averaged = 28.53 with up to and including three hospitalizations and = 24.68 with four or more hospitalizations. If the inpatient stay was only recently, the SWE score shows a lower value (= 26.08) than for those with a longer stay (= 29.00). Conclusion: The results indicate that SWE can influence the course of the disease in those affected. People with higher SWE values show a more favorable course of the disease with fewer rehospitalizations. The strengthening of the SWE is therefore of great importance in the inpatient and outpatient setting through targeted interventions by specialists.

Was ist zu dieser Thematik schon bekannt?

Anorexia nervosa belastet Betroffene und deren Umfeld sehr.

Welchen Erkenntniszugewinn leistet diese Studie?

Es gibt Hinweise auf einen potentiellen Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeitserwartung und Krankheitsverlauf von Betroffenen.

Einleitung

Die Prävalenz psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter (6 bis 17 Jahren) beträgt in der Schweiz ca. 22% (Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, 2020). Dabei liegt die Gruppe der Essstörungen mit 3% Prävalenz an sechster Stelle der Diagnosehäufigkeit. Essstörungen weisen jedoch die höchste Mortalitätsrate aller psychiatrischen Erkrankungen im Jugendalter auf. Rund 5% der Betroffenen versterben an der Erkrankung, jährlich sind das 0.56% bis 1% der Erkrankten.

Die Anorexia nervosa (AN) wird vom International Classification of Diseases (ICD-11) (World Health Organization [WHO], 2018) als eine Form von Essstörung mit selbst herbeigeführtem Gewichtsverlust (unter der 5. Altersperzentile) durch kalorienarme Ernährung, Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln sowie übertriebener körperlicher Aktivität definiert. Sie tritt gehäuft bei Mädchen und jungen Frauen auf. Schwerwiegende Krankheitsfolgen können Wachstumsstopp, Amenorrhoe, Organatrophien, Verminderung des Hirnvolumens und Osteoporose sein (Herpertz-Dahlmann et al., 2005). Des Weiteren können die Jugendlichen eine Persönlichkeitsveränderung mit ausgeprägtem Perfektionismus, depressiver Verstimmung, Körperschemastörung, schwerwiegender Selbstwertproblematik, extremer Leistungsorientierung und übermäßiger Scham aufzeigen (Fairburn et al., 2003). Die Betroffenen verlieren das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, können negative Emotionen schlechter kontrollieren und die Bewältigung schwieriger Situationen stellt für sie eine unverhältnismäßig große Herausforderung dar. Außerdem haben Betroffene Schwierigkeiten ihr Leben altersgemäß und selbständig zu gestalten (Cohrdes et al., 2019). Die Weltgesundheitsorganisation definiert das Jugendalter von 10 bis 19 Jahren, anschließend folgt die Phase des jungen Erwachsenenalters (bis 25 Jahre). Im Kontext dieser Studie, werden Jugendliche und junge Erwachsene bis 23 Jahre mit einbezogen.

Ungefähr die Hälfte der AN-Neuerkrankungen treten im Alter von 14 bis 19 Jahren auf (Keski-Rahkonen & Mustelin, 2016; Treasure et al., 2015). Die Lebenszeitprävalenz der AN liegt in der Schweiz bei 0.7% (Schnyder et al., 2012). In einer Studie von Fichter und Quadflieg (2016) war die „Standardized Mortality Rate“ (altersstandardisierte Mortalität) bei AN mit 5.35 (normal = 1.0) stark erhöht. Ein durchschnittlicher Verlauf bis zur Heilung dauert ca. sechs Jahre (Herzog et al., 1997). Trotz Heilung treten langfristig gehäuft Probleme mit der Beziehungsgestaltung und der sozialen Integration bei Betroffenen auf (Wentz et al., 2001). In einer grossangelegten Studie von Steinhausen (2002) werden 47% der Jugendlichen gesund, 33.5% erreichen eine Teilremission, bei 21% ist der Verlauf chronisch, und 5% sterben an den Folgen der AN.

Aufgrund des lebensbedrohlichen Untergewichts wird eine Hospitalisation notwendig. Im Zentrum der stationären Behandlung steht die Gewichtszunahme. Zuerst soll durch Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens ein Gewicht im untersten Normbereich erreicht werden (Herpertz et al., 2019). Anschließend werden die Kompetenzen im Umgang mit dem Essen und den körperlichen Aktivitäten priorisiert, damit das Gewicht nachhaltig stabilisiert werden kann (Leibl et al., 2018). Trotz positiver Hospitalisationsphase mit ausreichender Gewichtszunahme und anschließender ambulanter Therapie misslingt die Wiedereingliederung zu Hause häufig. Bei bis zu 30% der Jugendlichen kommt es innerhalb eines Jahres zur Rehospitalisation (Herpertz et al., 2015). Die Anzahl Hospitalisationen ist ein Zeichen für den Schweregrad der Erkrankung sowie ein Prädiktor für deren Chronifizierung. Während der Hospitalisation werden die Betroffenen im interprofessionellen Team betreut. Sie begleiten die Betroffenen in der Einhaltung der Tagesstruktur und der Essenssituation. Die Pflegenden haben dabei eine bedeutsame Rolle in der langfristigen Bewältigung der AN da sie von Beginn an die Betroffenen in Schlüsselthemen erleben und begleiten. Inwiefern Pflegende einen Einfluss auf die Selbstwirksamkeitserwartung von Betroffenen haben ist nicht beschrieben.

Legenbauer und Vocks (2014) beschreiben im poststationären Setting eine negative Symptomenspirale, die von restriktivem Essverhalten, unzureichendem Coping, dysfunktionalem Selbstbild und fehlenden Selbstmanagementfähigkeiten geprägt ist. Die Jugendlichen verlieren das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (Cohrdes et al., 2019). Dieses Gefühl des Vertrauensverlustes wird im Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) aufgenommen (Schwarzer, 1999). Selbstwirksamkeit (SW) dagegen wird als Abgrenzung zur SWE als Konstrukt beschrieben, während die SWE die dazugehörende subjektive Einschätzung der betreffenden Person beschreibt (Phänomen) (Egger, 2011). Die SWE bezeichnet die eigene Überzeugung und das Selbstvertrauen, dass schwierige Situationen aus eigener Kraft und aufgrund eigener Fähigkeiten gemeistert werden können (konstruktive Lebensbewältigung). Die SWE wird als eine „interne persönliche Ressource“ gesehen (Brinkmann, 2014). Damit unterstützen positive Erfahrungen mit der SWE die Jugendlichen beim Setzen und Erreichen von Zielen, beim Umgang mit herausfordernden Situationen sowie beim Erholen nach Rückschlägen (Müller, 2012). Demzufolge haben negative Erfahrungen einen negativen Einfluss auf das spätere Niveau der SWE (Tak et al., 2017). Depressive Symptome und negative Gefühle hemmen die SWE. Schumacher et al. (2003) weisen darauf hin, dass die Unterstützung und Förderung der SWE für den Heilungsprozess und für die Bewältigung der krankheitsbedingten Herausforderungen von zentraler Bedeutung ist. Vier Faktoren unterstützen die Entwicklung der SWE (Bandura, 1997): Persönlicher Erfolg, Modelllernen, motivationale Überzeugung und positive Unterstützung sowie die Fähigkeit, eigene Stressreaktionen wahrzunehmen und zu bewerten (Abb. 1).

Abbildung 1 Selbstwirksamkeit und deren Einflussfaktoren. Eigene Darstellung in Anlehnung an Brinkmann (2014).

Bei Jugendlichen mit AN erhöht eine tiefe SWE die Wahrscheinlichkeit, dass Essverhalten und Gewicht nicht stabilisiert werden können und sich die Krankheit chronifiziert (Pinto et al., 2008).

Ziel

Es gibt kaum Evidenz zur SWE von Jugendlichen mit einer AN. Es gibt Hinweise, dass SWE ein wichtiges Element hinsichtlich Krankheitsverlauf von AN darstellen könnte (Brinkmann, 2014; Tak et al., 2017) und aus diesem Grund von Bedeutung für die pflegerische Versorgung ist. Um dies zu erforschen, wurde im Rahmen dieser Studie bei Jugendlichen mit AN eine Untersuchung der SWE durchgeführt, mit dem Ziel Empfehlungen für die Pflegepraxis abzuleiten. Dabei wurden die SWE in Bezug zu Merkmalen der Betroffenen wie der Anzahl Hospitalisationen, aktuelles Alter der Befragten sowie zeitlicher Abstand zwischen dem letzten stationären Aufenthalt und dem Zeitpunkt der Befragung betrachtet. Diese Merkmale leiten sich aus der langjährigen klinischen Praxis und Erfahrung der Autorin selbst wie auch des interprofessionellen Behandlungsteams ab. Eine Forschungsevidenz fehlt zum heutigen Zeitpunkt dazu. Folgende Forschungsfrage war handlungsleitend:

Wie unterscheidet sich die SWE bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit AN bezüglich 1) dem aktuellen Alter, 2) der Anzahl Hospitalisationen und 3) dem zeitlichen Abstand zwischen dem letzten stationären Aufenthalt und dem Zeitpunkt der Befragung in einem Schweizer poststationären Setting?

Methode

Die Forschungsfrage wurde bei Jugendlichen mit AN anhand einer Querschnittsstudie mit einer Fragebogenerhebung eruiert.

Setting und Teilnehmende

Zur Datenerhebung wurden Jugendliche mit AN einmalig mittels Fragebogen (FB) befragt. Die Population umfasste Jugendliche, die im Zeitraum von fünf Jahren (2014 bis 2019) wegen AN hospitalisiert waren, unabhängig von der Dauer der Hospitalisation und der Art des poststationären Angebotes. Zum Zeitpunkt der Befragung waren die Teilnehmenden nicht mehr stationär. Die Stichprobe schloss alle Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr und Personen im jungen Erwachsenenalter ein, die im definierten Zeitraum mit der Hauptdiagnose Anorexia nervosa (F50.0) oder atypische Anorexia nervosa (F50.1) nach ICD-11 (WHO, 2018) im psychosomatischen Setting hospitalisiert waren, unabhängig vom aktuellen Krankheitsverlauf (gesund, in einem anderen Setting hospitalisiert, in ambulanter Begleitung, etc.) (Tab. 1). Potenzielle Teilnehmende wurden im Klinikinformationssystem identifiziert, persönlich kontaktiert und zur Teilnahme an der Befragung eingeladen.

Tabelle 1 Ein- und Ausschlusskriterien der Jugendlichen

Datenerhebung

Als Messinstrument wurde der FB „Allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung (SWE)“ von Schwarzer (1999) in einer Papierversion eingesetzt. Die deutschsprachige Version erfasst zehn Items mit einer eindimensionalen Skala. Diese Items repräsentieren das Gesamtkonstrukt der „allgemeinen SWE“ und misst diese (s. Kasten 1). Dabei geht es um die eigene Überzeugung, schwierige Situationen allein meistern zu können. Alle Fragen sind identisch gepolt und können vierstufig (stimmt nicht, stimmt kaum, stimmt eher, stimmt genau) beantwortet werden. Die interne Konsistenz des Instrumentes ist bei allen deutschen Studien als hoch bewertet worden (.80 und .90) (Schwarzer, 1999).

Kasten 1. Fragebogen zur Selbstwirksamkeitserwartung

Fragebogen zur Selbstwirksamkeitserwartung von Schwarzer (1999)

  1. 1.
    Wenn sich Widerstände auftun, finde ich Mittel und Wege, mich durchzusetzen.
  2. 2.
    Die Lösung schwieriger Probleme gelingt mir immer, wenn ich mich darum bemühe.
  3. 3.
    Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, meine Absichten und Ziele zu verwirklichen.
  4. 4.
    In unerwarteten Situationen weiß ich immer, wie ich mich verhalten soll.
  5. 5.
    Auch bei überraschenden Ereignissen glaube ich, dass ich gut mit ihnen zurechtkommen kann.
  6. 6.
    Schwierigkeiten sehe ich gelassen entgegen, weil ich meinen Fähigkeiten immer vertrauen kann.
  7. 7.
    Was auch immer passiert, ich werde schon klarkommen.
  8. 8.
    Für jedes Problem kann ich eine Lösung finden.
  9. 9.
    Wenn eine neue Sache auf mich zukommt, weiß ich, wie ich damit umgehen kann.
  10. 10.
    Wenn ein Problem auftaucht, kann ich es aus eigener Kraft meistern.

Der SWE-Score kann durch das Aufsummieren aller zehn Items zwischen 10 und 40 Punkte betragen. Die SWE-Eichstichprobe misst bei gesunden deutschen Frauen (14 bis 30 Jahre alt) eine SWE von M = 29.65 (SD = 4.89) (Schumacher et al., 2003).

Der FB umfasste weiter soziodemographische Daten (Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnsituation) und klinische Variablen (Anzahl Hospitalisationen, Anzahl teilstationäre Hospitalisationen und letzte Hospitalisation infolge AN). Unter einem teilstationären Aufenthalt wird ein tagesklinisches Setting verstanden. Dieses wird in der Erfassung der Daten als „ambulant“ erfasst. Die Angaben wurden für Subanalysen dichotom kategorisiert. Die Kategorisierung der Merkmale der Gesamtpopulation erfolgte nach den drei Personenvariablen 1) Alter, 2) Anzahl Hospitalisationen und 3) Zeitpunkt der letztmaligen Hospitalisation nach folgenden Trennwerten:

  • beim Alter der Volljährigkeit (14 bis 17 Jahre/18 bis 23 Jahre)
  • bei der Anzahl Hospitalisationen in die beiden Gruppen 1 bis 3 Hospitalisationen und mehr als 3 Hospitalisationen (bis und mit dritter/ab vierter Hospitalisation)
  • bei letzter Hospitalisation das Jahr 2017 (2014 bis 2016/ 2017 bis 2019 eingeteilt)

Die Datenerhebung erfolgte von September bis Oktober 2019. Bei Interesse der Patientin oder des Patienten und beim Vorliegen einer schriftlichen informierten Zustimmung wurde der FB versandt.

Bei den eingegangenen Fragebogen wurden jene für die Berechnung der SWE-Scores als Ganzes eingeschlossen, welche alle Items ausgefüllt haben. Jene, welche ein bis mehrere Items nicht ausgefüllt haben, wurden ausgeschlossen.

Datenanalyse

Für die statistische Auswertung wurde die Statistiksoftware SPSS © 25 verwendet. Nach Eingabe der Daten erfolgte die Überprüfung der Datenqualität auf Eingabefehler mittels einer randomisierten Auswahl von 10% der Daten (Leonhart, 2010). Es zeigten sich keine Fehler bei der Datenübertragung. Die Datenanalyse erfolgt deskriptiv und mittels Inferenzstatistik. In der Bearbeitung der Fragestellung wurde mittels Levene-Test zuerst die Voraussetzungsannahme geprüft (Varianzhomogenität), anschließend zur Analyse der Unterschiede zwischen den Kategorien (Alter, Anzahl Hospitationen und letzte Hospitalisationen) anhand des Mittelwertvergleichs eine univariate Varianzanalyse (ANOVA) durchgeführt (Polit & Beck, 2018). Wenn im Kontext der verfügbaren Daten adäquat, wurde eine bivariate Kreuztabelle mit Chi-Quadrat-Test ergänzt.

Zur einfacheren Darstellung der Merkmale der Gesamtpopulation wurden Kategorien gebildet. Die Irrtumswahrscheinlichkeit wurde für alle statistischen Tests bei p ≤ .05 festgesetzt.

Ethische Überlegungen

Diese Studie wurde gemäß den Vorgaben der Good Clinical Practice Guidelines der Expert Working Group des International Council for Harmonisation (ICH) basierend auf der Deklaration von Helsinki aufgebaut und durchgeführt (International Conference on Harmonisation [ICH], 2001) und auf der Humanforschungsverordnung (Humanforschungsverordnung [HFV], 2013) abgestützt. Die Studie wurde durch die zuständige kantonale Ethikkommission Zürich (KEK) genehmigt (BASEC-Nr. 2019-01267).

Eine Forschende ist gleichzeitig Mitarbeitende in der Pflege und hatte einige Jugendliche und junge Erwachsene während ihres stationären Aufenthalts gepflegt. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren die Betroffenen ausgetreten und es bestand kein Kontakt und keine Abhängigkeit mehr. Sie hat diese Doppelrolle in allen Kontakten mit den Jugendlichen klar und transparent kommuniziert. Es gab keine Hinweise auf eine Beeinflussung oder negative Auswirkungen, jedoch wird angenommen, dass die Rekrutierung durch die bestehenden Kontakte positiv beeinflusst werden konnte. Ein „recall bias“ (Erinnerungseffekt) ist nicht auszuschließen.

Die Studienteilnahme war freiwillig und erfolgte nach informierter Zustimmung. Die Befragung mittels Fragebogen erfolgte verschlüsselt, die ausgefüllten FB enthielten keine Angaben, die Rückschlüsse auf die Personen zuließen.

Ergebnisse

Von 2014 bis 2019 waren total 303 Patientinnen und Patienten mit einer psychosomatischen Diagnose hospitalisiert. Davon entsprachen 104 den Einschlusskriterien. Von diesen konnten 85 (82%) in die Studie eingeschlossen werden. Bei 77 (90.5%) der 85 Jugendlichen wurde eine AN, bei 8 (9.4%) eine atypische AN diagnostiziert. 81 Jugendliche (95.2%) waren weiblich. 60 (70.6%) der Jugendlichen waren zwischen 18 und 23 Jahre alt. 30% besuchten ein Gymnasium. Der Großteil der Betroffenen lebte bei den Eltern (71.8%), und acht Jugendliche (9.4%) lebten allein (Tab. 2).

Tabelle 2 Gesamtübersicht der soziodemographischen und klinischen Daten der Jugendlichen

Die Selbstwirksamkeitserwartung der Jugendlichen mit AN

Da alle Fragebogen mit einem oder mehreren Item-Missings ausgeschlossen wurden, konnten von den 85 Fragebogen 74 in die Auswertung der SWE-Scores miteingeschlossen werden.

Der Gesamtscore wurde mittels Gruppentest bezogen auf das Alter, die Anzahl Hospitationen und den Zeitpunkt der letzten Hospitalisation auf Unterschiede untersucht (Tab. 3). Der Mittelwert für die SWE-Scores über die gesamte Stichprobe beträgt = 27.54 (SD = 5.73).

Tabelle 3 Studienvariablen SWE

Die SWE unterscheidet sich bezogen auf das Alter (14 bis 17 Jahre und 18 bis 23 Jahre) nicht signifikant. Der Median der jüngeren Gruppe liegt bei m = 28.50 und der Mittelwert bei = 26.14 mit einer Spannweite von min. 13 bis max. 36. Für die ältere Alterskategorie ist der Median tiefer und der Mittelwert höher (m = 28.00, = 28.13) und die Spannweite kleiner (min. 17 bis max. 28). Basierend auf dem Median sind die Varianzen hinsichtlich der zentralen Tendenzen homogen und unterscheiden sich nicht signifikant (F (1, 30.59) = 1.460, p = .236).

Die Jugendlichen mit bis zu drei Hospitalisationen weisen einen höheren SWE-Score ( = 28.53) auf als die Jugendlichen mit mehr als drei Hospitalisationen ( = 24.68). Der Zusammenhang zwischen SWE-Score und Anzahl Hospitalisationen weist hinsichtlich der zentralen Tendenzen einen signifikanten Unterschied auf (F (1) = 6.85, p = .011). Die bivariate Betrachtung bestätigt diesen Zusammenhang (χ2(1) = 5.874, p = .015, n = 74).

35 (63.6%) der insgesamt 55 Jugendlichen mit bis zu drei Hospitalisationen weisen einen höheren SWE-Score und 13 (68.4%) der insgesamt 19 Jugendlichen mit mehr als drei Hospitalisationen dagegen einen tieferen SWE-Score auf.

Die SWE-Scores von Jugendlichen, welche erst kürzlich ausgetreten waren, unterscheiden sich signifikant von den Jugendlichen, deren letzte Hospitalisation weiter zurückliegt (F (1) = 5.06, p = .028). Die Jugendlichen mit grossem zeitlichem Abstand zur letzten Hospitalisation weisen deutlich höhere SWE-Scores auf.

Diskussion

Ziel dieser Studie war die SWE von Jugendlichen mit AN zu untersuchen. Dabei wurden Kategorien mit Bezug zu aktuellem Alter, Anzahl Hospitalisationen sowie zeitlichem Abstand zwischen dem letzten stationären Aufenthalt und dem Zeitpunkt der Befragung gebildet. Die befragten Jugendlichen waren zwischen 2014 und 2019 wegen ihrer Erkrankung hospitalisiert. Die Daten zur SWE bei Betroffenen stellen eine Grundlage dar, damit nachhaltige Interventionen und Angebote erarbeitet werden können, um die Jugendlichen mit AN gezielt begleiten zu können.

Selbstwirksamkeitserwartung als verlaufsbestimmender Faktor

Bemerkenswert ist, dass die Jugendlichen, die in der vorliegen Studie untersucht wurden, trotz ihrer Krankheit und wesentlich tieferem Durchschnittsalter, ähnlich hohe SWE-Scores aufweisen wie die gesunden jungen Erwachsenen der Eichstichprobe (Schumacher et al., 2003). Diese Resultate können darauf hinweisen, dass schon jüngere Jugendliche trotz AN in der Lage sind, SWE-Kompetenzen aufzubauen. Bei den Jugendlichen mit mehr als drei Hospitalisationen wurden allerdings tiefere SWE-Scores gemessen als bei Jugendlichen mit weniger Hospitalisationen. Dabei bleibt die Frage offen, ob ein tieferer SWE-Score ein Risiko für häufigere Hospitalisationen ist, oder ob mehrere Hospitalisationen zu einem tieferen SWE-Score führen. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass bei chronischen Verläufen mit wiederholten Hospitalisationen dies zu Enttäuschungen und Versagensgefühl führen kann.

Werden nun noch die SWE-Scores in Abhängigkeit vom zeitlichen Abstand zwischen dem letzten stationären Aufenthalt und dem Zeitpunkt der Befragung bestimmt, zeigt sich eine klare Divergenz. Die Jugendlichen, bei denen der letzte stationäre Aufenthalt länger zurück liegt, weisen einen deutlich höheren Score auf als diejenigen, die erst vor kurzem hospitalisiert waren. Damit wird nochmals auf die Tendenz hingewiesen, dass eine Chronifizierung mit wiederholten Hospitalisationen zu einer Verminderung des Selbstvertrauens und damit auch des SWE-Scores führen kann. Tak et al. (2017) folgern, dass depressive Symptome in der Adoleszenz das spätere Niveau der SWE voraussagen. Auch Cohrdes et al. (2019) bestätigen, dass ein geringes Selbstvertrauen und das Gefühl, von negativen Emotionen überwältigt zu werden, zur Aufrechterhaltung der anorektischen Erkrankung führen. Diese negative Symptomspirale kann, einmal in Gang gekommen, zu schnellerem Gewichtsverlust und zu einer Zunahme des Risikos für eine weitere Hospitalisation führen (Carrot et al., 2017). Inwieweit die Variablen Alter, Anzahl Hospitalisationen und Zeitpunkt der Befragung miteinander korrelieren lässt sich nicht abschließend feststellen. Um diese Frage zu beantworten, sind weitere statistische Modelle notwendig, die mit der vorliegenden Datenbasis nicht möglich waren. Es ist allerdings so, dass auch jüngere Betroffene teilweise mehrmalige Hospitalisationen erlebt haben und daher nicht von einer generellen Korrelation ausgegangen werden kann.

Die vier Faktoren (persönliche Erfolgserfahrung, stellvertretende Erfahrung, motivationale Überzeugung und Ermunterung sowie positive Unterstützung und Bewertung von eigenen Stressreaktionen) (Abb. 1) unterstützen die Entwicklung der SWE. Bandura (1997) beschreibt, dass die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit wichtigster Faktor der Beeinflussung der SWE ist. Je höher die SWE ist, desto grösser sind Erwartungen und desto höher sind gesteckte Ziele. Rückfälle und Rehospitalisation werden als Niederlage gewertet und vermindern das Vertrauen in die eigene Wirksamkeit und damit die SWE. Das Modelllernen stellt Bandura (1997) als zweitwichtigsten Faktor dar. Dabei geht es um die Beobachtung, wie eine Person, mit der sich der oder die Beobachtende identifizieren kann, eine problematische Situation erfolgreich bewältigt. Gemäß Bandura (1997) bilden positive Bestätigungen und motivierender Zuspruch einen weiteren wichtigen Faktor für die Entwicklung der SWE. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Gespräche mit dem Behandlungsteam, die Einbindung in den eigenen Therapieprozess und das Setzen von realistischen Zielen. Dabei wird immer auf Stärkung der Eigenverantwortung bei Ernährung, Umgang mit Bewegung und sozialer Integration hingearbeitet. Für Bandura (1997) stellt die Fähigkeit zur Erkennung und Bewertung eigener emotionaler und körperlicher Stressreaktionen ein wichtiges Instrument zur Bewältigung von krankheitsbedingten Problemen dar. Werden körperliche und emotionale Reaktionen wie Herzrasen, Schwitzen, Trauer, Angst, etc. rechtzeitig erkannt und richtig eingeschätzt, können eigene Ressourcen richtig beurteilt und der Energieeinsatz richtig dosiert werden. Da die AN immer auch mit einer Körperwahrnehmungsstörung (Verfälschung und Ausblendung) einhergeht, benötigen die kranken Jugendlichen dabei viel Unterstützung und Anleitung.

Auch die Ergebnisse dieser Studie weisen darauf hin, dass die Stärkung der SWE ein wichtiger Ansatz für die Unterstützung des Genesungsprozesses bei Jugendlichen mit AN sein kann.

Dies sollte in Therapie und Behandlung durch Fachpersonen gezielt mitberücksichtigt und gestärkt werden. So befürworten beispielsweise Lorig et al. (2015) ein therapeutisches Vorgehen, welches das Selbstmanagement fördert. Rosenbach und Ewers (2013) weisen ganz allgemein auf die positiven Effekte der Förderung der Selbstmanagementkompetenzen bei psychischen Erkrankungen hin.

Am nachhaltigsten verläuft die poststationäre Reintegration, wenn eine gezielte, kontinuierliche, professionelle Beratung, Begleitung und Wissensvermittlung durch eine pflegerische Fachperson erfolgt (McCormack & McCann, 2015). Hier wäre der Einsatz einer Pflegeexpertin (Advanced Practice Nurse [APN]) eine prüfenswerte Intervention. Sie kann durch ihre erweiterten und vertieften Kompetenzen die Jugendlichen mit AN und deren Familien nach stationärem Aufenthalt während der ambulanten Therapiephase gezielt und nachhaltig als Teil des interprofessionellen Teams beraten und unterstützen. Der „International Council of Nurses“ definiert die APN als Pflegeexpertin mit Expertenwissen, klinischer Kompetenz und mit Fähigkeiten zur Entscheidungsfindung.

Limitationen

Die Limitationen dieser Studie beziehen sich auf einen möglichen „selection-“ und einen „recall bias“. Das Setting der Teilnehmenden bezog sich auf den psychosomatischen Bereich mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus eher gut gebildeten schweizerischen Verhältnissen. Die Forschende fungierte in einer Doppelrolle als zum einen Forschende und zum anderen im psychosomatischen Bereich tätige Fachperson und muss wegen der möglichen Nähe zu den Teilnehmenden kritisch betrachtet werden. Es bestand zum Zeitpunkt der Erhebung kein Abhängigkeitsverhältnis.

Ein weiterer möglicher Bias besteht in der Anlage der Studie. Es ist davon auszugehen, dass Jugendliche mit einer a priori größeren SWE weniger häufig hospitalisiert werden als Jugendliche mit einer niedrigen SWE. Zudem konnten aufgrund des Querschnittsdesigns keine kausalen Zusammenhänge bestätigt werden. Ob und wie die Variablen Alter, Anzahl Hospitalisationen und Zeitpunkt der Befragung miteinander korrelieren, konnte mit dem gewählten Design und mit den vorliegenden Daten statistisch nicht untersucht werden. Das dazu gewählte Design lässt hierzu keine Verifizierung resp. Falsifizierung zu. Dies sollte in weiteren Studien berücksichtigt werden.

Implikationen für Forschung- und klinische Tätigkeit

Implikationen für die Forschung sind die Durchführung von Studien zur SWE bei anderen psychosomatischen Krankheitsbildern im Jugendalter, die Erfassung der SWE über einen längeren zeitlichen Verlauf hinweg sowie die Untersuchung zusätzlicher Einflussfaktoren auf die Erkrankung. Ein weiterer Punkt, der näher untersucht werden könnte, ist dabei der Zeitpunkt des Beginns der Pubertät und der Einfluss dieser Phase auf die SWE. Damit können Ergebnisse verglichen und entsprechende Angebote für diese Gruppe Betroffener weiterentwickeltet werden. Das Differenzieren der Depression versus SWE, insbesondere in der Phase der Pubertät ist ein weiterer wichtiger Aspekt, der in zukünftiger Forschung von Interesse ist.

Gerade die Entwicklung „neuer“ klinischer Rollenmodelle wie von Advanced Practice Nurses könnte für eine nachhaltige und gezielte Begleitung insbesondere der Transition zwischen stationärem und poststationärem Aufenthalt von großer Wichtigkeit sein. Aber auch in der Transition der wichtigen Lebensphase der Pubertät ist dies ein bedeutsames Angebot für betroffene Jugendliche und ihre Familien.

Schlussfolgerungen

Die Anorexia nervosa, eine schwerwiegende, oft chronisch verlaufende Erkrankung im Jugendalter, belastet nicht nur die persönliche psychische und körperliche Entwicklung der Jugendlichen, sondern ist auch gesellschaftlich und wirtschaftlich von großer Bedeutung. In dieser Arbeit wurde die Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) in Bezug zur AN, in einem psychosomatischen Kontext und in dieser Altersstufe erfasst und ihre zentrale Rolle im Krankheitsverlauf dargestellt. Das Vertrauen in die persönliche Wirksamkeit bei der Bewältigung von Problemsituationen, das sich in Form der Selbstwirksamkeitserwartung messen lässt, ist ein wichtiger Einflussfaktor auf den Krankheitsverlauf bei AN. Aufbau und Förderung der SWE kann während der stationären und poststationären Behandlung durch die jeweiligen Behandlungsteams erfolgen. Die Studie gibt Hinweise, dass die SWE von Betroffenen ein wichtiger Faktor darstellen kann, mit welchem der Krankheitsverlauf beeinflusst werden könnte. In der untersuchten Population nahm die SWE mit zunehmendem Abstand zur letzten Hospitalisation zu und verminderte sich mit steigender Anzahl Hospitalisationen.

Stefanie Sonderegger bedankt sich herzlich bei allen Jugendlichen für die Teilnahme, für ihre Zeit und für die vielen Rückmeldungen. Ohne sie wäre das Schreiben dieses Artikels nicht möglich gewesen. Der Dank gilt zudem dem Kinderspital Zürich für die Möglichkeit zur Teilnahme an der „Intensiv-Schreibwerkstatt“ unter der Leitung von Anna-Barbara Schlüer. Weiter dankt Stefanie Sonderegger Gabi Boegli, die ihre Laufbahn gezielt fördert.

Literatur