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Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000492

Vorbemerkungen

Das nachfolgende Positionspapier wurde von der Kommission Studium und Lehre der DGPs 2019 ausgiebig diskutiert und im Februar 2020 fertiggestellt. Wie es die Ironie des Schicksals wollte, überschnitt sich dessen geplante Publikation mit der ersten Welle der Covid-19-Pandemie, einer Phase, in der verantwortungsbewusstes Handeln an Hochschulen Präsenzlehre schlichtweg unmöglich machte. Um zu verhindern, dass unser nachdrückliches Plädoyer für die Präsenzlehre aufgrund der widrigen Umstände ins Leere läuft, entschlossen wir uns, die Publikation vorerst zurückzustellen.

Nun sind einige Monate vergangen, in denen alle Hochschulen gezwungenermaßen intensive Erfahrungen mit digitaler Lehre machen mussten. Viele Kolleginnen und Kollegen haben mehr oder minder erstaunt festgestellt, dass Online-Lehre und Kommunikation technisch inzwischen weitgehend reibungslos funktioniert. Einige von uns haben neue digitale Veranstaltungsformate exploriert, die u. a. dadurch möglich werden, dass digitale Kommunikation und Diskussion nicht mehr zwingend die Anwesenheit der involvierten Personen an einem Ort und zu einer Zeit erfordert. So werden etwa Online-Forschungskolloquien mit Vortragenden und Teilnehmenden aus aller Welt möglich, ohne dass auch nur eine der beteiligten Personen den eigenen Schreibtisch verlassen muss. Viele haben sich ‒ unter Umständen zum ersten Mal in ihrer Laufbahn als Hochschullehrende ‒ mit Möglichkeiten der „asynchronen“ Bereitstellung von Lehrmaterialien (wie Lehr-Videos und interaktiven Tools) befasst und spielen vielleicht mit dem Gedanken, diese Möglichkeiten auch in Zukunft zu nutzen. Und viele haben sich in den vergangenen Monaten intensiver als sonst mit ihren Kolleginnen und Kollegen ausgetauscht, um „best practices“ und „worst case“-Erfahrungen auszutauschen, voneinander zu lernen und ihre didaktischen Methoden zu optimieren1 ‒ Entwicklungen, die wir begrüßen und fördern möchten.

Aber was bedeuten diese Erfahrungen für die Präsenzlehre? Ist Präsenzlehre möglicherweise doch überflüssig? Wurde sie durch die technischen Möglichkeiten moderner digitaler Kommunikation und Interaktion nicht längst überholt? Auch nach den Erfahrungen der letzten Monate möchten wir dem entschieden widersprechen und das nachfolgende Positionspapier in allen Teilen erneut bekräftigen. Wir haben in den letzten Monaten nicht nur erlebt, dass Online-Lehre technisch funktioniert, wir haben auch erlebt, dass Seminarbeteiligung und -interaktion in Online-Seminaren eingebrochen sind. Interesse oder Desinteresse der Studierenden sind in Online-Lehrveranstaltungen kaum zu diagnostizieren und interaktive Gruppenarbeiten in Seminaren oder Tutorien schwieriger zu realisieren, ganz zu schweigen von dem Problem, praktische Fertigkeiten mit Aussicht auf Erfolg einzuüben. Viele Kommunikationskanäle sind in der Online-Lehre schlicht abgeschnitten. Manche haben es als quälend und demotivierend erlebt, auf einen Bildschirm zu blicken, der Studierende auf schwarze Kacheln mit Namen, Initialen oder Pseudonamen reduziert, so dass oft jegliches Feedback ausbleibt. Wer von uns hat nicht zumindest einmal die Studierenden gebeten, die Videoverbindung einzuschalten, um ein Minimum an Feedback zu erhalten? Gute, engagierte Lehre und effizientes Lernen lebt entscheidend von der direkten Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden unter Nutzung aller kommunikativer Kanäle, was allein in der Präsenzlehre optimal realisierbar ist. Online-Lehre kann ein sinnvolles Ergänzungsmittel sein, ist aber nicht mehr als eine Notlösung, wenn sie nicht in ein umfangreiches Präsenzlehrkonzept eingebettet wird.

Präsenzlehre in der Psychologieausbildung

Es mag überflüssig erscheinen darauf hinzuweisen, dass Präsenzveranstaltungen in der universitären Ausbildung unverzichtbar sind. Auch die Autorinnen und Autoren dieses Beitrags hätten es noch vor wenigen Jahren für müßig befunden, eine Selbstverständlichkeit wie diese als These zu Papier zu bringen. Zwischenzeitlich hat sich die Sachlage an den Universitäten jedoch verändert. Zwei Entwicklungslinien waren hierfür vor allem verantwortlich: (1) der politische Druck zur pauschalen Abschaffung der Anwesenheitspflicht in universitären Lehrveranstaltungen sowie (2) die zunehmende Verbreitung von E-Learning-Konzepten an Hochschulen, von denen bisweilen angenommen wird, dass sie klassische Lehr-Lern-Formate ersetzen können oder diesen gar überlegen sind. Greifbare Indizien veränderter politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen sind erfolgreiche Klagen von Studierenden gegen die Präsenzpflicht in Lehrveranstaltungen, so geschehen beispielsweise an der Universität Mannheim („Richter kippen Anwesenheitspflicht an Uni Mannheim“, 2017). Die Verzichtbarkeit der Präsenzforderung wird oftmals damit begründet, dass der Erwerb erforderlichen Wissens und fachlicher Kompetenzen vor allem durch Nutzung moderner digitaler Kommunikationskanäle und Medien in Verbindung mit innovativen E-Learning-Formaten auch ohne regelmäßige Mitarbeit von Studierenden in Lehrveranstaltungen möglich sei.

Wir argumentieren, dass es − ungeachtet der unbestreitbaren Vorteile und Chancen moderner E-Learning-Konzepte in der universitären Lehre − besonders in einem Studienfach wie der Psychologie fundamentale zu vermittelnde Inhalte und Fertigkeiten gibt, die sich nicht anders als im Rahmen von betreuungsintensiven Veranstaltungen mit Präsenz- und Mitarbeitspflicht auf der Seite der Studierenden vermitteln lassen. Das vorliegende Papier soll Argumentationshilfen anbieten für all jene Lehrenden, die versuchen, solche Präsenz- und Mitwirkungspflichten in Prüfungs- und Studienordnungen festschreiben zu lassen, und dabei bei ihren Studierenden, ihren Hochschulverwaltungen oder ihren Landesregierungen auf Widerstand stoßen.

Mit der Fokussierung auf die Psychologie soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass die Argumente nur für das Fach Psychologie gelten. Ganz im Gegenteil: Viele unserer Argumente lassen sich strukturgleich auf andere akademische Fächer übertragen. Unsere Intention ist es jedoch, auf einige Entwicklungen speziell im Fach Psychologie einzugehen, mit der expliziten Zielsetzung, eine vielfältige und qualitativ hochwertige Psychologieausbildung auch für die Zukunft zu sichern (Abele-Brehm et al., 2014, 2015; Fiedler et al., 2016; Spinath et al., 2018; Wissenschaftsrat, 2018).

Das Ergebnis unserer Analyse besteht – das sei an dieser Stelle vorweggenommen – darin, dass Präsenzveranstaltungen in der universitären Psychologieausbildung immer dann eine wichtige Rolle spielen, wenn es um mehr als den Erwerb von bloßem Faktenwissen geht. Es spricht nichts dagegen, Präsenzangebote mit passenden E-Learning-Angeboten zu ergänzen, aber die angestrebte Wissens- und Kompetenzvermittlung lässt sich unserer Meinung nach durch E-Learning allein nicht oder nicht in derselben Qualität erreichen.

Die Bedeutung von Präsenzlehre für Lernerfolg und Kompetenzerwerb

Die Psychologie ist keine Wissenschaft, welche man sich ausschließlich durch die Lektüre von Texten aneignen kann. Zentral ist in der Psychologie − neben der Vermittlung relevanter theoretischer Konzepte, Menschenbilder und Denkschulen − ein vertieftes Verständnis für und der kompetente Umgang mit natur- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungstechniken, mathematischen und statistischen Analysemethoden sowie die Fähigkeit zur Entwicklung, Anwendung und Evaluation diagnostischer Verfahren und psychologischer Interventionstechniken. Ebenfalls wichtig ist die Fähigkeit, erlerntes Theorie- oder Methodenwissen auf neue Fragestellungen korrekt zu übertragen, dieses Wissen angemessen umzusetzen und so die Kompetenz zu eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit zu erwerben (Spinath et al., 2018). Der Erwerb von Forschungskompetenz ist ein unverzichtbares Ziel universitärer Psychologieausbildung, ganz unabhängig davon, ob man später einmal in der Wissenschaft oder in einem der vielen „praktischen“ Berufsfelder, in denen Psychologinnen und Psychologen dringend benötigt werden, tätig ist.

In Präsenzveranstaltungen können aktuelle Fortschritte und Probleme reflektiert und gemeinsam mit den Dozierenden und anderen Studierenden lösungsorientiert bearbeitet werden. Dieser Austausch fördert auch die Selbstreflexion des eigenen Wissenserwerbs und Lernfortschritts. Präsenzveranstaltungen tragen zudem dazu bei, dass Lehrende zu Vorbildern werden in ihrer spezifischen Art, an Probleme heranzugehen (z. B. bei der Versuchsplanung), Inhalte zu reflektieren (z. B. bei der methodenkritischen Rezeption einer wissenschaftlichen Arbeit) oder eine bestimmte Technik (z. B. Gesprächsführung) anzuwenden. Studierende lernen in der konkreten Anschauung und interaktiven Auseinandersetzung mit Lehrenden und anderen Studierenden somit mehr, als sich in einem Lehrbuch darstellen oder in einem internetbasierten Quiz abprüfen ließe. Schließlich kann auch die Befähigung zu wissenschaftlichem Diskurs – einschließlich der Kompetenz, Inhalte zu präsentieren, zu reflektieren, zu kritisieren und zu verteidigen – in erster Linie nur durch direkte Interaktion mit anderen Studierenden und den Lehrenden erworben werden. Dies gilt prinzipiell für alle Unterrichtsformen, die in der universitären Psychologieausbildung vorkommen. Wir werden deshalb die verschiedenen Unterrichtsformen zunächst der Reihe nach im Hinblick auf die Bedeutung der studentischen Mitarbeit in Lehrveranstaltungen diskutieren. 

Praktika, Projektseminare und Fallseminare

Ein Beispiel aus dem Bachelorstudium ist das experimentalpsychologische Praktikum (manchmal auch als „empirisches Praktikum“ bezeichnet), das Studierenden erstmals die Realisierung einer Forschungsidee mit darauf abgestimmtem Versuchsplan und zugehörigen statistischen Auswertungsmethoden abverlangt. Darüber hinaus sind die Ergebnisse in Bezug auf die Forschungsfrage zu interpretieren, in einem Forschungsbericht lege artis schriftlich darzulegen und / oder in Form eines wissenschaftlichen Vortrags oder Posters anderen Studierenden und Lehrenden vorzustellen. Auch wenn moderne Medien (z. B. zur Präsentation der durchgeführten Studie) und E-Learning-Elemente (z. B. Diskussionsforen zwecks Austausch zwischen den Lehrveranstaltungen) didaktisch sinnvolle Ergänzungen ermöglichen, können solche Konzepte doch nicht das gemeinsame Diskutieren und Erarbeiten des bestmöglichen Designs, der bestmöglichen Operationalisierung, der bestmöglichen Art der Datenauswertung etc. ersetzen. Auch die Fertigkeit, das eigene Projekt vorzustellen und zu verteidigen, erfordert die Präsenz aller Beteiligten in einem realen Raum anstatt in einer virtuellen Umgebung.

Praktika zur Einübung von Gesprächsführungstechniken, zur wissenschaftlichen Verhaltensbeobachtung und zur Testkonstruktion sind weitere Beispiele dafür, dass bestimmte Inhalte, Kenntnisse und Fertigkeiten nur sinnvoll in Kleingruppen, mit Präsenzpflicht und unter engmaschiger Betreuung der Dozierenden vermittelt werden können. Dabei geht es auch um die Vermittlung einer Diskussionskultur, Argumentationskompetenz sowie um das gemeinsame supervidierte Problemlösen. Hier werden zudem neben fachspezifischen auch soziale Fertigkeiten vermittelt und es wird Gelegenheit zum Modelllernen gegeben. Selbstverständlich können E-Learning-Konzepte u. U. ergänzend eingesetzt werden, etwa um eine Link- und Materialsammlung anzulegen, um Zwischenevaluationen von Veranstaltungen durchzuführen etc. Jedoch ist insbesondere für die Vermittlung von sozialen Kernkompetenzen (z. B. Gesprächsführungs-‍, Moderations- oder Argumentationskompetenzen) die physische Präsenz aller Beteiligten essentiell.

Auch in der Masterausbildung spielen interaktive Kleingruppenveranstaltungen eine wichtige Rolle. Ein Beispiel sind die Projektseminare für das Erlernen eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit, die auch in den Empfehlungen der DGPs für das Masterstudium eine wichtige Rolle einnehmen (Abele-Brehm et al., 2015). Projektseminare widmen sich der Entwicklung und konkreten Umsetzung einer neuen Forschungsidee, häufig angelehnt an die an der jeweiligen Universität vertretenen psychologischen Forschungsschwerpunkte. Außerdem vermitteln sie die für eine Masterarbeit in der Psychologie notwendigen Kenntnisse, Kompetenzen und Fertigkeiten. Dies kann – abhängig vom Forschungsthema – beispielsweise bedeuten, dass man sich in anspruchsvolle behaviorale oder biopsychologische Untersuchungstechniken einarbeitet oder den professionellen Umgang mit Betriebsräten lernt. Im direkten Kontakt und gegenseitigen Austausch zwischen Studierenden, verbunden mit der Betreuung durch Lehrende, lassen sich diese vielfältigen und teilweise komplexen Kompetenzen effektiver und mit einem tieferen Verständnis erwerben, als dies durch ein textgestütztes Selbststudium oder durch Interaktion in einem rein virtuellen Raum möglich wäre.

Weitere Beispiele auf Masterebene sind Gutachtenseminare oder Fallseminare in den Anwendungsfächern, bei denen simulierte oder auch reale Fälle vorgestellt und diagnostiziert sowie Interventionen auf individueller, Team- oder Organisationsebene geplant und umgesetzt werden. Aufgabenstellungen wie das Erlernen von Gesprächsführungsstilen im Erstgespräch mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die Auftragsklärung oder Anamneseerhebung oder die Durchführung diagnostischer Interviews am konkreten Einzelfall müssen praktisch eingeübt und selbstkritisch sowie unter Berücksichtigung von Feedback der Dozierenden und Studierenden reflektiert und exemplarisch unter Mitwirkung der Studierenden durch Dozierende realisiert werden. Bei Fallbeispielen von Menschen mit der Diagnose einer psychischen Störung muss außerdem ein konkreter individualisierter Behandlungsplan entworfen und unter Anleitung fachkundig diskutiert und optimiert werden. Dies kann nur in kleinen Arbeitsgruppen und unter Anleitung und Supervision von Dozierenden geschehen, die über einen entsprechenden Fachkundenachweis verfügen. Bei Gutachtenseminaren, in denen Studierende üben, psychologische Gutachten zu erstellen, ist es essentiell, alternative Lösungswege kennenzulernen, den eigenen Standpunkt im Diskurs mit anderen kritisch zu durchleuchten und die Gleichwertigkeit verschiedener Ergebnisse des Begutachtungsprozesses kennen und beurteilen zu lernen.

Seminare

Seminare als ein zentrales Element der universitären Ausbildung sollten im Curriculum des Psychologiestudiums einen hohen Stellenwert haben und möglichst in jedem Modul vertreten sein (Abele-Brehm et al., 2014, 2015). Seminare sind − im Vergleich zu Vorlesungen − wesentlich besser geeignet, wissenschaftliche Inhalte zu vertiefen. Ein gutes Seminar folgt einer klaren Struktur, einem nachvollziehbaren Ablauf, einem sinnvollen didaktischen Konzept und regt explizit zu einer auf Diskurs beruhenden interaktiven Auseinandersetzung mit dem Lernstoff an. Das Niveau, auf dem der behandelte Lehrstoff gemeinsam durchdrungen werden kann, ist immer abhängig von den didaktischen Fähigkeiten der Lehrenden, den Vorbedingungen auf Seiten der Studierenden sowie den Rahmenbedingungen ‒ aber die regelmäßige Anwesenheit und aktive Mitarbeit aller Studierenden ist auch hier eine notwendige Voraussetzung zur Erreichung der Lehrziele. Aus diesem Grund ist es klar abzulehnen, wenn Vertiefungsseminare auf reine Referateseminare reduziert werden, die keinerlei Interaktivität beinhalten. Stattdessen sollten Seminare eine umfassende Interaktion und den Diskurs zwischen Studierenden beinhalten und einem kohärenten Konzept folgen (in welchem es durchaus auch von Lehrenden gut eingebundene studentische Referate geben kann). Gute Seminare sollten folglich als unverzichtbare Elemente eines psychologischen Curriculums auf Bachelor- und − noch wichtiger − auf Masterebene gelten. Aus didaktischen Gründen erfordern gute, lernzielorientierte und interaktiv gestaltete Seminare eine vertretbare Obergrenze an Studierenden pro Kurs (max. 30 Studierende im Bachelor und max. 20 Studierende im Master). Der damit einhergehende hohe Anteil seminaristischer Veranstaltungen an der gesamten akademischen Lehre ist ein wichtiger Grund dafür, warum die curricularen Normwerte für qualitativ gut ausgelegte universitäre Bachelor- wie auch Masterstudiengänge jeweils oberhalb eines Curricularwertes von CNW = 3 einzuordnen sind (Erdfelder & Geisberger, 2007).

Vorlesungen

Es erscheint manchen als Anachronismus, dass sich Studierende wöchentlich für 90 Minuten zu einer fixen Zeit und an einem bestimmten Ort dem meist monologischen Vortrag eines Dozierenden widmen müssen. Zeitgemäßer sei es, Videos von Vorlesungen anzubieten (ggf. unterstützt durch Textmaterial), was den Studierenden die Möglichkeit gäbe, den Zeitpunkt und den Ort des Lernens ihren Bedürfnissen entsprechend frei zu wählen sowie Tempo und Wiederholungsrate des Videos so zu kalibrieren, dass es ihren Vorkenntnissen, ihren Sprachkenntnissen oder ihren zeitlichen Möglichkeiten optimal entspricht.

Es ist in forschungsmethodischer, praktischer und auch ethischer Hinsicht schwierig, die Wirksamkeit von Lehr-Lernformaten mit unterschiedlichen Anwesenheitsbedingungen zu untersuchen. Die Ergebnisse aus korrelativen Studien sind konsistent und zeigen, dass die Lernergebnisse von Studierenden, die häufiger in Lehrveranstaltungen anwesend waren, besser sind als von denjenigen, die weniger anwesend waren (z. B. Metaanalysen von Credé, Roch & Kieszczynka, 2010; Schulmeister, 2015). In der Metaanalyse von Credé et al. (2010) erwies sich die Anwesenheit in Lehrveranstaltungen als der stärkste Prädiktor der studentischen Leistungen. Experimentelle Befunde sind einerseits sehr viel seltener zu finden, beruhen zum Teil auf nicht gut kontrollierten Designs und kommen zu inkonsistenten Befunden (z. B. Golding, 2011). Die Metaanalyse von Credé et al. (2010) identifizierte drei Studien, die die Lernleistung unter Anwesenheitspflicht versus keine Anwesenheitspflicht verglichen und weist ebenfalls positive Effekte der Anwesenheit auf die durchschnittliche Leistung aus.

Natürlich gibt es heute nicht mehr nur die Dichotomie „Präsenzvorlesung“ versus „Videovorlesung“. E-Learning-Formate wie die Inverted-Classroom-Methode sind ein Beispiel für neuere Lehr-Lern-Formate. Dabei sehen sich Studierende in der Regel einzelne Sitzungen der Vorlesung auf Video an und erarbeiten sich eigenständig die Inhalte; im Plenum werden diese Inhalte anschließend mit den Dozierenden interaktiv diskutiert und Verständnisfragen geklärt (für einen Überblick siehe z. B. Chen, Monrouxe, Lu, Jenq, Chang, Chang & Chai, 2018; DeLozier & Rhodes, 2017). Auch wenn die Inverted-Classroom-Methode in Bezug auf den Lerngewinn empirisch zumindest nicht schlechter als die traditionelle Vorlesung abschneidet (z. B. Chen et al., 2018; van Alten, Phielix, Janssen & Kester, 2019), so setzt auch diese Methode voraus, dass wesentliche Lernprozesse im Plenum, d. h. unter der Bedingung physischer Präsenz, stattfinden. Hier können Inhalte aktiv erarbeitet und vertieft werden sowie in direkter Interaktion unterschiedliche Interpretationen des Lernstoffs diskutiert und Verständnisfragen geklärt werden. Entsprechend zeigt eine Metaanalyse, dass die Lernergebnisse bei der Methode des Inverted Classroom dann am besten waren, wenn die Face-to-Face Zeit zwischen Studierenden und Lehrenden im Vergleich zu traditionellen Vorlesungsformaten nicht reduziert wurde (van Alten et al., 2019). In der Konsequenz bedeutet das, dass sich der Gesamtzeitbedarf für Präsenzlehre bei Verwendung anspruchsvoller Inverted-Classroom-Konzepte gegenüber der traditionellen Vorlesung nicht reduziert.

Wer sich nur Videoaufzeichnungen von Vorlesungen anschaut, wird vermutlich quantitativ weniger und qualitativ schlechter lernen. Informationen ausschließlich in Form von Video- oder Audiomitschnitten zum Selbststudium bereitzustellen, unterschätzt die didaktischen Möglichkeiten der Präsenzlehre. So konnten schon Schober und Clark (1989) am Beispiel des Lösens von Tangram-Aufgaben experimentell zeigen, dass Probandinnen und Probanden mehr Wissen aus einer verbal vermittelten Lernepisode mitnahmen und später korrekt umsetzen konnten, wenn sie bei der verbalen Schilderung und Erörterung der Lösungsmöglichkeiten anwesend waren („addressees“), als wenn sie in einer Kontrollbedingung lediglich eine Aufnahme der Schilderung und Erörterung hörten („overhearer“). Anders als „overhearer“ können „addressees“ direkt mit Lehrenden interagieren, d. h. vorhandenes oder auch nicht vorhandenes Verständnis für den Vortragsinhalt zum Ausdruck bringen und damit beeinflussen, welchen weiteren Verlauf der Vortrag nimmt, was ihrem Gesamtverständnis zugutekommt.

Rechtliche Aspekte von Präsenz- und Mitarbeitspflicht

Die vorstehenden Abschnitte haben deutlich gemacht, dass der Erwerb zentraler psychologischer Kompetenzen die Mitarbeit der Studierenden in Lehrveranstaltungen voraussetzt. Dennoch sehen eine Reihe von Bundesländern eine Anwesenheitspflicht in universitären Lehrveranstaltungen als obsolet an und haben dies in den landesrechtlichen Rahmenbedingungen entsprechend verankert (s. die detaillierte Übersicht über landesspezifische Regelungen in Tabelle 1). Praktisch bedeutet das, dass Anwesenheitspflicht-Regelungen in Prüfungs- und Studienordnungen sehr engen landesrechtlichen Restriktionen unterworfen werden, die einem Verbot für fast alle Lehrveranstaltungstypen gleichkommen (derzeit in Bremen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen).

Tabelle 1 Landesspezifische Regelungen zur Anwesenheitspflicht in Lehrveranstaltungen (Stand November 2019)

Wir halten derartige landesrechtliche Zwangskorsette nicht nur für hochschuldidaktisch schädlich und qualitativ guter universitärer Ausbildung abträglich, sondern auch für unvereinbar mit der grundgesetzlich verankerten Freiheit von Forschung und Lehre. Hinzu kommt, dass auch das jüngst verabschiedete Gesetz für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (2019) und die Approbationsordnung (2020, PsychThApprO § 5‍(2)) Präsenz in Lehrveranstaltungen, in denen praktische Kompetenzen erworben werden, explizit vorsieht. Für zukünftige Psychologiestudiengänge, die zur Approbation in Psychotherapie führen, sind daher Präsenzforderungen in Prüfungsordnungen auch in juristischer Hinsicht unverzichtbar.

Aus diesen Gründen begrüßen wir ausdrücklich die sich in einigen Bundesländern abzeichnende Tendenz, das Verbot, Mitarbeits- und Präsenzpflicht zu fordern, wieder aufzuheben und den verantwortlichen Fakultätsgremien die Entscheidung zu überlassen, ob und in welchem Umfang sie Präsenz- und Mitarbeitspflicht in universitären Lehrveranstaltungen unterschiedlichen Typs für notwendig halten. Nordrhein-Westfalen ist ein positives Beispiel in dieser Hinsicht, weil das Verbot von Präsenzpflicht dort inzwischen wieder abgeschafft wurde (Hartung & Pausch, 2018). In anderen Ländern regt sich Widerstand, der in dieselbe Richtung zielt. In Thüringen etwa haben 32 Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer Verfassungsbeschwerde gegen das neue Thüringer Hochschulgesetz beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, u. a. wegen der dort verankerten Regelung, dass die Teilnahme von Studierenden an Lehrveranstaltungen nicht verpflichtend ist („Thüringer Hochschulgesetz verfassungswidrig?“, 2019). Wir unterstützen die Forderung, Verbote von Präsenzpflicht in allen Bundesländern aufzuheben. Die Universitätsgremien allein können sinnvoll darüber entscheiden, ob und in welchen Lehrveranstaltungen Mitarbeit und somit Präsenz von Studierenden in Lehrveranstaltungen unverzichtbar ist. Universitäts- und fachspezifische Prüfungs- und Studienordnungen sowie Modulhandbücher sind folglich der richtige Ort für derartige Regelungen, nicht Landeshochschulgesetze (vgl. Epping, 2012).

Fazit

Qualitativ hochwertige Psychologieausbildung zielt nicht nur auf die Vermittlung eines breiten und hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Fundierung reflektierten Fakten-‍, Theorie- und Methodenwissens ab, sondern auch auf den Erwerb konkreter Fertigkeiten und Kompetenzen sowie fachlich elaborierter Techniken, die wissenschaftliche Forschung erst möglich machen. Die Universitätsausbildung muss außerdem die notwendigen Kompetenzen für eine anspruchsvolle und eigenverantwortliche Berufstätigkeit in den zentralen Anwendungsfeldern der Psychologie vermitteln. Die hier aufgezeigten Argumente belegen, dass dies häufig nur in Präsenzveranstaltungen – mit aktiver Beteiligung und Interaktion zwischen Studierenden und Lehrenden – erreichbar ist. Prüfungs- und Studienordnungen sollten dies klar zum Ausdruck bringen. Dies wiederum setzt voraus, dass die Länder die Rahmengesetzgebungen so gestalten, dass eine Verankerung der Mitarbeitspflicht in universitären Lehrveranstaltungen der Psychologie ‒ wo immer dies aus didaktischen Gründen geboten ist ‒ ohne rechtliche Hürden möglich ist.

Für die Kommission Studium und Lehre.

Literatur

1wie etwa die von den Jungmitglieder-Vertreterinnen und -Vertretern in der DGPs eingerichtete Slack-Plattform zum Thema „Digitale Lehre in der Psychologie“ mit speziellen Channels zu den Themen Seminare, Vorlesungen, Abschlussarbeiten und Prüfungen

Prof. Dr. Edgar Erdfelder, Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Mannheim, A5, 68159 Mannheim,