TBS-TK-Rezension
Inventar berufsbezogener Einstellungen und Selbsteinschätzungen (IBES)
Allgemeine Informationen
Das Inventar berufsbezogener Einstellungen und Selbsteinschätzungen (IBES) ist das erste deutschsprachige Verfahren zur Erfassung kontraproduktiven bzw. devianten Verhaltens im Beruf. Primäre Zielsetzung ist die Eignungsdiagnostik, für die auch Normen vorliegen. Das IBES ist ein ab 16 Jahren einsetzbares Selbstberichtsverfahren. Empfohlen wird die Testvorgabe mit Testleiter, die Durchführungs- ebenso wie die Auswertungszeit beträgt 20 bis 25 Minuten. Das IBES umfasst 115 Items (fünf-stufiges Rating), die zu einem Gesamtwert addiert werden. Es besteht aus einem einstellungs- und einem eigenschaftsorientierten Teil. Ersterer umfasst die vier Subskalen Vertrauen, geringe Verbreitung unerwünschten Verhaltens, Nicht-Rationalisierung und Verhaltensabsichten. Letzterer umfasst die fünf Subskalen Gelassenheit / Selbstwertgefühl, Zuverlässigkeit / Voraussicht, Vorsicht, Zurückhaltung und Konfliktvermeidung. In der Personalauswahl sollte der Gesamtwert verwendet werden, gleichwohl liegen auch Subskalennormen vor.
Theoretische Grundlagen als Ausgangspunkt der Testkonstruktion
Das IBES gehört zur Gruppe der Criterion-Focused Occupational Personality Scales (COPS). Die Entwicklung von Integrity Tests aus biographischen und persönlichkeitsorientierten Ansätzen wird ausführlich beschrieben. Biografische Ansätze zielten zunächst auf offen eingestandene Regelverletzungen, persönlichkeitsorientierte Skalen wurden kriterienorientiert mit dem Ziel der Trennung delinquenter und nicht-delinquenter Gruppen konstruiert. Das IBES nutzt beide Zugänge und erfasst damit sehr heterogene Aspekte, die das interessierende Kriterium der Kontraproduktivität empirisch vorhersagen können. Der Autor reklamiert entsprechend nachvollziehbar für Integrity Tests die Erfassung mehrerer Konstrukte, „die eher auf der Facettenebene unterhalb der fünf Faktoren zu suchen sind“ (Marcus, 2006, Manual, S. 12). Im Manual wird darauf hingewiesen, dass eine Übersetzung des Begriffes „Integrity“ ins Deutsche missverständlich ist, da nicht die Integrität der Testpersonen gemessen wird.
Objektivität
Die Durchführungsobjektivität ist durch genaue Vorgaben für Testleiter und Testteilnehmer gegeben. Die Auswertung erfolgt durch Auflegen farblich kodierter Folien, was die Auswertungsobjektivität sichert. Wenn nur der Gesamtwert im Sinne einer Wahrscheinlichkeit für kontraproduktives berufliches Verhalten interpretiert wird, ist auch die Interpretationsobjektivität gesichert. Allenfalls könnte die Bereitstellung von Profilblättern einer Subtest–Interpretation Vorschub leisten. Die Ausprägungen auf den Subskalen sollen jedoch nur bei besonderen Fragestellungen genutzt werden, und nur dann, wenn auch Anforderungsanalysen bei „Besonderheiten der spezifischen Position oder Organisation“ (Marcus, 2006, Manual S. 36) dies nahelegen. Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation der Testwerte werden ebenso aufgeführt wie Warnungen zur Überinterpretation / -gewichtung einzelner Antworten
Normierung
Die Normen für den IBES-Gesamtwert und die neun Subskalen werden als Prozentränge und als Stanine-Werte mitgeteilt. Die Normierungsstichprobe (N = 332) bestand aus externen Bewerberinnen und Bewerbern auf Stellen niedrigerer bis höherer Qualifikationsanforderungen der teilnehmenden Firmen, vorwiegend des Einzelhandels. Da, wie der Testautor nachweist, Selbstdarstellungstendenzen in der realen Bewerbung im Vergleich zu Forschungs- oder simulierten Bewerbungskontexten zu höheren IBES-Gesamtwerten führen, ist die Normstichprobe des IBES für den angezielten Anwendungsbereich angemessen. Die Normen sind nicht nach Berufsgruppe, Branche, Alter oder Geschlecht differenziert, deren Effekte allerdings – nachvollziehbar – nicht in ihrem Einfluss auf den IBES-Gesamtwert nivelliert werden sollten. Die Datenerhebung für die Normierung erfolgte größtenteils zwischen Sommer 2002 und Herbst 2003. Da gerade Einstellungen deutliche Zeittrends aufweisen können, ist die Vorlage neuer Normen wünschenswert.
Zuverlässigkeit
Es liegen Angaben zur internen Konsistenz vor (5 Stichproben: N = 175 – 332; 1 – 3: Studierende, 4: Berufstätige, 5: Bewerber). Cronbachs α liegt für den Gesamtwert des IBES mit ≥ .91 in einem (aufgrund der Testlänge auch erwartbar) sehr guten Bereich, für die Dimensionen Einstellungen (≥ .89) und Eigenschaften (≥ .83) in einem guten Bereich. Für die Subskalen schwankt Cronbachs α mitunter stark (.38 – 87). Die Subskala Zurückhaltung weist, v. a. in Stichprobe 4 und 5, eine sehr geringe interne Konsistenz auf, was der Autor auch kritisch diskutiert. Da das IBES Prognosen auf zukünftiges Verhalten erlauben soll, ist die Retest-Reliabilität allerdings der angemessenere Reliabilitätsschätzer. Diese (Intervall ca. 5 Monate) kann mit Ausnahme der Subskala Vorsicht (rtt = .68) als gut bis sehr gut eingeschätzt werden (rtt = .76 bis .90). Leider beruhen die Koeffizienten nur auf einer sehr kleinen Stichprobe (N = 28), was dringend durch umfassendere Stichproben verbessert werden sollte.
Gültigkeit
Verschiedene Studien zeigen eine gute Validität des IBES. Konstruktvalidität: Die Subskalen folgten jeweils einem eindimensionalen Messmodell, waren aber untereinander heterogen (r = 0.22 bei Studierenden, bei Stellenbewerbern erwartet höher mit 0.35). Personen mit niedrigem IBES-Gesamtwert (= hoher Kontraproduktivität) wiesen zum Beispiel im NEO-PI-R höheren Neurotizismus sowie Reizhunger und in verschiedenen Facetten niedrigere Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit auf. Die Korrelation zur allgemeinen Intelligenz war null. Erwartungskonforme Korrelationen des IBES zu Devianz, akademischer Leistung und Belohnungsaufschub konnten für Studierende, zwischen IBES und kontraproduktivem Verhalten, beruflicher Leistung und Arbeitszufriedenheit für Berufstätige nachgewiesen werden. Laut Testautor stellt der IBES-Gesamtwert „das aussagekräftigste Datum“ dar, da verschiedene Subskalen zur „Aufklärung unterschiedlicher Kriterien“ beitragen (Marcus, 2006, Manual S. 51). Ein Nachweis prädiktiver Validität wäre wünschenswert.
Weitere Gütekriterien
Die Ökonomie des IBES ist angesichts einer kurzen Durchführungs- und Auswertezeit in Relation zu seinem potentiellen Nutzen hoch. Die Nützlichkeit des IBES wird dadurch unterstrichen, dass nordamerikanische Integrity Tests eine für die Bewerberauswahl nach der Allgemeinen Intelligenz höchste inkrementelle Validität aufweisen (Schmidt & Hunter, 1998), im Deutschen aber kein vergleichbares, öffentlich zugängliches Verfahren existierte. Wie jeder Einstellungs- und Eigenschaftstest ist das IBES verfälschbar, insbesondere durch Selbstdarstellungstendenzen im Kontext der Bewerbungssituation: Sie führen zwar zu höheren Testwerten, weshalb die Normen aus einer Stellenbewerber-Stichprobe erstellt wurden, nicht aber zu einer Verminderung der Kriteriumsvalidität. Die Skalierbarkeit wurde nicht nachgewiesen. Die Anwendung des probabilistischen statt des klassischen Testmodells ist bei stark heterogenen Konstrukten, wie sie in den Gesamtwert des IBES eingehen, aber auch fraglich.
Abschlussbewertungen / Empfehlungen
Mit dem im Jahr 2006 erschienenen IBES liegt das erste deutschsprachige Persönlichkeitsverfahren in der Art eines Integrity Tests vor und damit ein Verfahren, welches in der Personalauswahl in diesem Sprachraum als öffentlich zugängliches Verfahren fehlte. Kontraproduktives Verhalten, das schädigend für den Arbeitgeber und die Mitarbeiter ist und hohe gesamtwirtschaftliche Kosten verursacht, soll vorhersagbar werden. Theoretische Vorstellungen zu kontraproduktivem Verhalten sind noch immer vage; der Testautor sieht motivationale Persönlichkeitseigenschaften wie Neigungen und Reizsuche sowie eine mangelnde Impulskontrolle als maßgeblich an. Die Inhalte des Verfahrens werden im Manual verständlich und nachvollziehbar dargestellt. Es liegen klare Anwendungshinweise und Empfehlungen zur Auswertung und zur Interpretation vor. So wird unter anderem vom Einzeleinsatz des IBES klar abgeraten und die Notwendigkeit des Einsatzes weiterer Verfahren mit Relevanz für die Eignungsbeurteilung wird betont. Das IBES ist mit großer Umsicht entwickelt worden und weist eine sehr hohe Objektivität sowie weitgehende Reliabilität und Validität auf. Insbesondere vermag das IBES durch eine heterogene Mischung von Einstellungen und Eigenschaften in seinem Gesamtwert eine hohe Kriteriumsvalidität zu erreichen. Die Normwerte sind von in Bewerbungssituationen vorhandenen Tendenzen zur förderlichen Selbstdarstellung (soziale Erwünschtheit) nicht verfälscht. Der Einsatz des IBES im avisierten Anwendungsfeld kann empfohlen werden. Allerdings muss das Verfahren nach über zehn Jahren seit der Erstveröffentlichung einer Revision unterzogen werden, um (a) die Erforderlichkeit teststatistisch schwächerer Subskalen zu überprüfen, (b) die Aktualität der Normen nachzuweisen und ggf. herzustellen, (c) eine wesentlich größere Stichprobe zur Prüfung der Retest-Reliabilität heranzuziehen und (d) die Bestimmung der prädiktiven Validität an Fremdbeurteilungsdaten und objektiven Daten zu Devianz vorzunehmen.
Diese Testrezension wurde im Auftrag des Testkuratoriums der Föderation deutscher Psychologenvereinigungen (DGPs und BDP) gemäß den TBS-TK-Richtlinien (Testkuratorium, 2009, 2010) erstellt.
Testkuratorium. (2009). TBS-TK. Testbeurteilungssystem des Testkuratoriums der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen. Revidierte Fassung vom 09. September 2009. Report Psychologie, 34, 470 – 478.
Testkuratorium. (2010). TBS-TK. Testbeurteilungssystem des Testkuratoriums der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen. Revidierte Fassung vom 09. September 2009. Psychologische Rundschau, 61, 52 – 56.
Testinformationen
Marcus, B. (2006). Inventar berufsbezogener Einstellungen und Selbsteinschätzungen (IBES). Göttingen: Hogrefe.
Bezugsquelle: Testzentrale Göttingen, Herbert-Quandt-Str. 4, 37081 Göttingen. Test komplett 114,00 €, 10 Fragebogen 20,00 €, 25 Summenblätter 11,00 €, 25 Profilblätter 11,00 €.
Bitte zitieren Sie diesen Artikel wie folgt: Stemmler, G., Strobel, A. & Röhner, J. (2018). TBS-TK Rezension: „Inventar berufsbezogener Einstellungen und Selbsteinschätzungen (IBES)“, Psychologische Rundschau, 69, 90 – 92.
Literatur
1998). The validity and utility of selection methods in personnel psychology. Practical and theoretical implications of 85 years of research findings. Psychological Bulletin, 124 (2), 262 – 274.
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