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Open AccessÜbersichtsarbeit

Genetische Grundlagen der ADHS – ein Update

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000868

Abstract

Zusammenfassung. Die Forschungsanstrengungen der letzten Jahre haben ergeben, dass genetische Risiken eine gewichtige Rolle in der Ätiologie der einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (auch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder ADHS genannt) spielen. Ausgehend von den Ergebnissen von Familien- bzw. Zwillingsuntersuchungen, über die Ergebnisse von Kopplungs- und Assoziationsuntersuchungen bis hin zu den neueren Befunden von genomweiten Assoziationsstudien und der Suche nach seltenen Varianten oder epigenetischen Veränderungen möchten wir im Rahmen dieser Übersichtsarbeit exemplarisch den derzeitigen Stand der Kenntnisse im Zusammenhang mit den genetischen Grundlagen der ADHS zusammenfassen. Auch soll hier auf die Befunde zur Pleiotropie vor allem im Hinblick auf die bei ADHS häufig auftretenden psychiatrischen Komorbiditäten eingegangen werden.

The Genetic Basis of ADHD – An Update

Abstract. Genetic risks play an important role in the etiology of attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD). This review presents the current state of knowledge concerning the genetic basis of the disorder. It discusses the results of twin- and family-based studies, linkage and association studies as well as recent findings resulting from Genome Wide Association Studies (GWAS). Furthermore, it elaborates on the relevance of polygenic risk scores, rare variants, and epigenetic alterations, especially in light of findings on genetic pleiotropy in the context of frequent psychiatric comorbidities in patients with ADHD.

Die einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, auch Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) genannt, gehört mit einer weltweiten Prävalenz von ca. 5 zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen (G. Polanczyk, de Lima, Horta, Biederman & Rohde, 2007; G. V. Polanczyk, Willcutt, Salum, Kieling & Rohde, 2014). Die Prävalenz im Erwachsenenalter wird auf 2.8 geschätzt (Fayyad et al., 2017). Betrachtet man die Gruppe der älteren Erwachsenen (> 50 Jahre), sinkt die Prävalenz weiter auf 1.5 (Dobrosavljevic, Solares, Cortese, Andershed & Larsson, 2020). Die Symptomatik, bestehend aus den drei Kernsymptomen gesteigerter Impulsivität, motorischer Unruhe und verminderter Aufmerksamkeitsleistung, manifestiert sich zumeist bereits im Vorschulalter und persistiert bei einem großen Teil der Betroffenen über den Entwicklungsverlauf hinweg bis ins Erwachsenenalter. Hinzu kommen bei ca. 50 % der Betroffenen mindestens eine weitere psychische Störung, bei ca. 25 % sogar mehrere psychiatrische Störungsbilder im Sinne von Komorbiditäten (Jensen & Steinhausen, 2015), am häufigsten sind hierbei Störungen des Sozialverhaltens, Tic-Störungen oder umschriebene Entwicklungsstörungen bei Kindern, Depressionen, Suchterkrankungen oder beginnende emotional instabile Persönlichkeitsstörungen bei Jugendlichen. Diese bedingen zusätzlich noch stärkere Beeinträchtigungen bzw. Funktionseinschränkungen im Alltag. Die Ätiologie der ADHS ist bisher nur in Teilen verstanden, sicher ist jedoch, dass genetische Faktoren einen bedeutsamen Beitrag zur Entstehung der Erkrankung leisten. Im Rahmen des vorliegenden Artikels soll eine Übersicht zum derzeitigen Stand der Forschung in Bezug auf die genetischen Grundlagen der ADHS gegeben werden.

Familienuntersuchungen

Familienuntersuchungen können Aufschluss darüber geben, ob eine Störung familiär gehäuft auftritt, die Prävalenzraten bei Familienmitgliedern Betroffener also höher sind als bei Kontrollpersonen aus der Allgemeinbevölkerung. Dies ist bei ADHS der Fall: Erstgradig Verwandte von Kindern mit ADHS haben ein zwei- bis achtfach erhöhtes Risiko, selbst erkrankt zu sein (Mick & Faraone, 2008; Waldman & Gizer, 2006), 40 bis 60 % der Kinder betroffener Erwachsener leiden selbst unter ADHS (Biederman et al., 1995; Kessler et al., 2006), Geschwister und Elternteile betroffener Kinder sind in 10 bis 35 % der Fälle selbst betroffen (Biederman et al., 1992; Chen et al., 2008; Faraone et al., 1995). Gleichzeitig zeigen Untersuchungen, dass auch depressive Störungen bei Familienmitgliedern von ADHS-Patient_innen häufiger vorkommen und umgekehrt ist das Risiko für ADHS bei erstgradigen Angehörigen depressiver Patient_innen erhöht, weshalb für beide Störungsbilder eine gemeinsame genetische Basis angenommen wird (Faraone & Biederman, 1997).

Adoptionsstudien

Auch im Rahmen von Untersuchungen an Adoptivfamilien konnte die Bedeutung genetischer Einflüsse bei ADHS festgestellt werden. Hierbei zeigte sich, dass die biologischen Eltern von adoptierten ADHS-Patient_innen deutlich häufiger selbst von ADHS betroffen sind als Adoptiveltern, auch stimmt die Ausprägung der ADHS-Symptomatik bei getrennt lebenden biologischen Geschwistern eher überein als bei Halbgeschwistern (Sprich, Biederman, Crawford, Mundy & Faraone, 2000). Genetische Einflüsse scheinen also im Zusammenhang mit ADHS relevanter zu sein als Umwelteinflüsse.

Zwillingsstudien

Mithilfe von Untersuchungen an ein- bzw. zweieiigen Zwillingspaaren lässt sich herausfinden, welcher Anteil der phänotypischen Varianz hinsichtlich der Ausprägung eines Merkmals in der Population durch additive genetische Faktoren erklärbar ist (Heritabilität).

In Bezug auf ADHS liegt die durchschnittliche Heritabilität (Erblichkeit) der Erkrankung nach den Ergebnissen von mehr als 30 unabhängigen Zwillingsstudien bei 0.7 bis 0.8 und somit in einem ähnlichen Bereich wie die Erblichkeit der Körpergröße (Faraone et al., 2005; Franke et al., 2012). Es finden sich keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder zwischen den Dimensionen Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität/Impulsivität (Larsson, Lichtenstein & Larsson, 2006; Nikolas & Burt, 2010). Es handelt sich bei ADHS also um eine der am stärksten genetisch determinierten psychiatrischen Erkrankungen; Umwelteinflüsse in Form von individuell-spezifischen, nichtgeteilten Besonderheiten erklären lediglich 20 % der phänotypischen Merkmalsausprägungen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Umweltfaktoren irrelevant sind, vielmehr sind diese nicht unabhängig von der genetischen Disposition, sondern z. B. über Gen-Umwelt-Interaktionen an der Pathophysiologie der ADHS beteiligt.

Um dem Hinweis auf eine starke Beteiligung genetischer Faktoren an der Ätiologie der ADHS auf den Grund zu gehen, wurden in der Zeit vor den genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) zahlreiche Kopplungs- bzw. Assoziationsstudien durchgeführt.

Kopplungsuntersuchungen

Bei Kopplungsuntersuchungen handelt es sich um einen nicht hypothesengeleiteten, genomweiten Untersuchungsansatz. Bestimmte Marker, die sich gleichmäßig über das gesamte Genom verteilen, werden genutzt, um Regionen auf den Chromosomen zu identifizieren, in denen Risikogene für bestimmte Störungsbilder lokalisiert sein können. Hinweise auf die Lokalisation dieser Risikovarianten ergeben sich, wenn bei Betroffenen oder deren Angehörigen im Gegensatz zur Kontrollpopulation überzufällig viele dieser Marker in einer bestimmten Region zu finden sind. Die Stärke der Kopplung wird mithilfe des LOD-Scores (Logarithmus der Odds) angegeben. Bei komplexen Störungsbildern wie z. B. der ADHS geht man bei einem LOD-Score > 3.3 von einer signifikanten Kopplung aus (Schimmelmann et al., 2006). Aufgrund des genomweiten Ansatzes und der Überprüfung zahlreicher Varianten können mithilfe von Kopplungsanalysen nur Varianten mit großen Effekten nachgewiesen werden.

Zur Identifikation von mit ADHS assoziierten chromosomalen Regionen und dort ggf. gelegenen Risikovarianten wurden zahlreiche genomweite Kopplungsuntersuchungen durchgeführt (Arcos-Burgos et al., 2004; Asherson et al., 2008; Fisher et al., 2002; Hebebrand et al., 2006; Ogdie et al., 2003; Romanos et al., 2008). Hinweise ergaben sich dabei unter anderem auf die chromosomalen Bereiche 5p13, 11q22–11q25 und 17p11, welche unabhängig voneinander in mehreren Studien identifiziert werden konnten. Eine Metaanalyse über sieben Kopplungsuntersuchungen ergab schließlich die am stärksten mit ADHS gekoppelte Region auf Chromosom 16 (16q21–16q24 [Zhou, Dempfle, et al., 2008]). Dort ist unter anderem das Gen CDH13 lokalisiert, welches für ein Protein kodiert, das an der Zelladhäsion beteiligt ist und später im Rahmen von GWAS im Zusammenhang mit ADHS detektiert werden konnte (Lasky-Su et al., 2008; Neale, Medland, Ripke, Asherson, et al., 2010; Rivero et al., 2013).

Weiterhin von Interesse im Zusammenhang mit Kopplungsuntersuchungen sind Befunde, die auf Überlappungen zwischen mit ADHS gekoppelten Regionen und Kopplungsbefunden bezüglich anderer Störungsbilder hinweisen, wie z. B. mit Autismus (z. B. 16p, 15q [Bakker et al., 2003; Ogdie et al., 2003; Smalley et al., 2002]) oder Legasthenie (z. B. 1p, 14q, 13q, 15q, 16p, 17q, 20q [Bakker et al., 2003; Loo et al., 2004; Zhou, Asherson, et al., 2008]).

Einzelmarkeruntersuchungen

Einzelmarkerstudien stellen ebenfalls einen Untersuchungsansatz aus der Prä-GWAS-Ära dar. Im Gegensatz zu dem genomweiten Vorgehen bei Kopplungsuntersuchungen handelt es sich hierbei jedoch um eine hypothesengeleitete Strategie. Anhand von Annahmen über die dem Störungsbild zugrundeliegende Pathophysiologie werden sogenannte Kandidatengene ausgewählt (im Falle von ADHS v. a. Gene, die für Proteine kodieren, die in die monoaminerge Neurotransmission eingebunden sind) und dann im Rahmen von Fall-Kontroll-Studien überprüft, ob bestimmte Varianten dieser Gene überzufällig häufig bei den betroffenen Patient_innen vorkommen. Hierbei geht es um Genvarianten, bei denen einzelne Nukleotide ausgetauscht sind (Single Nucleotide Polymorphisms [SNPs]) oder die sich durch eine variable Anzahl von sich wiederholenden Basensequenzen unterscheiden (variable number of tandem repeats [VNTRs]). Bei diesem Vorgehen können auch Varianten mit geringen Effekten identifiziert werden. Die auf diese Weise detektierten Genvarianten können selbst funktionell relevant sein oder als Marker für andere funktionelle Genvarianten dienen. Einzelmarkerstudien sind im klassischen Fall-Kontroll-Design anfällig für Stratifikationseffekte – hier können familienbasierte Einzelmarkerstudien, die die Häufigkeit der Weitergabe der Merkmale von Eltern an ihre Kinder mit einbeziehen, Abhilfe schaffen. Auch sind (aufgrund der oft höheren Anzahl der gleichzeitig untersuchten Marker) Fehler durch multiples Testen zu erwarten, woraus sich mehr Notwendigkeiten der Korrektur und der statistischen Adjustierung ergeben. Ergebnisse von Einzelmarkerstudien bedürfen deshalb einer Bestätigung durch mehrere Replikationen in unterschiedlichen Populationen, auch Metaanalysen können sich hierbei als hilfreich erweisen. Eine solche Metaanalyse von Gizer, Ficks und Waldman (2009) ergab für acht „Kandidatengen-Varianten“ statistisch signifikante Assoziationen mit ADHS über mehrere Studien hinweg. Zu nennen sind hier im Wesentlichen sechs betroffene Gene: Die Gene für den Serotonintransporter (5HTT), den Dopamintransporter (DAT1), die Dopaminrezeptoren D4 (DRD4) und D5 (DRD5), das Gen für den Serotoninrezeptor 1B (HTR1B) sowie das Gen für ein Protein, das in die Regulation synaptischer Vesikel eingebunden ist, SNAP25. Alle genannten Varianten zeigten jedoch nur eine schwache Assoziation mit Odds Ratios < 1.5.

Mit am häufigsten untersucht im Zusammenhang mit ADHS ist eine Assoziation mit einem 48-Basenpaar (bp)-Repeat-Polymorphismus im Exon III des Dopaminrezeptor-D4-Gens (DRD4), welcher besonders im präfrontalen Kortex exprimiert wird (Faraone, Doyle, Mick & Biederman, 2001; Li, Sham, Owen & He, 2006). Es gibt Hinweise, dass das DRD4-7-Repeat-Allel einen Dopamin-D4-Rezeptor kodiert, der für Dopamin weniger sensitiv ist (Asghari et al., 1995). Neben dieser Variante des Dopaminrezeptors D4 wurde ein 40-bp-VNTR-Polymorphismus im für den Dopamintransporter kodierenden Gen (DAT1) besonders häufig als Kandidatengen für ADHS untersucht. Hierbei scheint die Variante mit 10 repeats im Kindes- und Jugendalter mit ADHS assoziiert zu sein, im Erwachsenenalter gilt dies für das kürzere 9-repeat-Allel (Franke et al., 2010).

GWAS und genomweit signifikante häufige Varianten

GWAS untersuchen das gesamte Genom auf in der Bevölkerung häufig vorkommende (Frequenz > 1 %), mit der Störung potenziell assoziierte SNPs. Es handelt sich hierbei, wie bei den Kopplungsuntersuchungen, um einen genomweiten, explorativen Ansatz. Nachteil bei diesem Vorgehen ist die Notwendigkeit der Untersuchung sehr großer Zahlen von Patient_innen und Kontrollproband_innen, um trotz der notwendigen umfangreichen statistischen Korrekturen signifikante Befunde detektieren zu können. Nachdem erste GWAS (Hinney et al., 2011; Lasky-Su et al., 2008; Neale, Medland, Ripke, Anney, et al., 2010; Sanchez-Mora et al., 2015; Yang et al., 2013) und deren Metaanalysen (Neale, Medland, Ripke, Asherson, et al., 2010) zum Thema ADHS aufgrund zu geringer Fallzahlen kaum Befunde von genomweiter Signifikanz liefern konnten, wurden zunächst die am stärksten assoziierten Varianten im Rahmen von Pfad- oder Gene-Set (Gengruppen)-Analysen näher betrachtet (Aebi et al., 2016; Mooney et al., 2016; Poelmans, Pauls, Buitelaar & Franke, 2011). Die Ergebnisse dieser Analysemethoden ergaben Hinweise darauf, dass in die Entstehung von ADHS besonders Gruppen von Genen involviert sind, die für Proteine kodieren, die im Zusammenhang mit der Freisetzung von Neurotransmittern, Neuritenwachstum und Ausrichtung von Axonen während der frühen Hirnentwicklung relevant sind. Im Rahmen einer Metaanalyse, die genetische Daten von 20 183 Patient_innen mit ADHS und 35.191 Kontrollproband_innen aus zwölf Studien integriert, konnten schließlich mehrere genomweit signifikante Genloci (Demontis et al., 2019) identifiziert werden. Unter anderem zeigten sich signifikante Assoziationen mit FoxP2, einem Transkriptionsfaktor, der mit der Formation von Synapsen in Verbindung gebracht wird und auch bereits mit der Entwicklung von Sprache und Lernen assoziiert werden konnte. Auch DUSP6 scheint mit ADHS assoziiert zu sein, ein Gen das für eine Phosphatase kodiert, welche an der Regulation der Neurotransmitter-Konzentration in der dopaminergen Synapse beteiligt sein soll (Demontis et al., 2019). Im Rahmen einer weiteren Arbeit konnte die gleiche Forschergruppe aus Daten von Patient_innen mit ADHS und komorbiden disruptiven Verhaltensstörungen (wie z. B. Störungen des Sozialverhaltens) drei weitere Risikoloci von genomweiter Signifikanz identifizieren, darunter unter anderem STIM 1, welches für ein Transmembranprotein im Endoplasmatischen Retikulum kodiert, das als Calciumsensor fungiert und bei Prozessen wie z. B. der synaptischen Plastizität eine Rolle zu spielen scheint (Demontis et al., 2021). Auch wenn diese Befunde neue Erkenntnisse in Bezug auf die der ADHS zugrundeliegende Pathophysiologie versprechen, ist zu berücksichtigen, dass es sich um Varianten mit kleinen Effekten handelt. Weitere Studien mit größeren Patientenpopulationen erscheinen notwendig, um ein umfassendes Bild der genetischen Risikofaktoren liefern zu können.

Polygenetische Risikoscores

Die GWAS-Untersuchungen liefern zudem Hinweise darauf, dass ein Großteil der hohen Heritabilität von ADHS auf ein Zusammenspiel zahlreicher Risikovarianten mit jeweils nur sehr geringen Effekten zurückzuführen ist (Neale, Medland, Ripke, Asherson, et al., 2010; Stergiakouli et al., 2012).

Polygenetische Risikoscores (hier auch PRS) aggregieren den kumulativen Effekt der Belastungen der einzelnen Probandin bzw. des einzelnen Probanden anhand der Zahl der vorhandenen Risikoallele, gewichtet nach den in den GWAS ermittelten Effektstärken (Faraone & Larsson, 2019). Hierfür wird zunächst eine Gruppe von Risikoallelen definiert, welche im Rahmen einer GWAS-Untersuchung an Patient_innen mit einem definierten Krankheitsbild ein bestimmtes Signifikanzniveau (z. B. oberhalb der Grenze von p < .05 [International Schizophrenia Consortium et al., 2009]) erreicht haben. Im Anschluss werden auf dieser Basis individuelle Risikoscores für Patient_innen oder Proband_innen einer anderen Studienpopulation errechnet. Diese Risikoscores werden dann auf z. B. den Status Patient_in–Kontrolleproband_in hin untersucht, auch sind (neben der Assoziation mit kategorialen Diagnosen) Untersuchungen bezüglich ggf. vorhandener Assoziationen der polygenetischen Risikoscores z. B. mit dem Ausmaß der Symptomatik möglich. Auf diese Weise konnte u. a. nachgewiesen werden, dass Patient_innen mit ADHS von gesunden Kontrollproband_innen anhand des Ausmaßes ihres genetischen Risikoloads unterschieden werden können (Cross-Disorder Group of the Psychiatric Genomics Consortium et al., 2013). Außerdem wurden in ADHS-Studienpopulationen detektierte polygenetische Risikoscores mit dem Ausmaß von ADHS-Symptomatik in der Allgemeinbevölkerung assoziiert (Groen-Blokhuis et al., 2014; Martin, Hamshere, Stergiakouli, O’Donovan & Thapar, 2014). Darüber hinaus gelang es, ADHS-Patient_innen in klinischen Studienpopulationen mithilfe von PRS zu identifizieren, die auf Ergebnissen von GWAS-Daten aus einer epidemiologischen Studienpopulation basierten (Stergiakouli et al., 2015). Dies bestätigt die Annahme, dass sich die ADHS-Symptomatik in der Allgemeinbevölkerung entsprechend eines Kontinuums, beeinflusst durch das additive genetische Risiko, verteilt und die kategoriale Diagnose lediglich die Extremform am Ende dieses Kontinuums darstellt. Ebenso konnten die Ergebnisse von Familienstudien bestätigt werden, nach denen bei weiblichen Betroffenen eine größere genetische Belastung vorliegt als bei deren männlichen Pendants (Martin et al., 2018; Smalley et al., 2000). Zudem scheinen Individuen mit ADHS und komorbiden expansiven Verhaltensstörungen einen höheren genetischen Risikoload bezüglich Risikovarianten für ADHS vorzuweisen als eine Vergleichspopulation mit ADHS ohne diese Komorbidität (Demontis et al., 2021). Auch die Annahme der Pleiotropie bestimmter Genvarianten (s. u.) scheint sich durch den Einsatz von PRS zu bestätigen: Es fanden sich z. B. für ADHS Überlappungen bezüglich der PRS mit Autismus (Martin et al., 2014), aggressivem und antisozialem Verhalten (Hamshere, Langley, et al., 2013) sowie mit Schizophrenie (Hamshere, Stergiakouli, et al., 2013; Larsson et al., 2013) und Bipolarer Störung (Faraone, Biederman & Wozniak, 2012; van Hulzen et al., 2017).

Seltene Risikovarianten mit größeren Effekten

Neben den beschriebenen häufig vorkommenden Polymorphismen spielen seltene Risikoallele (Frequenz < 1) eine Rolle in der Ätiologie der ADHS. Hierzu zählen z. B. seltene Mutationen einzelner Basenpaare oder sogenannte Copy-Number-Varianten (CNVs), die Duplikationen oder Deletionen eines bestimmten DNA-Abschnittes darstellen. Patient_innen mit ADHS zeigen in genomweiten CNV-Analysen eine Häufung seltener CNVs (Ramos-Quiroga et al., 2014; Thapar et al., 2016; Williams et al., 2010). Zudem zeigt sich eine ätiologische Relevanz der chromosomalen Regionen 15q11 bis 15q13 (Valbonesi et al., 2015) und 16p13.11 (Williams et al., 2010). Weitere Studien weisen auf eine Beteiligung der Gene für CHRNA7, NPY, BDNF und verschiedener Glutamatrezeptoren hin (Akutagava-Martins et al., 2014; Elia et al., 2011; Hawi et al., 2017; Lesch et al., 2011; Williams et al., 2012) sowie auf vier Gene (NT5DC1, SEC23IP, PSD, ZCCHC4), die für die pränatale Hirnentwicklung von Bedeutung sind (Zayats et al., 2016). Die genannten seltenen Risikovarianten geben Hinweise auf die der ADHS zugrundeliegende Pathophysiologie und besitzen familiär begrenzt bzw. auf der Ebene des betroffenen Individuums eine hohe Relevanz. Allerdings können sie auf der Ebene der Gesamtpopulation nur einen sehr geringen Teil der Varianz erklären. Die Ergebnisse der Untersuchungen bezüglich seltener Varianten eröffnen jedoch zunehmend die Möglichkeit, ähnlich wie bei den GWAS-Untersuchungen beschrieben, über die Analyse funktionaler Netzwerke der assoziierten Risikoallele die bei ADHS beeinträchtigten biologischen Prozesse zu identifizieren und hierüber ein klareres Bild über die dem Störungsbild zugrundeliegende Ätiologie zu erhalten. Die genannten Prozesse scheinen sich vor allem im Rahmen der neuronalen Entwicklung abzuspielen, wie z. B. bei der neuronalen Zellteilung und -differenzierung, der neuronalen Migration, dem Neuritenwachstum, der Zell-Zell-Kommunikation, der Zytoskelett-Organisation (durch Rho-GTPasen), der Signalübertragung glutamaterger Rezeptoren/Synapsen, der Biosynthese der Glykosaminoglykane, der Funktionen der Fibroblasten-Wachstumsfaktoren-Rezeptoren und der Kaliumkanäle, der G-Protein-gekoppelten Signalübertragung, dem Transmembrantransport, dem Katcholamin-Metabolismus und bei Abbauprozessen organischer Stickstoffverbindungen (Elia et al., 2010; Elia et al., 2011; Hawi et al., 2015; Mooney et al., 2016; Naaijen et al., 2017; Poelmans et al., 2011; Thapar et al., 2016; Yang et al., 2013). Mittels eines bioinformatischen Ansatzes identifizierten Harich et al. (2020) durch eine Analyse von Daten aus elf CNV-Studien (unter Einschluss von 6176 Individuen mit ADHS und 25 026 Kontrollprobanden) 26 „high priority“-ADHS-Kandidatengene, welche vor allem an Transkriptionsprozessen, mitochondrialen Prozessen, der Ausbildung des Zytoskeletts und mRNA-Metabolismus beteiligt sind. Unter den auf diese Weise identifizierten Genen finden sich auch solche, die bereits im Rahmen von GWAS identifiziert werden konnten (RBFOX1; POLR3C). Die Autor_innen empfehlen die Untersuchung der Auswirkung von Varianten dieser „Kandidatengene“ in z. B. Tiermodellen, um weitere Einsichten in die neurobiologischen Grundlagen der ADHS gewinnen zu können.

Pleiotropie

Bereits längerfristig wird – vor dem Hintergrund z. B. der überlappenden Befunde im Rahmen von Kopplungsuntersuchungen bzw. bezüglich der PRS – angenommen, dass einige genetische Risikovarianten keine spezifische Prädisposition für ADHS bedingen, sondern im Sinne einer Pleiotropie an der Ätiologie weiterer Störungsbilder beteiligt sind. Pleiotropie bezeichnet hierbei die Ausprägung mehrerer phänotypischer Merkmale, die durch ein einzelnes Gen hervorgerufen werden. In Bezug auf die Entwicklung kinder- und jugendpsychiatrischer Krankheitsbilder ist davon auszugehen, dass zahlreiche Gene das Risiko mehrerer unterschiedlicher Erkrankungen in Abhängigkeit von weiteren spezifischen genetischen- und Umweltrisiken beeinflussen ([Plomin, Haworth & Davis, 2009], „generalist genes, specialist environment“). Im Rahmen von Untersuchungen an Zwillingspaaren konnten Lahey et al. (2011) einerseits zwei Untergruppen von pleiotropen Genen finden, die entweder externalisierende oder internalisierende Dimensionen kinder- und jugendpsychiatrischer Psychopathologie beeinflussen, andererseits aber auch eine übergeordnete Gruppe von hochgradig pleiotropen Genen identifizieren, die Risiken sowohl für externalisierende als auch internalisierende Störungsbilder bedingen. Noch weiter gehen Diskussionen um eine allgemeine Psychopathologie-Dimension, den sogenannten P-Faktor, anhand dessen sich die generelle Anfälligkeit eines Individuums bezüglich psychiatrischer Erkrankungen quantifizieren und ggf. auch erklären ließe (Caspi et al., 2014; Caspi & Moffitt, 2018) und der darüber hinaus als Erklärungsansatz für die hohe Rate von psychiatrischen Komorbiditäten dienen könnte. Brikell et al. (2020) konnten in diesem Zusammenhang nachweisen, dass häufig vorkommende Risikovarianten für ADHS und die daraus abgeleiteten PRS auch eine generelle genetische Belastung bezüglich psychopathologischer Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter darstellen. Unterstützt werden diese Thesen außerdem durch Anstrengungen großer Konsortien wie z. B. des Psychiatric Genomics Consortium (PGC), durch diagnoseübergreifende GWAS gemeinsame genetische Risikofaktoren für mehrere große psychiatrische Krankheitsbilder zu identifizieren (Cross-Disorder Group of the Psychiatric Genomics Consortium et al., 2013). Eine 2019 erschienene Arbeit des genannten Konsortiums (Cross-Disorder Group of the Psychiatric Genomics Consortium, 2019) integriert die genetischen Daten aus GWAS zu acht unterschiedlichen psychiatrischen Krankheitsbildern (Tourette-Syndrom, Autismusspektrumstörungen [ASD], ADHS, Anorexia nervosa, Depression, Schizophrenie und Bipolare Störung), denen die Daten von 23 2964 Patient_innen und 49 4162 Kontrollproband_innen zugrundeliegen. Hierbei ließen sich drei Gruppen von psychiatrischen Krankheitsbildern mit Überlappungen in der genetischen Basis identifizieren, wobei sich ADHS in einer Gruppe mit ASD, Depression und dem Tourette-Syndrom finden lässt. 75 der identifizierten Risikovarianten mit genomweiter Signifikanz zeigten sich in dieser Studie als relevant für mehr als eine psychiatrische Erkrankung. Es konnten zudem 23 hochgradig pleiotrope Loci identifiziert werden, welche jeweils mit vier oder mehr psychiatrischen Erkrankungen assoziiert waren. Eine Risikovariante, die für alle acht untersuchten Krankheitsbilder relevant zu sein scheint, fand sich im DCC-Gen, dessen Genprodukt während der frühen Hirnentwicklung zentral an der Regulation der Axon-Ausrichtung und somit an der Ausbildung von Verbindungen in der weißen Hirnsubstanz beteiligt ist. Auch eine Gruppe von Genen, die gegensätzliche Auswirkungen auf zwei oder mehr Krankheitsbilder (auch innerhalb einer genetisch korrelierten Gruppe) zu haben scheinen, wurde beschrieben. Eine weitere Arbeit, die sich mit dem Thema Pleiotropie befasste, veröffentlichte 2018 das „Brainstorm Consortium“. Auch hier wurden diagnoseübergreifend GWAS-Daten von mehr als 25 psychiatrischen und neurologischen Krankheitsbildern integriert, um eine mögliche gemeinsame genetische Basis dieser Erkrankungen zu identifizieren (Brainstorm Consortium et al., 2018). Es fanden sich ebenfalls deutlich ausgeprägte genetische Korrelationen zwischen den psychiatrischen Krankheitsbildern, v. a. zwischen Schizophrenie, Depression, Angststörungen, Bipolarer Störung und ADHS, während die untersuchten neurologischen Erkrankungen sowohl untereinander als auch mit den psychiatrischen Erkrankungen deutlich weniger bezüglich ihrer genetischen Basis korrelierten.

Epigenetik

Epigenetische Veränderungen, z. B. im Sinne der Methylierung von DNA-Abschnitten im Gehirn, wirken sich auf die Expression von Genen aus und vermitteln hierüber möglicherweise Interaktionen zwischen Genen und Einflüssen aus der Umwelt (PsychENCODE Consortium et al., 2015). Diese Modifikationen sind in hohem Maße gewebespezifisch. Unterschiede in der Methylierung finden sich besonders häufig in der Nähe von genetischen Variationen (Hannon, Lunnon, Schalkwyk & Mill, 2015).

Auch im Zusammenhang mit ADHS zeigen Studien an Versuchstieren, dass sich bestimmte, mit ADHS assoziierte Umweltfaktoren auf die Methylierung der DNA eines Individuums auswirken können. Als Beispiele hierfür zu nennen sind eine mit erhöhter motorischer Aktivität einhergehende verstärkte Histon-Acetylierung im Hippocampus von Ratten, die einer Exposition mit Blei ausgesetzt waren (Luo et al., 2014), oder auch durch Stress ausgelöste Änderungen der Methylierung und der Genexpression im Gyrus dentatus, ebenfalls bei Ratten (Saunderson et al., 2016).

Studien an Patient_innen mit ADHS sind bisher selten und beziehen sich vor allem auf katecholaminerge Kandidatengene aus der Prä-GWAS-Ära. Die vorhandenen Studien zeigen Unterschiede in der DNA-Methylierung (in Blutproben oder Speichel) zwischen ADHS-Patient_innen und gesunden Kontrollproband_innen (Dall’Aglio et al., 2018; Hamza et al., 2019). Auch erste epigenomweite Assoziationsstudien wurden bereits in Blut- oder Speichelproben von Patient_innen mit ADHS bzw. Proband_innen unterschiedlicher Altersstufen mit ADHS-Symptomen durchgeführt (Mooney et al., 2020; van Dongen et al., 2019; Walton et al., 2017; Wilmot et al., 2016). Genomweit signifikante Unterschiede konnten zwischen Proband_innen mit und ohne ADHS-Symptomatik in diesem Zusammenhang, vermutlich aufgrund der bisher zu geringen Fallzahlen, noch nicht berichtet werden.

Diskutiert wird im Zusammenhang mit ADHS zudem, ob ein Teil der Einflüsse von prä/und perinatalen Umweltrisiken, wie z. B. mütterlicher Stress, Nikotin- oder Alkoholkonsum während der Schwangerschaft oder mütterlichem Übergewicht, über eine intrauterine Programmierung des fetalen Immunsystems vermittelt werden, die sich im Verlaufe der Entwicklung in einer erhöhten Anfälligkeit für chronisch-entzündliche Prozesse manifestiert (Furman et al., 2019). Diese hierdurch angestoßenen chronisch-systemischen Entzündungsprozesse könnten einerseits direkt die Entwicklung des Gehirns beeinflussen (Dunn, Nigg & Sullivan, 2019), sich andererseits aber auch im Sinne einer Dysbalance des Darm-Mikrobioms (Martins-Silva et al., 2021) oder eines erhöhten Risikos für somatische Erkrankungen wie z. B. Adipositas auswirken und hierüber teilweise die Entstehung von Komorbiditäten erklären (Cortese, Angriman, Comencini, Vincenzi & Maffeis, 2019; Tylee et al., 2018).

Einflüsse des Mikrobioms

Das Darm-Mikrobiom, also die Gesamtheit der Mikroorganismen, die den menschlichen Gastrointestinaltrakt besiedeln, spielt eine wichtige Rolle für Gesundheit und Wohlbefinden des jeweiligen Individuums; seine Zusammensetzung beeinflusst Hirnfunktion, Kognition und Verhalten im Rahmen der bidirektionalen „Darm-Gehirn-Achse“ (u. a. Morais, Schreiber & Mazmanian, 2021; Richarte et al., 2021). Es wird deshalb auch im Zusammenhang mit ADHS diskutiert, dass Veränderungen oder Dysbalancen im Mikrobiom der Betroffenen zur Pathophysiologie der Erkrankung beitragen können. Inzwischen konnten zahlreiche Studien nachweisen, dass sich Patient_innen mit ADHS bezüglich der mikrobiellen Diversität, der Zusammensetzung bzw. der An- oder Abwesenheit bestimmter Mikroorganismen, von Populationen gesunder Kontrollproband_innen unterscheiden (Aarts et al., 2017; Prehn-Kristensen et al., 2018). Insgesamt sind die Befunde jedoch noch als recht heterogen zu bezeichnen (Bundgaard-Nielsen et al., 2020), was unter anderem auch an dem starken Effekt von Umweltfaktoren wie Diät oder Lifestyle auf das Mikrobiom liegen kann; auch chronisch-inflammatorische Prozesse, wie oben erläutert, können zu Dysbalancen im Mikrobiom führen. Zudem scheint die Zusammensetzung des Mikrobioms zum Teil genetischen Einflüssen zu unterliegen, sodass hier wiederum pleiotrope Gene einen Teil des Effektes erklären könnten.

Zusammenfassung/Schlussfolgerungen

Die hier exemplarisch dargestellten bisherigen Befunde in Bezug auf die genetischen Grundlagen der ADHS legen ein komplexes Zusammenspiel zahlreicher in der Bevölkerung häufig vorkommender Genvarianten mit jeweils nur geringem Effekt und Interaktionen mit Umweltrisiken nahe. Der unter der Diagnose ADHS erfasste Symptomkomplex stellt somit die extreme Ausprägung einer Verhaltensdimension dar und wird in seinem Schweregrad vom Ausmaß der „genetischen Last“ des jeweiligen Individuums bestimmt. Die Heterogenität bezüglich der zugrundeliegenden genetischen Risiken spiegelt sich hierbei auch in der Heterogenität innerhalb der Patientenpopulation bezüglich der schwerpunktmäßigen neuropsychologischen Auffälligkeiten, z. B. Defizite der exekutiven Funktionen, im Belohnungssystem, in der Emotionsregulation, wider.

Bei einigen Betroffenen liegen ätiologisch auch seltenere Mutationen mit größeren Effekten, wie z. B. CNVs, zugrunde, phänomenologisch ergibt sich hieraus jedoch ein ähnliches oder gleiches Erscheinungsbild (Langley et al., 2011) bzw. eine Beeinträchtigung der gleichen pathophysiologischen Regelkreise (Stergiakouli et al., 2012). Die Identifizierung von häufigen, durch CNVs betroffenen Gen-Loci kann über die Entwicklung von Zell- oder Tiermodellen zu weiteren Einblicken in die neurobiologische Basis von ADHS führen.

Dies ist deshalb bedeutsam, da die Kandidatengene der Prä-GWAS-Ära, die vor allem auf der Basis der Annahme einer katecholaminergen Dysregulation als zentraler, der ADHS zugrundeliegender Pathophysiologie ausgewählt und untersucht wurden, in keiner der bisherigen GWAS-Untersuchungen genomweite Signifikanz erreichen konnten. Es scheint wahrscheinlich, dass die bei ADHS festgestellte Dyfsunktion der katecholaminergen Neurotransmission eher eine sekundäre Folge der eigentlichen primären Ätiologie darstellt (Faraone & Larsson, 2019). Insgesamt zeigen sich bezüglich der signifikanten Befunde nur wenige Überlappungen zwischen den unterschiedlichen Studientypen wie z. B. den hypothesengeleiteten Einzelmarkerstudien oder genomweiten Ansätzen wie z. B. Kopplungsuntersuchungen oder GWAS, was unter anderem auf die bevorzugte Publikation von positiven Befunden z. B. im Rahmen von Einzelmarkerstudien (publication bias) oder auch auf die unzureichenden Größen der untersuchten Populationen früherer Studien zurückgeführt werden könnte.

Darüber hinaus können die Überlappungen zwischen mehreren psychiatrischen Krankheitsbildern bezüglich ihrer genetischen Basis, die hohen Raten von Komorbiditäten z. B. bei ADHS erklären. Zahlreiche genetische Risikofaktoren spielen im Sinne der Pleiotropie eine Rolle bei der Ätiologie mehrerer psychiatrischer Erkrankungen. Der jeweilig resultierende Phänotyp entwickelt sich im Zusammenspiel mit Umwelteinflüssen, Gen-Gen-Interaktionen oder epigenetischen Regulationsmechanismen, wobei auch der Zeitpunkt des Einwirkens bestimmter Faktoren eine Rolle spielt. Die derzeitig gebräuchlichen, klar voneinander abgegrenzten Diagnosekategorien spiegeln diese gemeinsame genetische Basis der psychiatrischen Erkrankungen nicht wider; eine entsprechende Anpassung und Verfeinerung unter Berücksichtigung der genetischen Befunde wäre demnach überfällig.

Diskutiert werden muss im Zusammenhang mit der hohen Heritabilität bei ADHS auch die Möglichkeit einer Überschätzung im Rahmen von Zwillingsstudien. Hierbei kann eine Überschätzung der Erblichkeit vor allem dann erfolgen, wenn die Umwelteinflüsse, denen eineiige Zwillinge ausgesetzt sind, sich mehr ähneln als die Umwelteinflüsse, die auf zweieiige Zwillingspaare einwirken; möglich ist aber auch eine Unterschätzung der Erblichkeit bei Unterschieden in der Genaktivität bei eineiigen Zwillingen.

Etwa ein Drittel der mittels Zwillingsstudien ermittelten Heritabilität von ADHS ist durch häufig vorkommende Varianten erklärbar, ein deutlich geringerer Anteil durch den Einfluss seltener Risikoallele (CNVs und seltene Mutationen).

Weitere Anteile sind vermutlich zu einem großen Teil durch Umwelteinflüsse im Sinne von Gen-Umwelt-Interaktionen bedingt, welche unter anderem durch epigenetische Mechanismen vermittelt sind (Faraone & Larsson, 2019). Chronische Entzündungsprozesse und eine Dysbalance des Mikrobioms können hierbei eine wichtige Rolle spielen. Die genauere Identifikation dieser Zusammenhänge sollte einen Schwerpunkt weiterer Forschungsbemühungen zur genetischen Grundlage der ADHS darstellen.

Literatur

Anhang

CME-Fragen

  1. 1
    Was zählt nicht zu den häufigsten Komorbiditäten bei ADHS im Kindes- und Jugendalter? (Einfachauswahl)
    • a)
      Tic-Störungen
    • b)
      Störungen des Sozialverhaltens
    • c)
      Essstörungen
    • d)
      Depressionen
    • e)
      Umschriebene Entwicklungsstörungen
  2. 2
    Welche Aussage zu den beschriebenen unterschiedlichen Studientypen trifft zu? (Einfachauswahl)
    • a)
      Bei Einzelmarkerstudien handelt es sich um einen Nicht-Hypothesengeleiteten Untersuchungs-Ansatz.
    • b)
      Mit Hilfe von Kopplungsuntersuchungen können vor allem häufig vorkommende Varianten mit kleinen Effekten entdeckt werden.
    • c)
      Die „Kandidatengene“ der Prä-GWAs Ära erreichten auch im Rahmen genomweiter Assoziationsstudien genomweite Signifikanz.
    • d)
      In die Entstehung der ADHS sind besonders Gruppen von Genen involviert, die im Zusammenhang mit der Freisetzung von Neurotransmittern, Neuritenwachstum und der Ausrichtung von Neuronen im Rahmen der frühen Hirnentwicklung relevant sind.
    • e)
      Die im Rahmen von Kopplungsuntersuchungen am stärksten mit ADHS gekoppelte Region ist auf Chromosom 15 zu finden.
  3. 3
    Welche Aussage in Bezug auf Polygenetische Risikoscores (PRS) ist nicht zutreffend? (Einfachauswahl)
    • a)
      Ein Großteil der Heritabilität der ADHS ist auf ein Zusammenspiel zahlreicher Risikovarianten mit geringen Effekten zurückzuführen.
    • b)
      Als Grundlage zur Erstellung eines PRS werden zunächst Gruppen von „Kandidatengenen“ herangezogen, die im Rahmen von Einzelmarkerstudien Assoziationen mit ADHS zeigen.
    • c)
      Patient_innen mit ADHS können mittels PRS von gesunden Kontrollproband_innen unterschieden werden.
    • d)
      Ergebnisse von PRS-Studien konnten die Annahme einer kontinuierlichen, durch das additive genetische Risiko bedingten Verteilung von ADHS Symptomatik in der Allgemeinbevölkerung bestätigen.
    • e)
      Bei weiblichen ADHS-Betroffenen besteht in der Regel eine höhere genetische Belastung als bei ihren männlichen Pendants.
  4. 4
    Welche Aussage zur Pleiotropie trifft zu? (Einfachauswahl)
    • a)
      ADHS überlappt in der genetischen Basis vor allem mit Zwangserkrankungen und Anorexia nervosa.
    • b)
      Pleiotropie bezeichnet die Ausprägung mehrerer genetischer Merkmale, die durch ein einzelnes Gen hervorgerufen werden.
    • c)
      Im Rahmen Diagnose-übergreifender GWAs (z. B. PGC 2019) fanden sich nur wenige genomweit signifikante Varianten mit Relevanz für mehr als eine psychiatrische Erkrankung.
    • d)
      Pleiotrope Gene beeinflussen das Risiko für unterschiedliche psychiatrische Erkrankungen, unabhängig von weiteren genetischen Risiken oder Umweltrisiken.
    • e)
      Die Arbeit des Brainstorm-Konsortiums (2018) konnte zeigen, dass psychiatrische und neurologische Krankheitsbilder stärker bezüglich ihrer genetischen Basis korrelieren als psychiatrische Erkrankungen untereinander.
  5. 5
    Welche Aussage ist nicht zutreffend? (Einfachauswahl)
    • a)
      Es wird diskutiert, ob die Einflüsse prä- oder peripartaler Umweltrisiken über eine intrauterine Programmierung des fetalen Immunsystems vermittelt werden, die sich im Entwicklungsverlauf im Sinne von erhöhter Anfälligkeit für chronisch entzündliche Prozesse manifestiert.
    • b)
      Epigenetische Veränderungen sind in der Regel nicht Gewebe-spezifisch.
    • c)
      Auch bei der Entstehung der ADHS könnte das Mikrobiom eine Rolle spielen.
    • d)
      Die Erblichkeit z. B. der ADHS könnte im Rahmen von Zwillingsstudien überschätzt werden, wenn die Umwelteinflüsse, die auf eineiige Zwillinge einwirken, ähnlicher sind als die, die auf zweieiige Zwillingspaare einwirken.
    • e)
      Die bei ADHS beobachtete große Heterogenität in Bezug auf die genetischen Risiken spiegelt sich in der Heterogenität innerhalb der Patientenpopulation bezüglich der schwerpunktmäßigen neuropsychologischen Auffälligkeiten.