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Open AccessStudie

TooCloseVR – Die Entwicklung eines Präventionsprogramms zur Verhinderung von Cyberbullying mittels immersiver Technologien

Published Online:https://doi.org/10.1026/0942-5403/a000445

Abstract

Zusammenfassung:Theoretischer Hintergrund: Die Anzahl der Opfer von Cyberbullying (CB) ist im letzten Jahrzehnt deutlich gestiegen und die Konsequenzen von CB für die psychische Gesundheit immens. Derzeit besteht ein Mangel an immersiver digitaler Prävention, die an der Lebensrealität der Jugendlichen ansetzt. Fragestellung: Die Pilotstudie untersucht die Umsetzbarkeit und die Auswirkungen eines ½- tägigen Präventionsprogramms zu Verhinderung von CB und basiert auf einer Virtual Reality (VR) Anwendung die auf der Grundlage der Verletzung des persönlichen Raumes basiert. Methode: Die Pilotstudie untersucht an 92 Schüler_innen quantitativ und qualitativ die Effekte einer VR-Anwendung zur Prävention von CB. Ergebnisse: Die quantitativen Daten bestätigen die erwartete Erhöhung der emotionalen Anspannung und des Engeerlebens. Die qualitativen Daten sprechen in diesem Zusammenhang für eine Erhöhung der Empathie für die Opfer und eine große Bereitschaft bei CB einzugreifen und andere davor zu schützen. Diskussion und Schlussfolgerung: Immersive Methoden, wie VR, ermöglichen es in die Erlebniswelt von Opfern einzutauchen. Dadurch bieten sich neue Wege zur Prävention von CB. Die Wirksamkeit des Ansatzes sollte in der Folge durch konfirmatorische Studien geprüft werden.

TooCloseVR – The Development of a Program to Prevent Cyberbullying Using Immersive Technologies

Abstract:Theoretical background: Cyberbullying (CB) endangers the physical and mental health of children and adolescents. Because of the omnipresence of new social media, the victims of CB can hardly distance themselves. In contrast, the perpetrators often do not experience the consequences of their actions because of virtual distance. CB increased during the COVID-19 pandemic. The need for prevention is particularly relevant for younger students (grades 5 – 9). Yet, there is a lack of prevention programs to address the digital reality of the target audience and reach both victims and perpetrators simultaneously. Objective: The innovative idea behind this pilot study is to make CB tangible by using personal space invasion (PSI) in virtual reality (VR) to strengthen empathy for victims. This article pilots the feasibility of a universal prevention approach with VR program components in a school setting. Method: We examined this goal by conducting a half-day workshop with 92 students from the 8th grade, which informed students about CB and the experience of being bullied in VR, discussed their experiences, and ultimately helped them to acquire skills for dealing with CB. Results: The quantitative data confirm the expected increase in emotional tension and the feeling of tightness. They also indicate increased empathy for the victims and a strong willingness to intervene in cases of CB and protect others. Discussion and conclusion: Immersive methods, such as VR, allow us to engage with the world of victims. This stimulates new avenues for the prevention of cyberbullying. We suggest confirmatory studies to examine the effectiveness of this approach.

Wenn uns Menschen ungefragt zu nahekommen, empfinden wir dies in der Regel als unangenehm. Daher versuchen wir einen gewissen Abstand zwischen uns und anderen zu wahren, um eine „Verletzung des persönlichen Raums“ (engl. Personal Space Invasion, PSI) zu vermeiden. Die PSI ist nicht nur eine metaphorische Beschreibung, sondern bezieht sich auf ein bewährtes psychologisches Konzept, das von Felipe und Sommer (1966) geprägt wurde und auf jede Form der Verletzung vermuteter Normen des Abstands verweist. Die PSI kann auch für Opfer von Cyberbullying (CB) relevant sein, mit dem Unterschied, dass Beleidigungen und Verleumdungen aufgrund der Omnipräsenz sozialer Medien nicht so einfach auf Distanz gehalten werden können. Digitale Geräte sind heutzutage allgegenwärtig und dringen daher unausweichlich in unsere persönlichen (Lebens–)‌Räume ein.

Eine einheitliche Definition von CB existiert bisher nicht. Übereinstimmend in vorliegenden Definitionen ist, dass CB Beleidigungen, Bedrohungen, Bloßstellungen oder Belästigungen durch Kommunikationsmedien (z. B. E-Mails, Websites, Chats) beinhaltet (Notar et al., 2013). Der größte Unterschied zwischen offline-Bullying und CB ist, dass die Täter_innen nicht körperlich schnell oder stark sein müssen, sondern lediglich einen Computer oder ein Smartphone benötigen. Damit wird der Terminus des Machtungleichgewichts, welcher im offline-Bullying eine wichtige Rolle spielt, nicht mit körperlicher Überlegenheit, sondern mit technischer Überlegenheit, hohem sozialen Status, Anzahl von digitalen Freunden oder einer hohen Position in der medialen Gruppe gleichgesetzt (Smith et al., 2013). Durch den hohen Durchdringungsgrad und die Allgegenwärtigkeit sozialer Medien beginnt und endet der Tag vieler Jugendlicher mit dem Blick auf das Smartphone (Heeg & Steiner, 2021). Durch diese Omnipräsenz der Digitalisierung verstärken sich beim CB die negativen Effekte für die Opfer durch folgende Punkte: 1) Anonymität – Die digitale Welt entmenschlicht, dadurch bleiben die Täter_innen unerkannt und die Empathie gegenüber den Opfern sinkt, weil die Konsequenzen ihres Handelns nicht mehr unmittelbar sichtbar sind (Patchin & Hinduja, 2006). 2) Größere Reichweite – Die digitalen Angriffe erreichen ein größeres Publikum und sind nicht auf einen bestimmten Ort (Schule, Pausenhof, etc.) begrenzt und können auch von einer anderen Person als dem_der Täter_in weitergleitet werden (Patchin & Hinduja, 2006). 3) Längerer Zeitraum – CB ist nicht auf das reale Aufeinandertreffen von Täter_innen und Opfer beschränkt. Das Opfer kann über 24 Stunden „angegriffen“ werden. Zudem sind Posts, Kommentare, etc. im Internet immer abrufbar. Erschwerend kommt beim CB hinzu, dass die Opfer den Eltern häufig nichts über die Taten berichten, weil sie Sorge haben, dass diese ihnen die technischen Geräte zum Schutz vor weiteren Angriffen abnehmen (Kowalski et al., 2012). Diese Unterschiede indizieren Desiderate bei der Gestaltung von Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen, die aktuell vornehmlich offline-Bullying adressieren (Polanin et al., 2021).

Häufigkeit und Folge von Cyberbullying

Die Studie von Ossa et al. (2022) bestätigt mit 7.6 % die geringere Häufigkeit von CB im Vergleich zu offline-Bullying (22,6 %), weist allerdings eindrücklich auf die Folgen für die mentale Gesundheit (z. B. Selbstverletzungen, Suizidalität und Probleme in der Emotionsregulation) hin. Die Metaanalyse von Moore et al. (2017) untermauert diese Ergebnisse unter Berücksichtigung von 165 Studien und zeigt, dass die Entwicklung von psychosomatischen Problemen, Depressionen, Angststörungen, Selbstverletzungen und Suizidalität Konsequenzen von CB sein können. Die beschriebenen negativen Folgen sind stärker bei jüngeren Schüler_innen (5.– 9. Klasse) und Mädchen ausgeprägt (Marcum et al., 2014; Ossa et al., 2022). Abschließend kann ergänzt werden, dass Opfer besonders im Rahmen von CB häufig auch zu Täter_innen werden (Ossa et al., 2022). Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass CB schwere Auswirkungen auf die mentale Gesundheit hat und jüngere Schüler_innen und das weibliche Geschlecht Risikofaktoren darstellen. All dies unterstreicht die Bedeutung einer Prävention von Übergriffen im digitalen Raum in einer jungen Altersgruppe (5.–9. Klasse).

Steigerung der Empathie als Ansatz für Prävention von Cyberbullying

Studien haben festgestellt, dass Täter_innen weniger Empathie gegenüber Opfern zeigten als unbeteiligte Beobachter_innen, die Opfer selbst oder Menschen, die noch nicht mit CB konfrontiert waren (Casas et al., 2013; Pfetsch et al., 2014). Die Steigerung der Empathie spielt demnach bei der Prävention von CB eine entscheidende Rolle (Ingram et al., 2019). Die medienbasierte Empathie (MBE) unterscheidet sich von den klassischen Forschungsarbeiten zur kognitiven oder affektiven Empathie (Davis, 1983) und hat im letzten Jahrzehnt zunehmend Aufmerksamkeit erhalten (Happ & Pfetsch, 2016). MBE zielt darauf ab, sowohl das rezeptive als auch das interaktive Medienverhalten in der computervermittelten Kommunikation anzusprechen. Daher haben bereits einige Präventionsprogramme Methoden zur Förderung der MBE integriert (z. B. durch Rollenspiele) (Schultze-Krumbholz & Scheithauer, 2009).

Wieso virtuelle Realität in der Prävention von Cyberbullying?

Virtuelle Realitäten (VR) bieten spezifische Gestaltungsmöglichkeiten, die auf Kognition, Emotion und Konation wirken und so Einstellungs- und Verhaltensänderungen anregen (Wienrich et al., 2021). Nutzer_innen fühlen sich präsent, sind durch einen Avatar verkörpert und können mit anderen sozial interagieren. Avatare, Agenten, Kontexte und virtuelle Objekte sind beliebig modulierbar und auf Knopfdruck veränderbar, so dass Konsequenzen und abstrakte Zusammenhänge im Wortsinn begreifbar gemacht werden können (Wienrich et al., 2021). VR bietet so einen enormen Designspace für innovative Interventionen und Präventionen, die an die Medienrealität von Kindern und Jugendlichen anknüpfen und nachweislich zu Steigerung von Empathie und Motivation führen (Ventura et al., 2020; Greenberg, 2012).

Bei der Prävention von Bullying haben bisher nur wenige Studien versucht, VR einzusetzen (z. B. durch Perspektive des Zuschauers (McEvoy, 2015) oder Rollenwechsel (Oyekoya et al., 2021)). Diese Studien zeigen positive Ergebnisse in Bezug auf die Perspektivenübernahme und das Interesse der Zielgruppe an VR. Beispielsweise zeigten Ingram et al. (2019) bei Schüler_innen der 7. und 8. Klasse verschiedene Bullying-Situationen mit Hilfe der Google Daydream-Brille. Sie konnten dadurch die Empathie der Jugendlichen steigern und beeinflussten durch die digitale Intervention auch andere Variablen (z. B. Motivation der Teilnahme). Ingram et al. (2019) nutzen die Potenziale von VR allerdings nur zum Teil, da die Teilnehmer_innen eine passiv-beobachtende Rolle einnahmen und nicht selbst aktiv in VR handeln konnten. Die Autor_innen merkten an, “future research should more closely examine the unique contribution of the virtual reality component specifically, role of psychological distance in bullying, […]” (Ingram et al., 2019, S. 81). Damit spielen die Autor_innen auf die bereits genannte PSI an, durch die Präventionsprogramme vielversprechende Wirksamkeit entwickeln könnten.

Wieso „Verletzung des persönlichen Raumes“ (PSI) in der Prävention von Cyberbullying?

Wie zuvor beschrieben, spielt die psychologische Distanz eine besondere Rolle beim CB. Dies steht auch in Zusammenhang mit den Erkenntnissen zur “Construal Level Theory”. Diese betrachtet mentale Vorstellungen von Personen, Objekten und Ereignissen als eine Funktion der psychologischen Distanz (Liberman & Trope, 1998). Forschung zu zwischenmenschlichen Interaktionen ergab, dass eine große psychologische Distanz zu Stereotypisierung, verringerter Empathie und einer geringeren Bereitschaft zu helfen, führen kann (Ingram et al., 2019; Loewenstein, 1996; Pronin et al., 2008). In der zwischenmenschlichen Interaktion im Cyberspace ist diese psychologische Distanz der Täter_innen sogar noch größer. Zusätzlich verhalten sich Menschen online deutlich enthemmter, was zu mehr Gewalt und Entpersonalisierung zwischen Sender_in und Empfänger_in führen kann (Online Disinhibition Effect) (Suler, 2004; Bertrand et al., 2018). Die Verringerung der psychologischen Distanz von (potenziellen) Täter_innen könnte damit ein Wirkmechanismus bei der Entwicklung von Präventionsmaßnahmen sein (Ingram et al., 2019). In anderen Kontexten zeigte der Einsatz von VR eine gute Wirksamkeit zur Reduzierung von psychologischer Distanz (für einen Überblick siehe z. B. (Ratan et al., 2020; Ventura et al., 2020)). Bisher wurde in diesen Studien der Perspektivwechsel eingesetzt. Andere Methoden, die psychologische Distanz zu reduzieren und vor allem affektive Aspekte zu aktivieren, sind zwar im BehaveFIT-Modell theoretisch beschrieben (Wienrich et al., 2021), empirisch aber weitestgehend unerforscht. Darüber hinaus gibt es keine Forschung darüber, wie die Spezifika von CB (u. a. Verletzung des persönlichen Raums durch die Omnipräsenz der digitalen Angriffe, die Anonymität der Täter_innen) sinnvoll mit Potenzialen in VR verknüpft werden können. Auch Risiken/Nebenwirkungen einer zu immersiven Erfahrung (z. B. nachhaltig negative Emotionen) sind in dem Bereich mit der Zielgruppe unerforscht. Dementsprechend fehlen Evidenzen für die Wirksamkeit spezifischer VR-basierter Interventionen gegen CB.

Ziel- und Fragestellung

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die Anzahl der Opfer von CB im letzten Jahrzehnt deutlich gestiegen ist und die Konsequenzen für die psychische Gesundheit durch die Omnipräsenz der sozialen Medien immens sind. Es gibt besonders bei Schüler_innen (5. bis 8. Klasse) einen Bedarf zur Verhinderung von CB und den damit verbundenen Folgeerscheinungen. Es besteht jedoch eine Kluft zwischen dem Bedarf und dem Vorhandensein innovativer digitaler Präventionsprogramme. Unsere Arbeit ist von zahlreichen Studien inspiriert, die zeigen, dass VR die Perspektivenübernahme sowie Einstellungs- und Verhaltensänderungen in verschiedenen Bereichen erleichtern kann. Erste positive Ergebnisse für die Verwendung von VR zur Steigerung von Empathie im Bereich Bullying deuten auch darauf hin, dass VR eine an die digitale Realität der Zielgruppe angepasste Interventionsmöglichkeit darstellt, mit der eine größere Wirksamkeit erreicht werden könnte. Es fehlt eine partizipative Erkundung des Designspaces für virtuelle Interventionsbausteine für Kinder und Jugendliche, die konkret zu den Spezifika von CB passen sowie wissenschaftlich fundiert und evaluiert entwickelt wurden. Neben Perspektivübernahme und Empathie ist vor allem die Methode der PSI sowie die Verringerung der psychologischen Distanz in der Prävention von CB bisher unerforscht. Das Ziel dieser Studie ist es, die Machbarkeit und die Auswirkungen einer innovativen VR-basierten Komponente zur Prävention von CB durch die PSI sowie die Verringerung der psychologischen Distanz zu untersuchen. Im Zusammenhang mit den skizzierten Desideraten adressieren wir die folgenden Forschungsfragen:

  1. 1.
    Wie kann eine persönliche Raumverletzung in der virtuellen Realität im Kontext von CB dargestellt werden?
  2. 2.
    Verstehen Schüler_innen (8. Klasse) die Metapher der persönlichen Raumverletzung im Kontext von CB?
  3. 3.
    Führt unsere VR-basierte Komponente zur Verringerung der psychologischen Distanz (gemessen durch Enge/Anspannung) und zur Erhöhung präventionsfördernder Faktoren wie Empathie und Bereitschaft zur Intervention?
  4. 4.
    Wie bewerten Schüler die VR-basierte Präventionskomponente gegen CB?

Methoden

Die Studie wurde von der Ethikkommission der Universität Würzburg genehmigt (GZEK 2020 – 87). Eine Vorstudie identifizierte passende Therapiebausteine zur Erzeugung von PSI im Kontext von CB. Darüber hinaus ist die iterative Entwicklung und erste Evaluation der VR-Anwendung mit Studierenden erfolgt. So konnte die Qualität und Sicherheit der VR-Anwendung sichergestellt werden, bevor sie mit Jugendlichen exploriert wurde. Eine ausführliche Darstellung der Vorstudien und der Entwicklung der VR-Anwendung, welche mit Studierenden durchgeführt wurde, findet sich im elektronischem Supplement 1 (ESM 1) oder siehe auch Wienrich et al. (2024). In der Folge wird nur die Entwicklung mit der Zielgruppe berichtet.

Fokusgruppe mit Jugendlichen zur Anpassung der VR-basierten Anwendung

Die Fokusgruppe bestand aus fünf Jugendlichen (3 weiblich, 2 divers, Durchschnittsalter: M = 16,8, Spannweite von 13 bis 19 Jahren). Ziel war es die Anwendung, aus den beiden Vorstudien mit den Studierenden (siehe ESM 1), an die spezifischen Bedürfnisse der Zielgruppe anzupassen und sich über mögliche Nebenwirkungen auszutauschen. In Folge des Feedbacks, wurde ein Kinder- bzw. Jugendzimmer gestaltet, in dem die Teilnehmenden gebeten wurden, ein Bildungsvideo zum Thema Deutsche Geschichte (mit Bezug zum Lehrplan der Zielgruppe) auf einem modulierten Bildschirm in VR anzusehen (siehe Abbildung 1). Weiterhin gab es die Möglichkeit mit einem Smartphone zu interagieren, auf dem CB-Nachrichten zuerst erschienen, bevor sie später im Raum der Jugendlichen erschienen (siehe Abbildung 1). Die Intrusion der Nachrichten stellt die PSI-Komponente im Kontext von CB dar. Die Nachrichten wurden inhaltlich an die Realität der jugendlichen Zielgruppe angepasst (für einen Auszug der Nachrichten siehe Tabelle 1). In der ersten Hälfte der Durchführung konnten die Nachrichten weggeklickt werden. Die Nachrichten verschwanden jedoch nicht, sondern stapelten sich auf dem Bett, um die Omnipräsenz digitaler Nachrichten zu demonstrieren. In der zweiten Hälfte der Anwendung wurde der Handlungsspielraum weiter eingeschränkt, und die Nachrichten konnten nicht mehr weggeklickt werden. Die Hauptaufgabe der Jugendlichen bestand darin, sich im Rahmen von Hausaufgaben das genannte Bildungsvideo anzuschauen und sich Inhalte dazu zu merken. Technisch wurde das Unity-Projekt auf die Pico-Benutzeroberfläche (Version (PUI) 4.6.3) portiert, da die Nutzungsbedingungen von Oculus in Europa geändert wurden und nicht mehr datenschutzkonform waren. Wie in den Vorstudien wurde das Projekt in Unity (Version 2021.3.3f1) entwickelt und verschiedene Assets verwendet (VR-Tastatur: https://assetstore.unity.com/packages/tools/input-management/vr-keyboard-95936; Jugendzimmer: https://assetstore.unity.com/packages/3d/props/interior/teenage-bedroom-98586; VR-Smartphone: https://assetstore.unity.com/packages/3d/props/electronics/free-smartphone-90324; UX Flat Icons: https://assetstore.unity.com/packages/2d/gui/icons/ux-flat-icons-free-202525). Die qualitativen Rückmeldungen der Fokusgruppe zeigten, dass die Anwendung mit der Anpassung an die Realität der Altersgruppe gut angenommen wurde. Die Hasskommentare wurden teilweise als „zu harmlos“ erlebt und daher in Abstimmung mit der Fokusgruppe angepasst. Das gesamte Material wurden vor der Hauptstudie von erfahrenen Kinder- und Jugendtherapeut_innen bewertet. Nachrichten, die zwar von den Kindern als realistisch genannt wurden, aber von den Therapeut_innen als „zu heftig“ eingestuft wurden, wurden nicht für die Studie übernommen. Weiterhin wurde die Anwendung in einen halbtägigen Workshop zum Thema CB eingebettet, um einen passenden Rahmen zu schaffen und zu überprüfen, inwiefern die Anwendung in ein schulisches Präventionsprogramm integriert werden kann.

Abbildung 1 Screenshots VR-Anwendung, die in der Studie mit den Jugendlichen verwendet wurden.
Tabelle 1 Beispiele für als virtuelle Objekte genutzte Nachrichten (N=90)

Hauptstudie

Eingesetzte Messinstrumente

Die Umfragen wurden mit Microsoft Forms (https://forms.office.com) durchgeführt. Die Befragung fand anonymisiert statt. Generell basierte das Workshop-Design auf bestehenden Präventionsprogrammen gegen Bullying oder CB und enthielt daher Elemente der Bildung, Perspektivenübernahme, Medienbildung und Vereinbarung gemeinsamer Klassenregeln (Ansary, 2020; Gaffney et al., 2021; nähere Informationen finden sich im Untersuchungsablauf).

Erfassung von demografischen Daten

Daten zum Alter und Geschlecht wurden erhoben. Weiterhin konnten die Teilnehmer_innen anonymisiert ihr Wissen und ihre Erfahrungen zum Thema CB angeben (13 Fragen, z. B. „Ich wurde bereits Opfer von Cybermobbing“; „Wie viele Menschen (in %) sind von Cybermobbing betroffen?“).

Qualitative Messungen

Da es sich um eine erste Pilotierung handelt und der Workshop während einer Projektwoche direkt in der Schule stattfand, wurde ein Fokus auf qualitative Rückmeldungen in der Gruppendiskussion am Ende des Workshops gelegt (semistrukturiertes Interview siehe elektronisches Supplement 2 (ESM 2)). Hier wurde beispielsweise erfragt, ob die Schüler_innen das Ziel des Workshops nachvollziehen konnten, welche Erfahrungen in VR gemacht wurden, welche Erwartungen sie an den Workshop hatten, ob ihnen die eingesetzten Inhalte und VR-Anwendung gefallen haben und ob ein besseres Verständnis für die Opfer von CB geschaffen wurde.

Messung der Verträglichkeit und Qualität der VR-Anwendung

Um die Verträglichkeit der VR-Anwendung sicherzustellen, haben wir die Simulator-Krankheit durch den Simulator Sickness Questionnaire (Skala „fast motion sickness“) kontrolliert (Kennedy et al., 1993), das Gefühl der Präsenz mit einem Item gemessen („Hattest du das Gefühl wirklich in einem Jugendzimmer zu sein?“) und die geistige Belastung mit einem Item bewertet („Wie anstrengend fandest du die Aufgabe in der VR?“) (Flägel et al., 2019). Um zu bewerten, wie sehr die Schüler_innen von der Hauptaufgabe abgelenkt waren (das Ansehen eines Bildungsvideos), haben wir gemessen, wie stark sie sich auf das Video konzentrierten konnten. Alle Items wurden auf einer 10-stufigen Likert-Skala gemessen. Weitere Informationen zur Verträglichkeit und Qualität wurden durch die bereits beschriebenen qualitativen Daten bewertet.

Messung der Manipulation durch PSI

Konform zu den Voruntersuchungen mit den Studierenden haben wir das Gefühl der Enge („Wie sehr fühlst du dich gerade eingeengt oder bedrängt?“) und die wahrgenommene Anspannung („Wie angespannt fühlst du dich jetzt gerade?“) mit jeweils einem Item auf einer 10-Punkt-Likert-Skala gemessen. Darüber hinaus gaben die Schüler_innen ihren emotionalen Zustand an („Wie fühlst du dich gerade?“). Hierfür wurden folgende Emotionen als Unterstützung angeboten (wütend, beschämt, traurig, glücklich, schuldig, sorglos, einsam, hilflos, gestresst und entspannt). Weiterhin wurde nach der VR-Anwendung ein Item zur kognitiven („Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt, online gemobbt zu werden?“) und affektiven („Wie nahe geht dir das Thema Cybermobbing?“) Empathie erhoben. Schließlich wurde die Bereitschaft zur Intervention in Cybermobbing-Situationen gemessen („Hast du schon einmal darüber nachgedacht, jemandem zu helfen, der/die Cybermobbing erlebt?“). Diese Items wurden alle auf einer 10-Punkte-Likert-Skala gemessen.

Programmbewertung und Verbesserungsvorschläge

Neben den qualitativen Daten (siehe oben) wurde die Zufriedenheit („Der CB-Workshop hat mir Spaß gemacht?“), der Nutzen („Die Teilnahme am Workshop war äußerst nützlich für mich.“), das Wissen („Ich weiß jetzt mehr als zuvor über CB und wie ich mich davor schützen kann.“) und die Übertragbarkeit in den Alltag („Was ich heute gelernt habe, kann ich im Alltag einsetzen.“) auf einer 10-stufigen Likert-Skala gemessen.

Untersuchungsablauf

Die Untersuchung der VR-Anwendung war in einen ½-tägigen Workshop eingebunden. Der Workshop wurde an fünf aufeinanderfolgenden Tagen mit einer Gruppe von jeweils 20 – 30 Schüler_innen durchgeführt. Damit alle Teilnehmenden die Möglichkeit hatten die VR-Anwendung zu erleben, wurde die Gruppe phasenweise in drei Kleingruppen von 7 – 10 Teilnehmer_innen aufgeteilt. An jedem Tag war eine Lehrkraft als Aufsichtsperson anwesend. Nach einer (1) Vorstellungsrunde wurde der Ablauf des Workshops präsentiert. In der Folge (2) wurde CB anhand eines Videos (Fallbeispiel Lijana Kaggwa) eingeführt und die Formen und Folgen von CB besprochen. Danach wurde die Klasse in Kleingruppen aufgeteilt und (3) in das Thema VR eingeführt und erste Erfahrungen mit VR gesammelt. Hierfür spielten die Schüler_innen „VR-Anfänger – Das Escape-Room“ (https://assetstore.unity.com/packages/templates/tutorials/vr-beginner-the-escape-room-163264). Dadurch sollte der Neuheitseffekt abgemildert werden, der die Effektivität der VR-Anwendung beeinflussen kann. Des Weiteren wurden Indikatoren für die Simulator-Krankheit abgefragt und die Erwartungen an die VR-Anwendung qualitativ erfragt. Zusätzlich erfolgte eine Abfrage über Wissen und persönliche Erfahrungen in CB (via Pingo) sowie eine Diskussion über Regeln zur Prävention von CB in der Klasse. Danach erfolgte in der gesamten Klasse (4) die Präsentation der Ergebnisse über Wissen und Erfahrungen mit CB (via Pingo) und die Klassenergebnisse wurden in Einklang mit wissenschaftlichen Befunden gebracht. (5) Dann erfolgte die Aufklärung über die VR-Anwendung und die damit zusammenhängende Datenerhebung. Es wurde die Basismessung (t1) durchgeführt, indem das aktuell wahrgenommene Enge- und Anspannungserleben, aktuelle Gefühle, Empathie und Bereitschaft zu VR-Anwendung bewertet wurden. Danach wurden wiederholt dieselben Kleingruppen gebildet und (6) die VR-Prävention durchgeführt. Nach Beendigung der VR-Anwendung erfolgte die zweite VR bezogene Messung (t2, gleiche Fragen wie in t1). Danach kamen die Kleingruppen wieder in der gesamten Klasse zusammen und (6) diskutierten in der Klasse (qualitative Befragung Gruppe), was sie in der VR-Anwendung erlebt hatten und ob sie sich an den Inhalt der Nachrichten erinnern konnten. Außerdem wurde besprochen, wie gut sie sich auf das Bildungsvideo während der Interaktion konzentrieren konnten. Im Anschluss wurde die unter t1 und t2 durchgeführte Messung wiederholt (t3), um festzustellen, ob die durch die VR-Anwendung gewünschten negativen Effekte bis zum Ende des Workshops nachlassen. Danach fand (7) das Debriefing statt und die Schüler_innen wurden über die Absicht und den Sinn der VR-Anwendung informiert. Nach einer kurzen Pause wurden (8) die vor der Erfahrung in VR erarbeiteten Klassenregeln zum CB zusammengefasst, durch die erlebten Erfahrungen überarbeitet und alle Schüler_innen stimmten schriftlich den gemeinsamen Regeln zur Verhinderung von CB zu. Zum Abschluss fand eine Vermittlung von Medienkompetenzen statt. Hierbei lag der Schwerpunkt auf den Datenschutzeinstellungen und der Möglichkeit, rechtlich gegen CB vorzugehen. Dabei wurde auch diskutiert, welche Schritte unternommen werden können, wenn man selbst von CB betroffen ist oder dies beobachtet. Während der gesamten Durchführung stand ein erfahrener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut bereit, der bei möglichen Komplikationen hätte eingreifen können.

Statistische Analysen

Wir bildeten Mittelwerte über die quantitativen gesammelten Daten und bereiteten die qualitativen Daten auf content-analytische Weise auf. Die Antworten wurden auf einem digitalen Whiteboard (Miro: https://miro.com/) verarbeitet. Drei Rater_innen gruppierten die Antworten induktiv. Aus den Ergebnissen können die Qualität der Anwendung und das Verständnis der Hauptprinzipien, die emotionalen Erfahrungen und Verbesserungsvorschläge abgeleitet werden. Die Effekte zwischen den drei Messzeitpunkten (t1, t2, t3) wurden mit einer einfaktoriellen Varianzanalyse mit drei Stufen und entsprechenden Post-hoc-Tests inferenzstatistisch ausgewertet. Signifikante Ergebnisse basierten auf einem Alpha-Niveau von 0,05, und eine Tendenz wurde bis zu einem Alpha-Niveau von 0,1 berichtet. Beachten Sie, dass nicht signifikante Ergebnisse nicht statistisch detaillierter beschrieben werden, um die Lesbarkeit der Ergebnisse zu erleichtern.

Ergebnisse

Stichprobenbeschreibung

Die Pilotuntersuchung wurde im Rahmen eines halbtägigen Workshops mit 92 Schülern der 8. Klasse durchgeführt (Alter: M = 13,81; SD = 0,46; weiblich = 34, männlich = 35, divers = 7, keine Antwort = 16).

Messung der Verträglichkeit und Qualität der VR-Anwendung

Konform zu den Voruntersuchungen mit Studierenden und der Fokusgruppe mit Schüler_innen führte die VR-Erfahrung nicht zu einer Zunahme der Simulator-Krankheit. Das Gefühl der Präsenz lag in einem geeigneten mittleren Bereich (M = 5,64, SD = 2,46), und die wahrgenommene Belastung während der Intervention war gering bis mäßig (M = 3,71, SD = 2,71). Die Diskussion mit den Schüler_innen zeigte, dass die Nachrichten ihnen sehr nahe gingen und ein Gefühl der Hilflosigkeit ausgelöst wurde, weil sie den Hassbotschaften nicht entkommen konnten. Dass die Nachrichten nicht verschwanden und nur auf dem Bett gestapelt werden konnten, brachten die Schüler_innen, wie von uns beabsichtigt, damit in Verbindung, dass CB in den sozialen Medien nicht einfach verschwindet, sondern fortbesteht. Tabelle 2 zeigt einige Aussagen von Schüler_innen, die ihr Verständnis der VR-Anwendung reflektieren. Weiterhin berichteten die Schüler_innen, dass sie sich nicht auf das Video konzentrieren konnten (M = 1,74; SD = 2,52)., was ein weiteres Indiz für die gewünschte Wirkung ist.

Messung der Manipulation durch PSI

Wie angenommen waren die wahrgenommene Anspannung und Enge unmittelbar nach der Intervention (t2) signifikant größer als zum Messzeitpunkt t1 und t3 (Spannung: F‍(1, 182) = 9,10, p < .01, 2 = 0,09; Enge: F‍(1, 180) = 56,84, p < .01, 2 = 0,39, Abbildung 2). Die von den Schüler_innen angegeben Emotionen während der drei Messzeitpunkte sind in Tabelle 2 ersichtlich. Zu Beginn der Intervention (t1) wurden von den meisten Teilnehmenden „glücklich“ oder „gut“ angegeben. Kurz nach der Intervention (t2) wurden „ängstlich“ und „hilflos“ am meisten angegeben, während am Ende des Workshops (t3) am ehesten „entspannt“ und „neutral/normal“ angegeben wurde. Diese qualitativen Ergebnisse bestätigten sich auch in der folgenden Gruppendiskussion und unterstützen die gemessenen Selbstauskünfte (siehe Tabelle 2).

Abbildung 2 Wahrgenommene emotionale Spannung (links) und Enge (rechts) vor der Intervention (t1), direkt danach (t2) und eine Stunde danach (t3).
Tabelle 2 Aussagen aus der abschließenden Gruppendiskussion bezüglich Emotionen (oben) und Verständnis der Prinzipien (unten)

Programmbewertung und Verbesserungsvorschläge

Die Schüler_innen waren im Mittel sehr zufrieden mit dem Workshop (M = 8,50, SD = 1,65). Sie gaben an, dass er nützlich war (M = 6,11, SD = 2,39), dass sie mehr über CB wussten als zuvor (M = 5,03, SD = 2,54), dass sie neue Dinge gelernt hatten (M = 5,63, SD = 2,45) und dass sie das Gelernte anwenden konnten (M = 5,21, SD = 2,51). Allerdings machten die Schüler_innen in der qualitativen Bewertung zahlreiche Verbesserungsvorschläge. Am häufigsten wünschten sie sich mehr Handlungsmöglichkeiten in der VR. Obwohl sie verstanden, dass ein Teil der Intervention darin bestand, dass man die Nachrichten in der zweiten Hälfte nicht wegklicken konnte, hätten sie gerne die Möglichkeit gehabt, die Nachrichten wegzuklicken, darauf zu antworten oder sie stummzuschalten. Sie hätten auch gerne das Bildungsvideo pausieren können, damit sie nicht so abgelenkt würden. Sie gaben auch an, dass die Nachrichten immer noch zu „lässig“ waren und dass eine Personalisierung oder zumindest eine Anpassung an ihr Geschlecht noch mehr Wirkung gehabt hätte.

Diskussion

Dieser Artikel untersucht den Gestaltungsspielraum, die Machbarkeit und die Auswirkungen einer VR-basierten CB-Prävention, die mit der digitalen Realität der Zielgruppe (Schüler_innen der 8. Klasse) verknüpft ist. Die zentrale Idee besteht darin, durch die PSI emotionale Anspannung und Engeerleben zu erzeugen. Dieses Erleben steht mit CB in Verbindung und soll die alltägliche Belästigung von Opfern greifbar machen, um dadurch die Empathie zu erhöhen und das Auftreten von CB zu vermindern.

Bezüglich der Gestaltung der CB-Nachrichten ergab sich bereits in den Vorstudien/Fokusgruppe, dass Textnachrichten in weißen Textfeldern die Idee der PSI im virtuellen Raum am besten repräsentierten. Vor allem die Fokusgruppe mit den Jugendlichen zeigte, dass die Partizipation der betreffenden Altersgruppe wichtige Hinweise für die Entwicklung von Interventionen liefert, um die Realität junger Menschen abzubilden. Während der Durchführung kam es zu keinen Nebenwirkungen (z. B. Simulator-Krankheit, emotionale Involviertheit) und keine_r der Teilnehmenden musste die VR-Anwendung abbrechen. Die Ergebnisse der Pilotstudie verdeutlichen, dass sich die VR-Anwendung für die Prävention von CB eignen könnte. Wir konnten in den quantitativen Daten die erwartete Erhöhung emotionaler Anspannung und Enge nachweisen. Zusätzlich bestätigten die qualitativen Ergebnisse, dass spezifische Emotionen und Kognitionen ausgelöst wurden, die für ein Dissonanzerleben sprechen. Kognitive Dissonanz wird in der Prävention verwendet, um Perspektivenübernahme sowie Einstellungs- und Verhaltensänderungen zu erreichen (Stice et al., 2019). Kognitive Dissonanz wird ausgelöst, wenn widersprüchliche Gedanken, Einstellungen und Emotionen aktiviert werden. Konkret könnte durch das Erleben der Opferrolle nicht nur die Empathie erhöht, sondern auch Verhaltensweisen/Einstellungen zum CB verändert werden. Hierbei ist uns besonders wichtig, dass auch Täter_innen/Bystander_innen wahrnehmen, was die Opfer erleben und durch den Rollenwechsel genau der Widerspruch ausgelöst wird, der zu Dissonanzerleben führen kann. Letzteres wird dadurch untermauert, dass die Teilnehmenden von einem Gefühl der Hilflosigkeit berichten, das bei Opfern von Bullying/CB ausgelöst wird. Das Gefühl also, welches im Kontrast zur Überlegenheit und Stärke steht, welches Täter_innen empfinden (Notar et al., 2013; Olweus, 1994). In der Folge sollte durch kontrollierte Studien geprüft werden, ob sich durch das ausgelöste Dissonanzerleben die Empathie gegenüber den Opfern erhöht. Des Weiteren müssen Folgestudien belegen, ob die Intervention nicht nur zu einer Veränderung der kognitiven, sondern auch emotionalen Empathie führt (Ventura et al, 2020). Die genannten qualitativen Daten (Rückmeldung der Emotionen) sprechen dafür, brauchen aber in der Folge durch quantitative Analysen im Gruppenvergleich eine Bestätigung.

Die Ergebnisse der Pilotstudie bestätigten durch die Veränderung im Engeerleben und der emotionalen Anspannung zwischen den unterschiedlichen Messzeitpunkten, dass die psychologische Distanz verringert wurde (Liberman und Trope, 1998) und eine PSI erreicht werden konnte. Dies ist, unserer Ansicht nach, eine wichtige Voraussetzung, um den Jugendlichen die schwerwiegenden Folgen von CB zu verdeutlichen (Loewenstein, 1996; Pronin et al, 2008). Die vorliegende Studie zeigt daher, wie VR direkt mit psychologischen Handlungsprinzipien verknüpft werden kann (Wienrich et al, 2021). Hierzu zählt auch, dass die eingesetzte Methode nach Auswertung der qualitativen Daten die Motivation der Schüler_innen an dem ½-tägigen Workshop teilzunehmen, erhöhte und zu einer größeren Bereitschaft führte, bei CB zu intervenieren und andere davor zu schützen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass unsere VR-Intervention für ein Präventionsprogramm zur Verringerung von CB geeignet sein könnte. Wie bereits erwähnt, sind nun kontrollierte quantitative Studien notwendig, um die Wirksamkeit des Programms und der VR-Anwendung zu überprüfen.

Limitationen und Ausblick

Die Studie kann nicht eindeutig belegen, ob die Manipulation der PSI für die erhöhte emotionale Anspannung und das Engeerleben verantwortlich ist, da die Wirkung unabhängig von der Distanz der Nachrichten erzielt werden konnte. Die Rückmeldungen der Jugendlichen legt nahe, dass sie das gesamte Zimmer psychologisch als ihren Raum verinnerlichten und so die Verletzung durch Nachrichten in diesem psychologischen Raum erzeugt wurden und nicht durch die unmittelbare Nähe. Neben PSI sollte in zukünftigen Studien demnach auch das Konzept der psychological ownership als Gestaltrahmen für VR-basierte Interventionen betrachtet werden (Dawkins et al., 2017). Aktuelle Studien zeigen auch, dass die Perspektivenübernahme in VR positive Auswirkungen auf Empathie und die Bereitschaft zu Einstellungs- und Verhaltensveränderungen zur Verhinderung von CB haben kann (Gu et al. 2023). Es könnte also interessant für zukünftige Studien sein, die Perspektivenübernahme mit der PSI unterschiedlicher CB-bezogener Objekte/Situationen zu kombinieren. Obwohl unsere Pilotstudie die Machbarkeit einer VR-basierten Intervention in der Schule belegt, reichen qualitative Daten für einen Wirksamkeitsnachweis nicht aus. Wenngleich die Studie von Lambe und Craig (2022) darauf hinweist, dass Stress und Emotionen das Verhalten direkt nach VR-Interventionen beeinflussen, braucht es zur Prüfung der Wirksamkeit unseres ½-tägigen Workshops kontrollierte Studien, die eine Wirksamkeit auch über die Zeit (z. B. 6-‍, 12-Monate nach Durchführung) nachweisen. In einem zukünftigen dreiarmigen Design könnte beispielsweise die Intervention von Gu et al. (2023) (Proteus-Effekt) mit unserer auf PSI basierten VR-Intervention und einer nicht VR-basierten Intervention (Rollenspiele von CB Situationen) auf die Wirksamkeit geprüft werden.

Weiterhin kann das Feedback der Teilnehmenden am Ende des Workshops zu einer Verbesserung der VR-Anwendung beitragen. Die Schüler_innen wünschten sich mehr Handlungsmöglichkeiten in VR. Hierzu zählte auch, sich aktiv gegen CB „verteidigen“ zu können oder sich Hilfe bei nahestehenden Personen oder Angehörigen zu holen. Diese Modifizierungen könnten Opfern von CB helfen, Handlungsoptionen auszuprobieren, die in der Realität möglicherweise durch Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht blockiert werden. Es besteht außerdem die Möglichkeit, Schlüsselmomente in VR aufzuzeichnen, sich diese in der Folge noch einmal allein oder gemeinsam in der Klasse anzuschauen, zu diskutieren und dadurch gezielt Wirksamkeitseffekte zu personalisieren und zu verstärken. Für eine individuelle Steuerung der VR-Intervention wäre es denkbar, dass die Workshopleitung über einen Laptop Zugriff auf alle VR-Brillen hat und hier aktiv in die Intervention eingreifen kann. Letztlich zeigte das qualitative Feedback der Teilnehmenden, dass nach ihrer Ansicht Lehrkräfte und Eltern nicht gut über CB informiert sind und die digitale Realität der Altersgruppe nicht gut verstehen. Daher scheint es sinnvoll, geeignete CB-Module in VR für Lehrkräfte und Eltern zu entwickeln.

Zusammenfassung

Die vorliegende Pilotstudie beschäftigt sich mit einer VR-basierten Prävention zur Verminderung von CB. Die quantitativen Ergebnisse legen nahe, dass die PSI emotionale Anspannung und Enge erzeugt und dadurch Empathie für die Opfer ermöglicht. Die qualitativen Ergebnisse weisen auf eine Wirksamkeit hin, die allerdings durch kontrollierte Studie noch nachgewiesen werden muss. Die Partizipation der Zielgruppe, die von Beginn an in die Entwicklung der VR-Anwendung einbezogen wurde, sehen wir als Grundlage, um sich der digitalen Realität der Altersgruppe anzunähern und nicht an dieser vorbei eine Intervention zu entwickeln. Die enge Zusammenarbeit zwischen Forscher_innen aus der Human Computer Interaktion und der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychologie gewährleistet die Verbindung hoher technischer Qualitätsstandards mit psychologischen Prozessen, die eine Wirksamkeit ermöglichen. Die Pilotstudie zeigt, dass die Potenziale von VR-basierter Prävention noch lange nicht ausgeschöpft sind, und über einen ersten „Wow-Effekt“ hinausgehen. Derzeit mangelt es allerdings an empirischen Belegen, um die vielversprechenden Möglichkeiten zielgerichtet und akzeptanzbasiert weiterzuentwickeln. Zusammenfassend zeigte der Einsatz der VR-Anwendung ermutigende Ergebnisse hinsichtlich des psychologischen Einflusses und der Eignung für die Zielgruppe. Die hohe Anzahl von CB-Opfern bestätigt, dass die Weiterentwicklung und Wirksamkeitsprüfung digitaler Prävention notwendig sind, um die schwerwiegenden Folgen von CB für Kinder und Jugendliche zu verhindern.

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