TBS-TK Rezension
Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM). 3., überarbeitete und erweiterte Auflage
Allgemeine Informationen
Das Verfahren AVEM liegt als Standard- und als Kurzform vor (66 bzw. 44 Items). Die Verfahrenshinweise sind zugänglich und liefern grundlegende Informationen. Zielsetzungen und zeitliche Belastung für Anwender und untersuchte Person sind klar und angemessen dargestellt. In den Verfahrenshinweisen werden Ergebnisse einer großen Zahl empirischer Studien mit dem AVEM berichtet. Insgesamt sind die meisten Studien theoretisch und methodisch angemessen und nachvollziehbar, oft allerdings zu knapp (z. B. Stichprobenbeschreibung) dargestellt. Anwendungsbereiche werden beschrieben, auf Anwendungseinschränkungen wird jedoch nur am Rande eingegangen. Es fehlen Angaben zur Anwendbarkeit für unterschiedliche Arbeitssituationen (z. B. Teilzeit). Die Anmerkung, dass das AVEM „für eignungsdiagnostische Untersuchungen […] in der Regel nicht geeignet“ ist (S. 54), findet sich in den Verfahrenshinweisen nur im Abschnitt „Normierung“.
Theoretische Grundlagen als Ausgangspunkt der Testkonstruktion
Theoretische Basis sind das Typ-A-Verhaltenskonzept, das die persönlichkeitsspezifische Art der Bewältigung beruflicher Anforderungen in Form übersteigerter Verausgabung und Wettbewerbshaltung als besonders gesundheitsrelevant betont, sowie das ressourcenorientierte Salutogenesekonzept. Das Verfahren ermöglicht sowohl die Bestimmung von Zuordnungswahrscheinlichkeiten zu Mustern als auch die Erstellung eines mehrdimensionalen Profils. Unklar bleibt, inwieweit es sich bei den Erlebens- und Verhaltensmustern um stabile Eigenschaften handelt. Die Konstruktionsprinzipien des Verfahrens sind weitgehend nachvollziehbar und verständlich dargestellt. Die theoretischen Grundlagen der Item-Konstruktion, der einzelnen zu messenden Konstrukte sowie der musterorientierten Auswertung sind allerdings nur knapp beschrieben und bleiben deshalb etwas unklar. Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber anderen Verfahren mit ähnlichem Geltungsbereich werden nicht beschrieben.
Objektivität
Die Instruktionen werden zu Beginn schriftlich vorgegeben. Das gewährleistet weitgehend die Durchführungsobjektivität, allerdings bleibt der Umgang mit Fragen der untersuchten Person und fehlenden Werten unklar. Die Auswertungsobjektivität kann aufgrund einfacher Übertragung der Item-Antworten in das beiliegende Auswertungsprogramm und programmgestützter Musterzuordnung als weitgehend gegeben gesehen werden. Eine mögliche Quelle für Fehler stellt eine Auswertung per Hand dar, die auch durch die untersuchte Person selbst erfolgen kann. Gefährdet ist die Auswertungsobjektivität, wenn die Item-Antworten nicht in das Auswertungsprogramm übertragen werden und eine Musterzuordnung per Augenschein vorgenommen wird. Die Interpretationsobjektivität wird durch Fallbeispiele zur Interpretation von Mustern unterstützt.
Normierung
Die Normierung erfolgte anhand zusammengesetzter Stichproben (N = 31 979; jüngste Erhebung 2008) aus Deutschland und Österreich, die insbesondere Berufsgruppen mit hoher psychosozialer Beanspruchung umfassten (z. B. Lehrkräfte, Krankenpflegepersonal). Es wurde keine Prüfung auf Äquivalenz der Standard- und Kurzform vorgenommen. Konfidenzintervalle werden genannt (sind für die Kurzform jedoch kleiner, trotz geringerer Reliabilität). Normwerte liegen als Stanine-Werte vor (im Auswertungsprogramm auch Prozentränge), bei berufsübergreifenden Stichproben differenziert nach Geschlecht. Die Eichstichprobe wird, ebenso wie andere Stichproben, nicht ausreichend beschrieben. Aufgrund der Selektivität der Berufsgruppen wird Repräsentativität nicht in Anspruch genommen. Damit bleibt aber auch die Anwendbarkeit des Verfahrens für andere Berufsgruppen fraglich. Zur Bestimmung der Musterzuordnung liegt eine ergänzende Normierung per clusteranalytisch gewonnenen Referenzmustern aus dem Jahr 1996 vor (größtenteils Lehrkräfte).
Zuverlässigkeit
In mehreren heterogenen Stichproben erzielen die Skalen gute Cronbachs-Alpha-Werte: Standardform von .78 bis .88, Kurzform von .75 bis .84. Angaben im Anhang enthalten allerdings geringfügig abweichende Werte. Stabilitätswerte der Standardform werden für Intervalle von zwei bis vier Jahren berichtet und reichen von .61 bis .78 (zwei Jahre) beziehungsweise .33 bis .71 (vier Jahre). Die Stichproben, an denen die Stabilitätswerte ermittelt wurden, sind nicht näher beschrieben. Bezüglich der Stabilität ermittelter Muster argumentieren die Autoren mit Daten über Zeiträume von zirka sechs Monaten bis zu drei Jahren. Dazu wurden die Muster (teilweise nach einer Interventionsmaßnahme) erneut bestimmt. In einer Abbildung zeigt sich allerdings, dass nur 46 bis 59 Prozent der Personen ohne Intervention das zuvor ermittelte Muster beibehielten. Für die Kurzform liegen keine Stabilitätswerte vor. Offensichtlich sind Skalen und Muster teils abhängig von Umweltfaktoren. Angaben zur Profilreliabilität fehlen.
Gültigkeit
Die faktorielle Struktur wird auf Basis explorativer Analysen (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation) ermittelt. Belege mittels konfirmatorischer Faktorenanalysen und Skaleninterkorrelationen fehlen. Aufgrund hoher Korrelationen zwischen Standard- und Kurzform werten die Autoren die Befunde zur Standardform auch als Belege für die Kurzform. Zur Konstruktvalidierung werden Beziehungen zu ausgewählten Skalen verschiedener Verfahren (FPI-R, MBI, BVND, SVF, Big-Five-Adjektivliste) herangezogen, allerdings ohne dass theoretische Annahmen zu Zusammenhängen formuliert oder Stichproben näher beschrieben werden. Ferner werden signifikante Mittelwertunterschiede (ohne Effektstärken) zwischen den Mustern bezüglich psychischen und körperlichen Beschwerden, Erholungs- und Belastungserleben, Persönlichkeitseigenschaften, Typ-A-Verhalten, Burnout-Erleben, physiologischen Parametern, Krankheitstagen und Patientengruppen berichtet, allerdings werden etliche Studien unzureichend beschrieben.
Weitere Gütekriterien
Das Verfahren benutzt klare Formulierungen und basiert auf Selbstauskünften. Auf die Frage der Störanfälligkeit wird nicht eingegangen. An nur einer Stelle der Verfahrenshinweise wird vor Gebrauch in Situationen, in denen untersuchte Personen zu sozial erwünschtem Antwortverhalten neigen, gewarnt. Allerdings könnten auch subtile Anreize zur Verfälschung bestehen (beispielsweise wenn im Rahmen der Arbeits- und Organisationsgestaltung konkurrierende Gruppen verglichen werden). Aufgrund der unterschiedlichen Anzahl invertierter Items pro Dimension sind einige der Dimensionen besonders anfällig für Antworttendenzen wie Akquieszenz. Es ist davon auszugehen, dass Verfälschbarkeit gegeben ist. Beide Formen sind nach theoretisch geleiteter Item-Auswahl weitestgehend induktiv konstruiert und orientieren sich an den Anforderungen der klassischen Testtheorie. Bezüglich der Skalierung werden keine Überlegungen formuliert.
Abschlussbewertung/Empfehlung
Das AVEM vereint ein dimensionales Modell mit einem typologischen Ansatz, ist ökonomisch und von anwendungsbezogener Relevanz. Auf Basis der Ausprägungen auf elf Dimensionen können vier gesundheitsbezogene Muster differenziert werden, für die die Autoren spezifische Interventionen ableiten. Hervorzuheben ist die innovative Art der Typologisierung in Form der statistischen Bestimmung einer Zuordnungswahrscheinlichkeit zu Mustern. Ein erheblicher Anteil der empirischen Untersuchungen zur Reliabilität und der Großteil der Untersuchungen zur Validität sind eingehende Analysen zu den Mustern. Unklar bleibt, wie die Musterzuordnung in den Untersuchungen erfolgte, also welche Ausprägungen (voll, akzentuiert und/oder tendenziell) beziehungsweise Kombinationen als Muster berücksichtigt wurden. Beeindruckend ist die insgesamt hohe Anzahl an Personen, deren Daten in die Normen des Verfahrens eingeflossen sind. Dass diese Personen größtenteils im sozialen Bereich tätig sind (mehr als die Hälfte sind Lehrkräfte), schränkt den Anwendungsbereich des Verfahrens jedoch ein. Auch in der Stichprobe zur Bestimmung der Zuordnungswahrscheinlichkeit zu den vier Referenzmustern sind Lehrkräfte stark überrepräsentiert; ferner liegt die Erhebung mittlerweile 20 Jahre zurück. Für beide Formen sollte eine aktuelle Überprüfung der Normierung beziehungsweise Erweiterung unter Berücksichtigung potentiell relevanter Faktoren (Berufsanfänger/-erfahrene, Fachkräfte/Führungskräfte, Vollzeit/Teilzeit etc.) erwogen werden. Die Arbeit mit Mustern ist für nicht psychologisch ausgebildete Anwender eingängiger, die Einschränkungen der Musterzuordnung legen jedoch eine Interpretation der Dimensionen nahe – allerdings fehlen gerade hierzu ausführliche Untersuchungen. Insbesondere sollte die Güte der Kurzform separat geprüft werden, und Angaben zur Zusammensetzung der Stichproben sollten vereinheitlicht beziehungsweise ergänzt werden.
Diese Testrezension wurde im Auftrag des Testkuratoriums der Föderation deutscher Psychologenvereinigungen (DGPs und BDP) gemäß den TBS-TK-Richtlinien (Testkuratorium, 2009, 2010) erstellt.
Testkuratorium. (2009). TBS-TK. Testbeurteilungssystem des Testkuratoriums der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen. Revidierte Fassung vom 9. September 2009. Report Psychologie, 34, 470 – 478.
Testkuratorium. (2010). TBS-TK. Testbeurteilungssystem des Testkuratoriums der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen. Revidierte Fassung vom 9. September 2009. Psychologische Rundschau, 61, 52 – 56.
Testinformationen
Schaarschmidt, U. & Fischer, A. W. (2008). Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt: Pearson.
Bezugsquelle: Pearson Deutschland GmbH; Baseler Str. 35 – 37; 60329 Frankfurt/M. Test komplett, bestehend aus: Manual, 50 Fragebögen, 50 AVEM-44-Fragebögen Kurzform und Auswertungsprogramm: 397,50 €.
Bitte zitieren Sie diesen Artikel wie folgt: Wolf, D., Schlotz, W. & Schütz, A. (2017). TBS-TK Rezension: „Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM)“. Psychologische Rundschau, 68, 162 – 164.