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Free AccessEditorial

Einzug der Computerspielstörung als Verhaltenssucht in die ICD-11

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000837

Abstract

Zusammenfassung. Durch die Aufnahme der neuen Kategorie „Störungen durch süchtiges Verhalten“ in der ICD-11 wurde durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell anerkannt, dass belohnende Verhaltensweisen, analog zu psychotropen Substanzen, abhängig machen können. Neben der bereits in der ICD-10 gelisteten Glücksspielstörung wurde die Computerspielstörung als neue Diagnose in diese Kategorie aufgenommen. Das Erscheinungsbild ist charakterisiert durch Kontrollverlust, Priorisierung des Gamings vor anderen Aktivitäten, Fortsetzen des Gamings trotz negativer Konsequenzen sowie der Bedingung, dass durch die Symptomatik ein signifikanter Leidensdruck verursacht wird. Störungstypische Pathomechanismen umfassen konsumabhängige Faktoren, entwicklungsabhängige Faktoren, Veränderungen in der Belohnungssensitivität und -verarbeitung sowie verzerrte Belohnungserwartungen (Kognitionen). Die psychotherapeutische Versorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit diesem Störungsbild, die mittlerweile einen substanziellen Anteil der ambulanten Versorgung ausmachen, ist herausfordernd. Neben der Entwicklung von validen Diagnostiktools und wirksamen Therapiemethoden besteht hoher Weiterbildungsbedarf für Behandelnde in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie zu diesem neuen Störungsbild.

Inclusion of gaming disorder as a behavioral addiction in ICD-11

Abstract. With the inclusion of the new category “disorders due to addictive behaviors” in ICD-11, it has been officially recognized by the WHO that highly rewarding behaviors, analogous to psychotropic substances, can become addictive. In addition to gambling disorder, which was already listed in ICD-10, computer gaming disorder was added as a new diagnosis in this category. The phenotype is characterized by loss of control, priority of gaming over other activities, continuation of gaming despite negative consequences, and the condition of significant impairment caused by the symptomatology. Disorder-typical pathomechanisms include consumption-dependent factors, developmental factors, changes in reward sensitivity and processing, and biased reward expectations (cognitions). Psychotherapeutic care for children, adolescents, and young adults with this disorder, who now comprise a substantial proportion of outpatient care, is challenging. In addition to the development of valid diagnostic tools and effective intervention methods, there is a great need for further training in child and adolescent psychiatry and psychotherapy on this new disorder.

Dass nicht nur psychoaktive Substanzen abhängig machen können, sondern auch spezifische belohnende, repetitive Verhaltensweisen, wurde durch die Einführung der neuen Kategorie „Störungen durch süchtiges Verhalten“ in der ICD-11 offiziell von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannt (World Health Organization, 2018). Verhaltenssüchte werden hier als ernstzunehmende, klinisch bedeutsame Syndrome beschrieben, die mit Leidensdruck oder Beeinträchtigung persönlicher Funktionen verbunden sind und sich als Folge von repetitiven, belohnenden Verhaltensweisen entwickeln, bei denen es sich nicht um den Gebrauch von abhängigkeitserzeugenden Substanzen handelt (Arnaud & Thomasius, 2020; World Health Organization, 2018).

Damit endet eine lange Kontroverse (Aarseth et al., 2017), die sich insbesondere zwischen klinisch arbeitenden und nichtklinischen Wissenschaftler*innen austrug. Während nichtklinische Fachgruppen die Pathologisierung des täglichen Lebens durch die Aufnahme von Verhaltenssüchten als Diagnose befürchteten, z. B. eine Stigmatisierung (James & Tunney, 2017) gesunder Menschen (Gamer) aufgrund der intensiven Ausübung ihres Hobbies (E-Sports), argumentierten klinisch arbeitende Fachgruppen mit einer einschlägigen Evidenzlage bezüglich des klinischen Krankheitswerts, des massiven Leidensdrucks, der psychischen, sozialen, akademischen und ökonomischen Folgeschäden (Griffiths, Kuss, Lopez-Fernandez & Pontes, 2017; Király & Demetrovics, 2017) sowie der neurobiologischen Ähnlichkeit der Pathomechanismen zu substanzgebundenen Suchterkrankungen (Brand et al., 2019; Kuss & Griffiths, 2012; Weinstein & Lejoyeux, 2015).

Mit Einführung der ICD-11 wird den Verhaltenssüchten erstmalig eine eigene Kategorie zugesprochen, die gemeinsam mit den substanzgebundenen Störungen in der übergeordneten Rubrik „Störungen aufgrund von Substanzgebrauch oder süchtigen Verhaltens“ der psychischen, Verhaltens- und neurologischen Entwicklungsstörungen der ICD-11 zusammengefasst werden. Die Computerspielstörung fand als neue Diagnose neben der bereits bekannten Glücksspielstörung Einzug in die Verhaltenssuchtkategorie. Andere Mediennutzungsstörungen, wie beispielsweise der suchtartige Gebrauch des Internets im Allgemeinen, sozialer Netzwerke, Onlinepornografie oder Onlineshopping können unter der nicht näher bezeichneten oder sonstigen Kategorie klassifiziert werden. Neu ist also die Anerkennung, dass menschliches Verhalten ohne das Zuführen psychotroper Substanzen dieselben neurobiologischen Effekte und Suchtmechanismen erzeugen kann.

Erscheinungsbild

Eine Computerspielstörung zeichnet sich gemäß DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; American Psychiatric Association, 2013) dadurch aus, dass Betroffene dem unwiderstehlichen Verlangen (Kriterium: Craving) nach intensiver Videospielnutzung nicht widerstehen können. Sie verlieren die Kontrolle über Frequenz, Dauer und Setting, in denen der suchtartige Medienkonsum deutlich wird (Kriterium: Kontrollverlust), und priorisieren den Medienkonsum vor anderen Alltagspflichten (Kriterium: Vernachlässigung anderer Aktivitäten). Negative Folgen werden typischerweise bagatellisiert oder verleugnet (Kriterium: Lügen/Täuschen/Verheimlichen). Obwohl in fortgeschrittenen Krankheitsstadien die Erkenntnis zunimmt, dass der Konsum ihnen schadet, wird er fortgesetzt (Kriterium: Fortsetzen trotz negativer Konsequenzen). In späteren Krankheitsstadien sind die negativen Konsequenzen so gravierend, dass das süchtige Verhalten überwiegend der emotionalen Schadensbegrenzung und Kompensation (Kriterium: Emotionsregulation) dient, während das ehemals starke Gratifikationserleben abflacht (Kriterium: Toleranzentwicklung). Als einzig verbleibende Gratifikationsquelle kreist der gesamte Alltag um den Medienkonsum (Kriterium: Vereinnahmung), der nicht mehr beendet werden kann, ohne dass die Gefahr droht, eine emotionale Krise durch einen völligen Verstärkerverlust zu erleben (Kriterium: Entzugserscheinungen). Nach ICD-11 (World Health Organization, 2018) wird die Computerspielstörung (Gaming Disorder) anhand von drei breiter gefassten Diagnosekriterien zusammengefasst (Kontrollverlust, Priorisierung und Fortsetzen trotz negativer Konsequenzen) sowie der Bedingung, dass durch die Symptomatik ein signifikanter Leidensdruck verursacht wird. Dadurch hat die Computerspielstörung starke Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen (Wartberg, Bröning & Lindenberg, 2022).

Pathomechanismen der Gaming Disorder

Das Spielen von Videospielen wird als höchst unmittelbar belohnend bewertet (Thalemann, Wölfling & Grüsser, 2007; Wölfling, Jo, Bengesser, Beutel & Müller, 2013), ist universell verbreitet und sehr leicht und kostengünstig erreichbar. Gaming ist neben Sport das häufigste Hobby unter Kindern und Jugendlichen: 69 % der 10- bis 11-jährigen Kinder spielen mehrmals wöchentlich oder täglich Videospiele (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2018). Gaming ist hoch mit Emotionsregulation assoziiert und dadurch kurzfristig höchst funktional (Kökönyei et al., 2019; Lindenberg, Kindt & Szász-Janocha, 2020). Der Pathomechanismus einer Verhaltenssuchtentstehung ist durch operantes Lernen erklärbar (Brand et al., 2019; Wölfling et al., 2013): Lebewesen wiederholen Verhaltensweisen, die verstärkend wirken. Neben direkten Verstärkungsmechanismen (Gaming als Gratifikationsstrategie zur Induktion positiver emotionaler Zustände) nehmen mit fortschreitender Pathologie auch indirekte Verstärkungsmechanismen zu (Gaming als Kompensationsstrategie zur Reduktion aversiver emotionaler Zustände).

Konsumabhängige Faktoren

Durch exzessives Videospielen sind strukturelle neuronale Veränderungen nachweisbar, die auch das Belohnungssystem betreffen (Gleich, Lorenz, Gallinat & Kühn, 2017; Kühn, Gleich, Lorenz, Lindenberger & Gallinat, 2014; Lorenz, Gleich, Gallinat & Kühn, 2015; Zheng et al., 2019). Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der enormen Zeit, die Kinder täglich mit Gaming verbringen, relevant. Während der Covid-19-Pandemie ist die Zeit, die Jugendliche mit Gaming verbringen, um 75 % unter der Woche und 29.3 % am Wochenende angestiegen (Thomasius, 2020). Vor der Pandemie lag die Prävalenz der Computerspielstörung unter 12- bis 18-jährigen deutschen Jugendlichen zwischen 1.2 und 3.5 % (Rehbein, Kliem, Baier, Mößle & Petry, 2015; Wartberg, Kriston & Thomasius, 2020). Ob neben der Nutzung auch die Prävalenz der Computerspielstörung durch die COVID-19-Pandemie angestiegen ist, wird aktuell noch im Rahmen der Längsschnittstudie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) untersucht. Ätiologisch relevant für eine Suchterkrankung ist dabei weniger die Zeit an sich, die mit Gaming verbracht wird, als vielmehr spezifische abhängigkeitserzeugende Mechanismen, die gezielt von Spieleentwicklern eingesetzt werden, um die Spieldauer sowie die Bereitschaft für monetäres Investment zu erhöhen (beispielsweise durch Mikrotransaktionen, um Boni zu erwerben). Zu diesen abhängigkeitserzeugenden Mechanismen zählen beispielsweise intermittierende Verstärkungsmechanismen, nichtlineare Spielefortschritte, Echtzeit-Spiele, Multi-Player-Onlinerollenspiele sowie Zufalls-/Glücksspielfacetten (Wölfling et al., 2013).

Entwicklungsabhängige Faktoren

Angenommen wird weiterhin, dass exzessive Mediennutzung die Belohnungssensitivität und Belohnungserwartung erhöht sowie die Aufrechterhaltung des Belohnungserlebens reduziert (Wölfling et al., 2013; Zheng et al., 2019). Über den Einfluss des Ersterkrankungsalters auf den Krankheitsverlauf wissen wir nur wenig. Zu vermuten ist, dass strukturelle neuronale Veränderungen des Belohnungssystems insbesondere in jungen Lebensjahren große Risiken bergen. Einerseits, weil junge Gehirne vermutlich weniger robust gegen diese Dauerstimulation des Belohnungssystems sind, und andererseits, weil der zunehmenden Belohnungssensitivität ein noch nicht ausgereiftes System an kognitiver Verhaltenskontrolle gegenübersteht. Exekutive Funktionen, die zur Verhaltenskontrolle benötigt werden, sind stark entwicklungsabhängig (Sabbagh, Xu, Carlson, Moses & Lee, 2006) bei großen interindividuellen Differenzen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund relevant, das exzessives Gaming bereits in deutlich jüngeren Altersgruppen stattfindet als der Konsum anderer, abhängigkeitserzeugender Substanzen.

Differenzielle Belohnungssensitivität

Nicht nur konsum- und entwicklungsabhängige, sondern auch a priori bestehende interindividuelle Unterschiede in Belohnungssensitivität und kognitiver Verhaltenskontrolle werden im Zusammenhang mit differenziellen Erkrankungsrisiken für die Computerspielstörung diskutiert (Brand et al., 2019; Li et al., 2020). Neben dem starken Zusammenhang mit Impulsivität (Kattein et al., 2022) scheint insbesondere die veränderte Belohnungsverarbeitung eine wesentliche Rolle zu spielen (Raiha et al., 2020). Abnorme Belohnungsverarbeitungsmechanismen im Zusammenhang mit psychischen Störungen wurden in den letzten Jahren intensiv beforscht und insbesondere auch bei Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Depressionen und Angststörungen gefunden (Bar-Haim et al., 2009; Franke et al., 2018; Guyer et al., 2012; Naranjo, Tremblay & Busto, 2001; Novak, Novak, Lynam & Foti, 2016; Plichta & Scheres, 2014), den häufigsten Komorbiditäten der Gaming Disorder (Ho et al., 2014; Lindenberg, Szász-Janocha, Schoenmaekers, Wehrmann & Vonderlin, 2017; Wartberg, Kriston & Thomasius, 2017). Die veränderte Belohnungsverarbeitung scheint eine transdiagnostische Gemeinsamkeit zu sein, die mit dem Risiko einer Suchtentstehung zusammenhängt. Auch wenn die Mechanismen noch nicht im Detail bekannt sind, scheint es so zu sein, als habe Gaming für diese Gruppen einen besonders hohen Belohnungswert, vermutlich auch in Relation zu anderen, weniger unmittelbar belohnend wirkenden Stimuli oder Aktivitäten.

Verzerrte Kognitionen

Bei den Betroffenen sind darüber hinaus die Kognitionen, insbesondere die Belohnungserwartungen verzerrt, die wiederum ihre Entscheidungsfindung beeinflussen (Brand et al., 2019). Es wird angenommen, dass sie den belohnenden Effekt des Medienkonsums in Relation zu anderen Stimuli und Aktivitäten überschätzen. Gleichzeitig ist es ein störungsinhärentes Kernsymptom, dass Patientinnen und Patienten mit einem schädlichen Gebrauch von Computerspielen dessen negative Konsequenzen bagatellisieren und gleichzeitig das Ausmaß ihres Konsums leugnen oder verheimlichen (American Psychiatric Association, 2013). Die Bagatellisierung negativer Konsequenzen ist durch kognitiv-dissonanztheoretische Konzepte (Festinger, 2001) erklärbar, wonach miteinander in Widerspruch stehende Kognitionen (hier: Wahrnehmung negativer Konsequenzen) und Handlungen (hier: Gaming) zu unangenehmen Spannungszuständen führen, die aufgelöst werden, indem sich eines der Konzepte anpasst. Der Mechanismus ist vermutlich probabilistisch, sodass sich mit höherer Wahrscheinlichkeit das weniger dominante Konzept anpasst (hier: Bagatellisierung negativer Konsequenzen). Die Imbalance aus überhöhter Belohnungserwartung und Bagatellisierung negativer Konsequenzen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidungsfindung deutlich häufiger für den exzessiven Konsum ausfällt. Dieser Mechanismus kann auch umgekehrt und therapeutisch genutzt werden. In einem primärpräventiven Ansatz bei 9- bis 11-jährigen Kindern wurde Dissonanzinduktion gezielt eingesetzt, um Einstellungs- und Verhaltensänderung zu bewirken (Lindenberg & Hofmann, 2022).

Herausforderungen für die kinder- und jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Versorgung

Ein substanzieller Anteil der Patientinnen und Patienten in der kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutische Versorgung, insbesondere Jungen und junge Männer, sind aktuell von einer Computerspielstörung betroffen. Bei einer Vollerhebung in einer großen Institutsambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie lag die Prävalenz (mindestens fünf von neun erfüllten DSM-5 Kriterien, Elternurteil) bei 4.1 % der unter 11-Jährigen und 14 % der 11- bis 18-Jährigen (Kewitz, Vonderlin, Wartberg & Lindenberg, 2021). Erste Therapie- und Frühinterventionsstudien zeigen auch vielversprechende Ergebnisse bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die Anwendung suchtspezifischer Therapiemethoden wie Stimuluskontrolle, Abstinenz, Harm Reduction, Aktivitätsaufbau, Verhaltenssubstitution, Verhaltensmodifikation, Exposition mit Reaktionsverhinderung und Emotionsregulation (Szász-Janocha, Vonderlin & Lindenberg, 2019, 2020; Wartberg, Thomsen, Moll & Thomasius, 2014; Wölfling et al., 2019). Neben indexpatientenzentrierten Ansätzen steigt die Evidenz für die Wirksamkeit von bezugspersonenzentrierten Ansätzen, insbesondere in Bezug auf die Lebensqualität, innerfamiliäre Konflikte und das psychosoziale Funktionsniveau (Brandhorst, Renner & Barth, 2022).

Über die dringend erforderliche Entwicklung von neuen Behandlungsmethoden hinaus stellen uns die neuen Süchte insbesondere vor diagnostische Herausforderungen aufgrund der störungsinhärenten Bagatellisierungs- und Verheimlichungstendenzen. Bei betroffenen Kindern und Jugendlichen, die in der Regel nicht selbstmotiviert eine Therapie aufsuchen, ist das Täuschen anderer über das tatsächliche Ausmaß des Konsums stark ausgeprägt. Im testdiagnostischen Selbsturteil im klinischen Setting wird zu Therapiebeginn typischerweise eine relativ niedrige Symptombelastung berichtet, die in den ersten Therapiestunden ansteigt (Szász-Janocha et al., 2019, 2020). In großer Diskrepanz dazu wird im Elternurteil zeitgleich eine um ein Vielfaches höhere Symptombelastung angegeben. Diese Diskrepanz verringert sich nach den ersten Therapiestunden (Annäherung der Beurteiler-Übereinstimmung durch Reduktion im Elternurteil und Anstieg im Selbsturteil). Im Gegensatz zu klinischen Stichproben ist diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdurteil in gesunden Bevölkerungsstichproben nicht zu finden (Rehbein et al., 2015). Die Diskrepanz scheint also spezifisch mit einer höheren Symptombelastung zusammenzuhängen und Ausdruck der typischen Täuschungs- und Bagatellisierungstendenzen der Betroffenen zu sein. Bei Kindern und Jugendlichen sind wir deshalb stark auf das Fremdurteil, idealerweise von multiplen Beurteilern angewiesen. Sinnvoll wäre darüber hinaus, neben den Diagnosekriterien in Selbst- und Fremdurteil auch die Bagatellisierungstendenzen im diagnostischen Prozess mit zu erheben (Lindenberg & Hofmann, 2022).

Aufgrund des jungen Störungsbildes sind viele Behandelnde noch nicht vollumfänglich über das Störungsbild und dessen Diagnostik informiert, die Vergabe der ICD-10-Hilfsdiagnose (F63.8) für die Computerspielstörung ist nicht allen bekannt, diagnostische Interviews existieren bisher nur in Forschungsgruppen und störungsspezifische Instrumente haben häufig noch keinen Eingang in die Standard-Testdiagnostik gefunden. Symptome werden selten spontan von den Betroffenen berichtet und Behandelnde sind noch nicht systematisch darauf eingestellt, gezielt danach zu fragen. Aktuell wird in den meisten Fällen die Diagnose noch übersehen. In der oben erwähnten Vollerhebung zur Prävalenzschätzung in der ambulanten therapeutischen Versorgung (Kewitz, Vonderlin & Lindenberg, submitted) wurde tatsächlich bei 80 bis 100 % der Betroffenen die Computerspielstörung bei der Diagnosestellung nicht berücksichtigt. Obwohl laut Elternurteil das Vollbild einer Computerspielstörung vorlag, wurde die empfohlene ICD-10-Hilfsdiagnose F63.8 bei 0 % der Betroffenen in der Kinderstichprobe und bei 20 % der Betroffenen in der Jugendstichprobe vergeben. Die Betroffenen befanden sich stattdessen (in absteigender Häufigkeit) aufgrund der komorbiden Diagnosen ADHS, Angststörungen, Störungen des Sozialverhaltens oder depressiven Störungen in Behandlung. Der überwiegende Teil dieser Kinder und Jugendlichen hatte also keine Chance auf eine spezialisierte Suchtbehandlung bzw. Kombinationsbehandlung, weil die Computerspielstörung in den meisten Fällen hinter den komorbiden Diagnosen nicht erkannt wurde. Ein umfassender Überblick über medienbezogene Störungen und deren Behandlung findet sich in einem Evidenzpapier der Suchtkommission (Paschke et al., 2020).

Ausblick: Digitale Gesundheitsanwendungen zur Behandlung der Computerspielstörung?

Die junge Zielgruppe, die von diesen neuen Süchten betroffen ist, erfordert neue, innovative Methoden zur Förderung der Therapiemotivation und Behandlung. In der Therapie von ADHS wurde im letzten Jahr von der Food and Drug Administration (FDA) die erste digitale Gesundheitsanwendung zugelassen, die zwei experimentell-neuropsychologische Paradigmen (eine visuelle Diskriminationsaufgabe und eine motorische Navigationsaufgabe) in einer videospielähnlichen Oberfläche verpackt, die nachweislich Aufmerksamkeit und kognitive Kontrolle steigern konnte (Kollins et al., 2020). Analog wäre es für die Computerspielstörung theoretisch möglich, ein digitales Therapeutikum (Gesundheitsanwendung) zu designen, dass durch eine videospielähnliche Oberfläche attraktiv für die Zielgruppe wäre und gezielt zur Veränderung kognitiver Dysfunktionen im Zusammenhang mit der Sucherkrankung entwickelt würde. Typische abhängigkeitserzeugende Mechanismen, die bei kommerziellen Games zu finden sind (intermittierende Verstärkung, nichtlineare Fortschritte, Glücksspielaspekte, Echtzeit), müssten explizit vermieden werden. Infrage kämen einige experimentell neuropsychologische Paradigmen zur Aufmerksamkeitskontrolle (go/no-go), zur Einstellungsänderung (Approach/Avoidance) oder Neurofeedback. Im Sinne einer „Blended Therapy“ wäre zu untersuchen, ob dadurch beispielsweise die Therapiebereitschaft gesteigert, der Zugang in die Regelversorgung erleichtert oder auch die Behandlungsmotivation therapiebegleitend unterstützt werden könnte. Vielleicht wäre dies eine Chance, die extreme Anziehungskraft des neuen Suchtmittels „digitale Spiele“ zu nutzen, um innovative Behandlungsformen (digitale Gesundheitsanwendungen) als Ergänzung zu bisherigen Suchttherapiemethoden zu entwickeln.

Fazit

Neben der wissenschaftlichen Erforschung und Erarbeitung von klinischen Leitlinien ist also auch in Hinblick auf die Wissenschaftskommunikation, insbesondere für Behandelnde in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, noch viel zu tun. Eine von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) herausgegebene Leitlinie zur Behandlung von Internetnutzungsstörungen durch süchtiges Verhalten, die gezielt auch Bezug auf die Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Computerspielstörung nimmt, ist aktuell in Arbeit (AWMF: 076-011) und ein wichtiger Schritt, um diese Informationslücke zu schließen.

Literatur