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Open AccessOriginalarbeit

Fünf Jahre Psychotherapeutische Sprechstunde: Wer nimmt sie in Anspruch und wie zuverlässig sind die Verdachtsdiagnosen?

Ergebnisse einer Kinder- und Jugendlichenhochschulambulanz

Published Online:https://doi.org/10.1026/1616-3443/a000698

Abstract

Zusammenfassung:Theoretischer Hintergrund: Die Psychotherapeutische Sprechstunde (PTS) wurde eingeführt, um einen zeitnahen, niederschwelligen Zugang zur Psychotherapie zu ermöglichen. Evaluationen im Kinder- und Jugendbereich fehlen bisher. Fragestellung: Welche Patient_innen suchen die PTS auf, wie zuverlässig sind die vergebenen ICD-10-Verdachtsdiagnosen und welche Faktoren beeinflussen die Zuverlässigkeit? Methode: Die PTS-Daten von N = 393 Patient_innen einer ambulanten, juvenilen Stichprobe wurden ausgewertet und mit den Ergebnissen nach einer ausführlichen Psychodiagnostik verglichen. Ergebnisse: Die PTS wurde gleichermaßen von Jungen und Mädchen (M = 11.7 Jahre; Migrationshintergrund: 23 %) aufgesucht. Die mittlere Wartezeit auf einen PTS-Termin betrug 6.9 Wochen. Die häufigsten Verdachtsdiagnosen waren Hyperkinetische- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie Angststörungen. Die Zuverlässigkeit der Verdachtsdiagnosen lag überwiegend im mittleren bis guten Bereich. Am zuverlässigsten waren die Verdachtsdiagnosen bei geringerem Leidensdruck. Schlussfolgerungen: Die PTS scheint die Wartezeit auf einen Erstkontakt zu verkürzen und in einigen Fällen akkurate Diagnosen zu liefern. Der Mehrzahl der Patient_innen ist dennoch eine ausführlichere psychodiagnostische Abklärung zu empfehlen.

Five Years of the Psychotherapeutic Consultation Hour. Who Makes Use of It and How Reliable Are the Presumptive Diagnoses? Results From a Child and Adolescent University Outpatient Clinic

Abstract:Background: The Psychotherapeutic Consultation Hour (PTS) was introduced to enable timely access to psychotherapy. Yet it has not been evaluated among children and adolescents. Objective: Who uses the PTS? How reliable are the presumptive ICD-10 diagnoses? What influences their reliability? Methods: We evaluated PTS data of N = 393 juvenile outpatients and compared them to the results of a detailed psychodiagnostic examination. Results: Boys and girls (M = 11.7 years; migration background: 23 %) equally visited the PTS. The mean waiting time was 6.9 weeks. ADHD / ADD and anxiety disorders were assigned most frequently. The agreement between presumptive and final diagnoses was mostly in the medium to good range. Presumptive diagnoses were most reliable in patients with lower levels of suffering. Conclusions: The PTS seems to reduce waiting times for first contacts, and in some cases, it provides accurate diagnoses. However, a more detailed psychodiagnostic examination is still recommended for most patients.

Im April 2017 wurde die Richtlinienpsychotherapie einer umfassenden Strukturreform unterzogen, um unter anderem einen zeitnahen, niederschwelligen Zugang zu Psychotherapie anzubieten (Mong, Wendler & Zaudig, 2018). Dabei wurde die Psychotherapeutische Sprechstunde (PTS), die von allen Patient_innen vor der Aufnahme einer Psychotherapie aufgesucht werden soll, eingeführt. Inhalt der PTS sollte die Feststellung einer möglichen Verdachtsdiagnose und gegebenenfalls die Klärung weiterer Hilfebedarfe sein (Bundesministerium für Gesundheit, 2022).

Aufgrund der relativen Neuheit der PTS und da sie eine länderspezifische Strukturänderung des deutschen Versorgungssystems darstellt, gibt es hierzu bisher kaum empirische Untersuchungen. Mong und Kolleg_innen veröffentlichten 2017 und 2018 erste empirische Daten zur PTS in einer Münchener Ausbildungsambulanz für Verhaltenstherapie bei Erwachsenen. Als häufigste Verdachtsdiagnose wurde die rezidivierende depressive Störung (22.5 %) vergeben, gefolgt von der einfachen depressiven Episode (15.0 %) und der Anpassungsstörung (14.2 %). Die Mehrheit (54.2 %) der Patient_innen erhielt eine Verdachtsdiagnose, ca. 33.3 % erhielten zwei und 10.8 % drei Verdachtsdiagnosen. Nur 1.7 % der Stichprobe erhielt keine Verdachtsdiagnose. Die Wartezeit auf einen PTS-Termin betrug ca. zwei Monate, wobei 20 % der Personen nicht zum vereinbarten Termin erschienen. Am häufigsten nutzten weibliche, ledige, gut gebildete, berufstätige Patientinnen im Alter von 19 bis 33 Jahren das Angebot der PTS. Der Mehrheit (87.6 %) wurde im Anschluss an die PTS eine ambulante Psychotherapie empfohlen. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK, 2018) erhob ein Jahr nach der Reform erste Daten aus ambulanten psychotherapeutischen Praxen. Im Gegensatz zur Studie von Mong et al. (2018) fand sich hier, dass die PTS bei Erwachsenen einem breiten Spektrum an Patient_innen eine Anlaufstelle bot und besonders von sozial benachteiligten und arbeitsunfähigen Menschen aufgesucht wurde. Etwa 90.7 % der Patient_innen erhielt in der PTS mindestens eine Verdachtsdiagnose. Die Wartezeit betrug hier 5.7 Wochen. Die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) führte online eine Umfrage bei ambulanten Psychotherapeut_innen durch, um die Veränderungen durch die Reform zu untersuchen (Rabe-Menssen, Ruh & Dazer, 2019). Es zeigte sich, dass sich die Nachfrage nach Erstgesprächen bei den Erwachsenen kaum veränderte, diese aber 2018, als PTS durchgeführt, 33 % schneller (6.5 Wochen Wartezeit) stattfanden als noch 2017 (9.8 Wochen Wartezeit). Die Wartezeit für Kinder und Jugendliche war 2018 mit 5.5 Wochen am kürzesten und damit vergleichbar zu der, in der Studie der BPtK (2018) berichteten Wartezeit von knapp fünf Wochen.

Empirische Untersuchungen in juvenilen Stichproben über die Wartezeit hinaus, gibt es bislang keine. Dieser Lücke nimmt sich die vorliegende Arbeit an und betrachtet dafür die Daten der Hochschul- und der Ausbildungsambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsycho-therapie der Technischen Universität (TU) Braunschweig aus dem Zeitraum von Juli 2017 bis Juli 2021.

Zunächst wird betrachtet, welche Patient_innen die PTS einer Hochschulambulanz aufsuchen (Fragestellung 1) und wie lange die Wartezeit auf einen PTS-Termin ist (Fragestellung 2). Außerdem wird ausgewertet, welche Verdachtsdiagnosen in der PTS vergeben werden (Fragestellung 3a) und wie häufig Komorbiditäten sind (Fragestellung 3b), um Aussagen über die Komplexität der Symptomatik der Patient_innen treffen zu können. Den Schwerpunkt dieser Arbeit stellt die Überprüfung der Übereinstimmung zwischen den in der PTS vergebenen Verdachtsdiagnosen und den gesicherten Diagnosen nach einer ausführlicheren Psychodiagnostik (Fragestellung 4) dar. Abschließend werden mögliche Einflussfaktoren auf die Übereinstimmung untersucht (Fragestellung 5). Das Stellen zuverlässiger Verdachtsdiagnosen in der PTS wäre nicht nur wünschenswert damit Patient_innen ihre Beschwerden angemessen einordnen können, sondern auch für eine effiziente Indikationsstellung und ggf. eine Weiterleitung der Patient_innen an spezialisierte Kolleg_innen oder andere Therapieverfahren. Durch die Betrachtung der Übereinstimmung und der Analyse von Einflussfaktoren auf diese lassen sich zudem Aussagen über die Validität einer einzelnen diagnostischen Sitzung, wie der PTS, im Vergleich zu einer umfassenden multimethodalen psychologischen Diagnostik treffen, um die Länge von Diagnostikprozessen ggf. anpassen zu können.

Methode

Ablauf der PTS

Der Ablauf der PTS in der untersuchten Ambulanz ist standardisiert. Zu Beginn findet mit dem Kind und in der Regel den Eltern ein leitfadengestütztes Gespräch statt. Hierbei werden soziodemographische Daten und der Vorstellungsanlass des_der Patient_in erfasst. Im zweiten Teil wird ein halbstrukturiertes Interview unter Zuhilfenahme der Diagnose-Checkliste zum Screening psychischer Störungen (DCL-SCREEN) des Diagnostik-Systems für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-5 für Kinder und Jugendliche – III (DISYPS-III;Döpfner & Görtz-Dorten, 2017) durchgeführt. Diese beinhaltet 50 Items, welche Hinweise auf fast alle im Kindes- und Jugendalter auftretenden psychischen Störungen geben. Im Anschluss werden gegebenenfalls eine oder mehrere psychische Störungen nach dem Kapitel F der ICD-10 (vgl. Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2017) vergeben und den Familien diese sowie die daraus folgende Empfehlung erläutert. Die PTS dauert in der Regel 50 – 75 Minuten.

Weiterer Ablauf im Anschluss an die PTS

Beim Vorliegen von Verdachtsdiagnosen können die Patient_innen nach einer Wartezeit eine Weiterbehandlung im eigenen Haus in Anspruch nehmen. Hierbei werden zunächst in mehreren Terminen zur genaueren Diagnostik verschiedene Breitband- und störungsspezifische Verfahren eingesetzt, wobei versucht wird sowohl die Selbst- als auch Fremdeinschätzungen (z. B. durch Eltern, Lehrer_innen, Erzieher_innen) zu erheben. Außerdem werden z. B. standardmäßig strukturierte klinische Interviews (Kinder-DIPS;Schneider, Pflug, In-Albon & Magraf, 2017) und ein Intelligenztest durchgeführt. Die Diagnostik wird in den meisten Fällen von anderen Untersucher_innen durchgeführt als die PTS.

Operationalisierung

Psychische Störungen nach ICD-10. Für die in der PTS vergebenen Verdachtsdiagnosen und die nach ausführlicher Diagnostik gesicherten Diagnosen wurden nur die Diagnosen der ersten Achse des Multiaxialen Klassifikationsschemas für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (MAS; Remschmidt et al. 2017) verwendet und den folgenden neun übergeordneten Diagnoseclustern zugeordnet: (1) affektive Störungen, (2) Angststörungen, (3) Zwangsstörungen, (4) Reaktionen auf schwere Belastungen, (5) Essstörungen, (6) Hyperkinetische- und Aufmerksamkeitsstörungen, (7) Störungen des Sozialverhaltens, (8) Ausscheidungsstörungen und (9) sonstige emotionale Störungen. Das Kriterium zur Bildung der Cluster war eine Mindesthäufigkeit von zehn Diagnosen in der aktuellen Stichprobe. Für jene Störungen, die sich keinem der gebildeten Cluster zuordnen ließen, wurde die Restkategorie (10) andere Störungen gebildet. Kombinationsdiagnosen zweier Störungen wurden aufgeteilt und für beide Störungscluster einzeln gewertet. So wurde z. B. eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1) auf die Cluster (6) Hyperkinetische- und Aufmerksamkeitsstörungen und (7) Störungen des Sozialverhaltens aufgeteilt.

Funktionsbeeinträchtigung und Leidensdruck. Für diese Einschätzung wurde aus der PTS der Wert der Skala Funktionsbeeinträchtigung und Leidensdruck der DISYPS-III DCL-SCREEN (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017) verwendet (Werte zwischen 0 – 3) und nach ausführlicher Diagnostik die Einschätzung der Achse VI (globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus) des MAS (Remschmidt et al., 2017; Skala: 0 – 9).

Stichprobe

Die Stichprobe der Studie umfasst N = 393 Kinder und Jugendliche, welche die PTS in Anspruch nahmen. Somit handelt es sich um eine aufsuchende, ambulante psychotherapeutische Stichprobe. Eine ausführlichere Stichprobenbeschreibung erfolgt im Abschnitt Ergebnisse zu Fragestellung 1. Die PTS wurde in der vorliegenden Stichprobe von fünf approbierten Psychotherapeut_innen mit Fachkunde Verhaltenstherapie durchgeführt. Bei den verwendeten Daten handelt es sich um Routinedaten, welche hier für eine Sekundäranalyse verwendet wurden. Die Familien gaben ihre schriftliche Einwilligung zur Nutzung der Daten für Forschungszwecke und die Studie wurde von der Ethikkommission der Fakultät für Lebenswissenschaften der TU Braunschweig genehmigt.

Statistische Auswertung

Die Datenauswertung erfolgte mit IBM SPSS Statistics 28. Die Auswertung der Soziodemographie der Patient_innen (Fragestellung 1), der Wartezeit auf einen PTS-Termin (Fragestellung 2) und der vergebenen Verdachtsdiagnosen und Komorbiditäten (Fragestellung 3a/b) erfolgte deskriptiv anhand der Betrachtung der Häufigkeiten bzw. Mittelwerte und Standardabweichungen.

Die Übereinstimmung zwischen den Verdachtsdiagnosen aus der PTS und den gesicherten Diagnosen (Fragestellung 4) wurde auf Ebene der gebildeten neun Diagnosecluster betrachtet: Im ersten Schritt in Prozent, wobei die Kategorien keine Übereinstimmung, teilweise Übereinstimmung, exakte Übereinstimmung und keine gesicherte Diagnose (Patient_in erhielt Verdachtsdiagnose in der PTS, aber keine gesicherte Diagnose) unterschieden wurden. Eine teilweise Übereinstimmung lag bei der Vergabe von mehr als einer Diagnose vor, wenn davon mindestens eine, aber nicht alle Diagnosen übereinstimmten. Als Maß für die Güte der Übereinstimmung erfolgte die Berechnung der Cohens Kappa-Koeffizienten (κ) für die einzelnen Diagnosecluster. Hierbei wurden Kappa-Werte unter .40 als Indikator für eine fehlende oder schwache Übereinstimmung gewertet, zwischen .40 und .59 für eine mäßige, zwischen .60 und .74 für eine gute und über .74 für eine sehr gute Übereinstimmung (Wirtz & Caspar, 2002). Weiterhin wurden die Spezifität und Sensitivität, der in der PTS vergebenen Diagnosecluster berechnet. Beide Berechnungen erfolgten unter der Annahme der gesicherten Enddiagnosen als Standard. Nicht betrachtet wurde dabei die Restkategorie Andere Störungen, da dies aufgrund der Diversität der enthaltenen Störungen inhaltlich nicht sinnvoll erschien.

Um mögliche Einflussfaktoren auf die Diagnoseübereinstimmung (Fragestellung 5) zu untersuchen, wurden zwei non-parametrische Klassifikationsbäume unter Verwendung des Exhaustive CHAID-Algorithmus (Chi-square Automatic Interaction Detectors) berechnet. Die Klassifikationsbäume erlauben die Klassifizierung der Fälle in verschiedene Gruppen anhand von Regeln und bieten den Vorteil, dass sie eine unbegrenzte Menge an unabhängigen Variablen und sowohl metrische als auch nominale Variablen verarbeiten können. Außerdem nutzen sie die gebildeten Regeln, um zukünftige Ereignisse vorherzusagen. Der CHAID-Algorithmus bestimmt unter Verwendung von Chi-Quadrat-Unabhängigkeitstests in jedem Schritt diejenige unabhängige Variable, welche die größte Interaktion mit der abhängigen Variable vorweist (Rokach & Maimon, 2010). Als Effektstärkemaß wurde Eta-Quadrat (η2) herangezogen. Nach Cohen (1988) zeigen Werte ab .01 einen kleinen Effekt an, Werte ab .06 einen mittleren und Werte ab .14 einen großen Effekt.

Der erste Klassifikationsbaum wurde mit der Anzahl der überschüssigen Diagnosen (Diagnose wurde in der PTS vergeben, nicht aber nach der ausführlichen Diagnostik) und der zweite mit der Anzahl der fehlenden Diagnosen (Diagnose wurde nach der ausführlichen Diagnostik vergeben, nicht aber in der PTS) als abhängige Variablen berechnet. Als unabhängige Variablen wurden in beiden Fällen (a) Alter, Geschlecht und Ethnie der Patient_innen, (b) der_die Therapeut_in der PTS, (c) die Einschätzung der Funktionsbeeinträchtigung und des Leidensdrucks in der PTS und (d) die globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus nach der Diagnostik gewählt. Die Mindestgruppengröße wurde aufgrund ausreichend hoher Fallzahlen je Übereinstimmungskategorie auf 20 Fälle festgelegt. Es wurde keine Grenze für die Tiefe der Klassifikationsbäume festgesetzt und für alle Fälle das Signifikanzniveau von p ≤ .05 für die Variablenauswahl gewählt.

Ergebnisse

Fehlende Werte

Für jeden Fall wurden die Variablen Alter, Geschlecht, Wartezeit bis zum PTS-Termin, Diagnostiker_in der PTS, Verdachts- und gesicherte Diagnosen aus dem Abrechnungssystem und die Variablen Ethnie, Leidensdruck nach der PTS und Funktionsniveau nach der ausführlichen psychologischen Diagnostik aus den Patientenakten extrahiert. Da es sich bei allen Variablen um bereits erhobene Daten handelte, stehen für einige Patient_innen nicht alle Variablen zur Verfügung. Die fehlenden Werte wurden nicht ersetzt, weil systematische Datenausfälle angenommen wurden. Die Auswertung erfolgt auf Grundlage der jeweils vorhandenen Werte. Die daraus resultierenden, teilweise verringerten Stichprobengrößen sind bei den einzelnen Ergebnissen mit angegeben.

Wer nimmt die PTS in Anspruch? (Fragestellung 1)

Die gesamte Stichprobe betrug N = 393 Kinder und Jugendliche. Hiervon waren 206 weiblich (52.4 %) und 187 männlich (47.6 %). Zu 358 (91.1 %) Patient_innen lagen Angaben über die Ethnie vor. Hierbei gaben 77.4 % (n = 277) Deutsch als einzige Ethnie und 22.6 % (n = 81) entweder ausschließlich oder zusätzlich andere Ethnien an. Das mittlere Alter lag bei 11.2 Jahren (SD = 3.8, R = 2−18 Jahre). Insgesamt waren 7.4 % (n = 29) der Patient_innen noch nicht im Schulalter (2 bis 5 Jahre), 37.1 % (n = 146) im Grundschulalter (6 bis 10 Jahre), 24.1 % (n = 95) im präpubertären Alter (11 bis 13 Jahre) und 31.3 % (n = 123) waren über 14 Jahre alt. Die Verteilung war dreigipflig mit jeweils einem Gipfel zwischen 8 und 9 Jahren (20.4 %), 11 und 12 Jahren (17.0 %) und bei 16 Jahren (9.9 %).

Wie lange ist die Wartezeit auf eine PTS? (Fragestellung 2)

Angaben zur Wartezeit liegen von n = 379 (96.4 %) Patient_innen vor. Die mittlere Wartezeit von der Anmeldung der Patient_innen bis zum Stattfinden der PTS lag bei 47.7 Tagen (SD = 32.3) bzw. 6.9 Wochen (SD = 4.6). Der Median lag bei 42 Tagen (6 Wochen).

Welche Verdachtsdiagnosen werden in der PTS gestellt? (Fragestellung 3)

(3a) Insgesamt wurden in der PTS 517 Achse I Verdachtsdiagnosen (MAS; Remschmidt et al. 2017) vergeben, welche sich auf 69 verschiedene F-Kodierungen verteilten. Die drei häufigsten F-Kodierungen waren die Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0; n = 58; 11.2 %), die Anpassungsstörung (F43.2; n = 52; 10.1 %) und die sonstige emotionale Störung des Kindesalters (F93.8; n = 37; 7.2 %). Die Häufigkeiten der übergeordneten Cluster sind in Tabelle 1 dargestellt. Da Patient_innen aufgrund von Komorbiditäten (z. B. F90.0 und F32.0) und / oder kombinierten Diagnosen (z. B. F90.1) in mehr als einem Cluster auffällig werden konnten, liegt die Anzahl der kodierten Cluster (n = 553) sowohl über der Stichprobengröße (N = 393) als auch der Anzahl der F-Diagnosen (n = 517).

(3b) Bei sieben Patient_innen (1.8 %) wurde in der PTS keine Achse-I Verdachtsdiagnose nach MAS (Remschmidt et. al. 2017) vergeben. Die Mehrheit (n = 245; 62.3 %) erhielt Verdachtsdiagnosen aus einem der zehn Diagnosecluster, bei 29.8 % (n = 117) wurden Verdachtsdiagnosen aus zwei und bei 4.8 % (n = 19) aus drei Clustern vergeben. Fünf Patient_innen (1.3 %) erhielten Verdachtsdiagnosen aus vier Clustern.

Im Anschluss an die PTS wurde bei lediglich 15 Patient_innen (3.8 %) mitunter trotz des Vorliegens einer Verdachtsdiagnose vorerst keine Psychotherapie- oder Diagnostikempfehlung gegeben. Ein Grund hierfür könnten zum Beispiel die Empfehlungen zu anderen Maßnahmen außerhalb der psychotherapeutischen Versorgung sein.

Tabelle 1 Absolute und prozentuale Häufigkeiten der Diagnosecluster in der PTS

Übereinstimmung zwischen Verdachts- und gesicherten Diagnosen (Fragestellung 4)

Von den 378 Patient_innen, denen in der PTS eine Weiterbehandlung empfohlen wurde, nahmen 83.4 % (n = 315) dieses Angebot in den untersuchten Ambulanzen wahr, sodass von ihnen Angaben zu den gesicherten Diagnosen vorliegen. Es zeigte sich, dass in 17.8 % (n = 56) der Fälle keine Übereinstimmung zwischen Verdachts- und gesicherter Diagnose vorlag. In 41.3 % (n = 130) der Fälle stimmten die Cluster teilweise überein und die exakte Übereinstimmung lag bei 31.1 % (n = 98). Knapp 10 % (n = 31) der Patient_innen erhielt nach Abschluss der ausführlichen Diagnostik keine gesicherte Diagnose, obwohl sie in der PTS mindestens eine Verdachtsdiagnose bekamen.

Als Maße für die Güte der Übereinstimmung der Verdachts- und gesicherten Diagnosen sind in Tabelle 2 die Cohens Kappa-Koeffizienten (κ) sowie die Spezifität und Sensitivität für jedes Diagnosecluster zusammengefasst.

Tabelle 2 Übereinstimmung zwischen gesicherter Diagnose nach ausführlicher Diagnostik und Verdachtsdiagnose aus der PTS

In allen Fällen ergab sich ein signifikantes κ (p ≤ 0.05), sodass die vorhandene Übereinstimmung über der durch Zufall zu erwartenden Übereinstimmung lag (Wirtz & Caspar, 2002). Für die Cluster Essstörungen und Zwangsstörungen ergab sich eine sehr gute Übereinstimmung (κ = .81 − .85), für die drei Cluster AusscheidungsstörungenAffektive Störungen sowie Hyperkinetische- und Aufmerksamkeitsstörungen zeigte sich eine gute Übereinstimmung (κ = .61 − .66). Für die drei Cluster Störungen des Sozialverhaltens, Reaktionen auf schwere Belastungen und Angststörungen ergaben sich mäßige Übereinstimmungen (κ = .48 − .57). Im Falle der sonstigen emotionalen Störungen ergab sich eine fehlende oder schwache Übereinstimmung (κ = .34). Die Spezifität war überwiegend hoch (88−99 %) die Sensitivität (39−90 %) hingegen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Somit wurden in der PTS wenige Diagnosen vergeben, welche sich später nicht bestätigten. Gleichzeitig wurden nach ausführlicher Diagnostik häufiger Diagnosen gestellt, die nach der PTS nicht als Verdachtsdiagnose geführt wurden.

Einflussfaktoren auf die Übereinstimmung der Diagnosen (Fragestellung 5)

Im ersten Klassifikationsbaum, der als abhängige Variable die Anzahl der fehlenden Diagnosen pro Patient_in untersuchte, wurde als einzige Trennvariable die Globalbeurteilung des Funktionsniveaus nach Abschluss der Diagnostik identifiziert (F‍(4, 288) = 5.73; p = 0.007). Es handelt sich um einen mittleren Effekt (η2 = .086). Die Werte der durch die Analyse identifizierten Gruppen sind in Tabelle 3 dargestellt. Die Anzahl der fehlenden Diagnosen stieg dabei mit zunehmender Beeinträchtigung des Funktionsniveaus. Eine Ausnahme bildete die letzte identifizierte Gruppe mit der höchsten Beeinträchtigung (> ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung), bei welcher die Anzahl der fehlenden Diagnosen in etwa so hoch ausfiel, wie in der zweiten Gruppe (mäßige soziale Beeinträchtigung). Dieser Befund ist jedoch aufgrund der geringen Gruppengröße (n = 12; 4.1 %) inhaltlich kaum sinnvoll zu interpretieren.

Im zweiten Klassifikationsbaum, in den die Anzahl der überschüssigen Diagnosen pro Patient_in als abhängige Variable einging, wurde keine signifikante Trennvariable identifiziert.

Tabelle 3 Ergebnis des Klassifikationsbaums zur Vorhersage der Anzahl der fehlenden PTS-Diagnosen pro Patient_in

Diskussion

Repräsentativität der Stichprobe

Das Ziel der vorliegenden Arbeit bestand in der systematischen Evaluation der PTS in einer juvenilen Stichprobe. Die Soziodemographie der Patient_innen stimmt hinsichtlich der Geschlechtsverteilung und des mittleren Alters mit anderen Inanspruchnahmestudien (z. B. Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit; Greiner, Bartram & Witte, 2019) gut überein. Davon unabhängig entspricht ein Anteil von 23 % von Patient_innen mit Migrationshintergrund etwa der Verteilung der gesamten deutschen Bevölkerung (2021: 25.1 %; Statistisches Bundesamt, 2022). Die Soziodemographie der vorliegenden Stichprobe lässt insgesamt darauf schließen, dass die PTS in der betrachteten Hochschulambulanz von einer bevölkerungsrepräsentativen und für den Behandlungskontext typischen Personengruppe aufgesucht wurde.

Verlässliche epidemiologische Aussagen über die Häufigkeit von Komorbiditäten psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter gibt es für Deutschland bisher nicht (Petermann, 2005). Ergebnisse des breit angelegten British Child and Adolescent Mental Health Surveys (Ford, Goodman & Meltzer, 2003) weisen jedoch ähnliche Zahlen auf, wie in der vorliegenden Studie, sodass die Stichprobe auch in dieser Hinsicht repräsentativ erscheint.

Die häufigsten Verdachtsdiagnosen aus der PTS stellen in der vorliegenden Arbeit die Hyperkinetischen- und Aufmerksamkeitsstörungen, die Angststörungen und die Reaktionen auf schwere Belastung dar. Bei einem Vergleich mit den ersten veröffentlichten Daten des Forschungsnetzwerkes KODAP (Koordination der Datenerhebung und -auswertung an Forschungs-‍, Lehr- und Ausbildungsambulanzen für psychologische Psychotherapie; In-Albon et al., 2019) fällt in der aktuellen Stichprobe eine deutlich geringere Anzahl an Angststörungen auf. Bei genauerem Vergleich der Daten betrifft dies vor allem die spezifischen Phobien. Das Cluster Reaktionen auf schwere Belastungen wurde in der PTS häufiger, als in der KODAP-Studie vergeben, was daran liegen könnte, dass die Anpassungsstörungen (F43.2) hier subsummiert wurden. Vergleicht man die KODAP-Ergebnisse mit den gesicherten Diagnosen der vorliegenden Arbeit stimmen diese, mit Ausnahme der Angststörungen, überwiegend überein.

Wartezeit

Die mittlere Wartezeit zwischen der Anmeldung der Patient_innen und dem Stattfinden der PTS liegt mit etwa 6.9 Wochen über dem bundesweiten Durchschnitt von 5 – 5.5 Wochen bisheriger Kinder- und Jugendlichenstichproben (BPtK, 2018; Rabe-Menssen et al., 2019), ist jedoch vergleichbar mit der Wartezeit bei erwachsenen Patient_innen (5.7 – ca. 8 Wochen; BPtK, 2018; Mong et al.2017 & 2018; Rabe-Menssen et al., 2019). Die große Spanne mit einer maximalen Wartezeit von 28 Wochen eröffnet Verbesserungspotenzial. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass hier die Zeit bis zum Stattfinden der PTS, nicht bis zum ersten Terminangebot erfasst wurde. Gerade bei extrem langer Wartezeit ist von Einflussfaktoren auf Patient_innenseite (z. B. verpasste oder abgesagte Termine aufgrund von Urlaub, Klinikaufenthalt, etc.) auszugehen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die vorliegende Studie, im Gegensatz zu den Vergleichsstichproben, Daten aus der Zeit der COVID-19-Pandemie mit einbezieht. Während dieser Zeit ergaben sich sowohl deutlich erhöhte Anfragezahlen als auch vermehrte krankheitsbedingte Ausfälle auf Therapeut_innen- und Patient_innenseite (vgl. Rabe-Menssen, 2021). Bei zukünftigen Untersuchungen wäre es wichtig auch die Wartezeit bis zum ersten Angebot eines PTS-Termins und die Ausfallquote mitzuerfassen.

Die Verkürzung der Wartezeit im Vergleich zu Zeiten vor der Reform (Rabe-Menssen et al., 2019) ist grundsätzlich positiv. Gleichzeitig muss jedoch festgehalten werden, dass dies lediglich die Wartezeit bis zu einem ersten Kontakt, nicht jedoch die Wartezeit auf den Beginn einer (in der Regel notwendigen) weiterführenden Maßnahme, wie einer Richtlinienpsychotherapie betrifft. Stattdessen ergibt sich eine zweite Wartezeit zwischen PTS und Therapiebeginn (BPtK, 2018; Rabe-Menssen et al., 2019), die in zukünftigen Untersuchungen ebenfalls berücksichtigt werden sollte.

Weiterer Verlauf und mögliche Gründe für eine Nicht-Inanspruchnahme

Dass nur in 1.8 % der Fälle nach der PTS keine Verdachtsdiagnose vergeben und nur in 3.8 % der Fälle keine anschließende psychotherapeutische Versorgung empfohlen wurde, spricht dafür, dass fast alle Patient_innen die PTS mit tatsächlich vorhandener Indikation aufsuchten. Gleichzeitig wird deutlich, dass die PTS keine entlastende Filterfunktion hat, da nur sehr wenige Patient_innen auf den Wartelisten stehen, bei denen keine Indikation für eine Psychotherapie besteht.

Über 80 % der Patient_innen der Stichprobe kamen nach der PTS der Empfehlung einer weiterführenden psychotherapeutischen Versorgung nach. Vergleichswerte in Bezug auf den weiteren Verlauf nach einer PTS gibt es bislang keine. Gemessen an der Zahl von Abbrüchen in der Psychotherapie (z. B. Salmoiraghi & Sambhi, 2010) ist die Zahl als niedrig bis durchschnittlich zu bewerten. Einschränkend ist anzumerken, dass eine fehlende Inanspruchnahme der Angebote in den Ambulanzen der TU Braunschweig nicht zwangsläufig ein Ausscheiden aus dem psychotherapeutischen Versorgungssystem bedeutet. Möglicherweise erfolgte die weitere Anbindung der Patient_innen andernorts.

Diagnoseübereinstimmung

Die Überprüfung der Übereinstimmung zwischen den Verdachtsdiagnosen der PTS und den gesicherten Diagnosen nach einer ausführlicheren Diagnostik war ein Hauptanliegen dieser Studie. Die Übereinstimmungen lagen, mit Ausnahme der sonstigen emotionale Störung, mindestens im mäßigen Bereich, bei über der Hälfte der Cluster sogar im guten bis sehr guten Bereich. Die Betrachtung der Spezifitäts- und Sensitivitätswerte ergab, dass eine fehlende Übereinstimmung eher aus in der PTS fehlenden Diagnosen resultierte als aus in der PTS überschüssig vergebenen Diagnosen. Die Übereinstimmung ist bei Störungsclustern mit sehr spezifischen, klar abgrenzbaren bzw. stark umgrenzten Symptomen (z. B. Essstörungen) am höchsten und sinkt mit abnehmender Spezifität der Symptome und Diagnosekriterien (z. B. sonstige emotionale Störung). Jede_r zehnte Patient_in mit einer PTS-Diagnose erhielt nach ausführlicher Diagnostik keine gesicherte Diagnose. Insgesamt sollte berücksichtigt werden, dass ein gewisses Maß an Unterschiedlichkeit der Diagnosen aus zwei Messzeitpunkten durchaus erwartbar war. Dazu könnte z. B. beitragen, dass Familien in Folgeterminen mehr oder andere Angaben machen als im ersten und dass sich die Psychopathologie und ihre Symptome in der Wartezeit verändert haben könnten. Die Übereinstimmung könnte deshalb mit zunehmender Wartezeit zwischen PTS und weiterer Diagnostik sinken, weswegen es sinnvoll wäre diese Wartezeit in künftigen Studien zusätzlich zu erheben. Es sollte auch bedacht werden, dass der ausführlichen Diagnostik im Vergleich zur PTS deutlich mehr Zeit und die ganze Bandbreite an diagnostischen Methoden zur Verfügung standen. Die PTS wird in der untersuchten Ambulanz meist in einem ca. ein- bis zweistündigen Gespräch durchgeführt, sodass die Zeit zur Exploration der Symptomatik begrenzt ist, insbesondere bei Fällen, bei denen hier zusätzlich eine Gefährdungsabklärung erfolgen muss. Dass nach ausführlicher Diagnostik häufig in der PTS nicht gesehene Diagnosen gefunden werden konnten, unterstreicht die immense Wichtigkeit einer ausführlichen, multimethodalen Diagnostik, z. B. für die Therapieplanung und rechtfertigt den diagnostischen Aufwand über die PTS hinaus. Um die Übereinstimmung der Diagnosen in Zukunft zu erhöhen, scheint es wichtig, Faktoren zu identifizieren, die Einfluss auf sie ausüben. In der vorliegenden Arbeit ergab sich, trotz der Untersuchung unterschiedlicher Faktoren, nur für das Funktionsniveau ein bedeutsamer Effekt. Mit zunehmender Beeinträchtigung stieg die Anzahl der fehlenden PTS-Diagnosen. Ein möglicher Grund für die Abweichung könnte sein, dass die PTS eher ein Screening-Gespräch darstellt, in dem gerade bei komplexer Symptomatik, welche oft mit einer hohen Funktionsbeeinträchtigung einhergeht, nicht alle Problembereiche vollständig erfasst werden können. Auch dies verdeutlicht, insbesondere bei schwerer beeinträchtigten Patient_innen, die Wichtigkeit einer ausführlichen Psychodiagnostik. Weiterhin könnte hier auch die Sparsamkeit bei der Diagnosestellung in der PTS eine Rolle spielen. Da ein Verbleib im System (mitunter zur weiteren Abklärung) auch mit einzelnen (Verdachts–)‌Diagnosen möglich ist, besitzen zusätzliche Diagnosen nicht dieselbe Bedeutsamkeit, für den weiteren Verlauf wie die erste, bergen jedoch ggf. das Risiko der Überforderung.

Stärken und Limitationen

Der hier untersuchte Datensatz weist einige Limitationen auf, wie das Fehlen der Gründe für eine Nicht-Inanspruchnahme nach der PTS, das Fehlen der Erhebung der Wartezeit auf den Beginn einer Weiterbehandlung und möglicher Veränderungen durch die Corona-Pandemie. Die hervorzuhebenden Stärken dagegen sind der naturalistische Ansatz, der mehrjährige Erhebungszeitraum und die Erfassung der gesicherten Diagnosen mit einem multimethodalen Ansatz, wodurch erstmalig eine Überprüfung der Validität der Verdachtsdiagnosen der PTS möglich war. Somit stellt diese Studie eine wichtige Arbeit zur Evaluation der PTS im Kinder- und Jugendbereich dar.

Zusammenfassung und Ausblick

Insgesamt lassen die Ergebnisse darauf schließen, dass die PTS in der hier untersuchten Ambulanz von einer bevölkerungsrepräsentativen Patient_innengruppe aufgesucht wird und somit keine zusätzliche Hürde im Psychotherapieprozess für einzelne Bevölkerungsgruppen darzustellen scheint. Dies wird auch durch den Befund der eher geringen Nicht-Inanspruchnahme weiterer empfohlener Maßnahmen verdeutlicht. Zudem scheint die PTS den Bedarf an Psychotherapie überwiegend gut einzuschätzen. Auch die Diagnoseübereinstimmung ist insgesamt zufriedenstellend. Bei einigen klar umgrenzten Störungen (z. B. Ess- oder Zwangsstörungen) wies die PTS eine so hohe prognostische Validität auf, dass sie allein zur sicheren Diagnosestellung und treffenden Indikationsstellung ausreichen könnte. In diesen Fällen stellt sie eine sinnvolle und effiziente Ergänzung im Versorgungssystem dar. Andere Störungen, wie Angststörungen oder Störungen des Sozialverhaltens, scheinen einer deutlich ausführlicheren Diagnostik zu bedürfen. Für Patient_innen mit jenen Störungen stellt die Inanspruchnahme der PTS nur einen notwendigen Zwischenschritt ohne großen Mehrwert auf dem Weg zu einer Behandlung dar.

Das Hauptziel der Einführung der PTS war es, einen zeitnahen, niederschwelligen Zugang zur Psychotherapie zu schaffen. Zwar fand durch die Einführung der PTS der psychotherapeutische Erstkontakt deutlich schneller statt, jedoch bedeutet dies nicht, dass dadurch auch der Beginn der Richtlinienpsychotherapie beschleunigt wird (Rabe-Menssen et al., 2019). Hierfür wäre es notwendig, mehr Therapieplätze zu schaffen, damit der große Bedarf besser gedeckt werden kann. Dies gewinnt insbesondere in Hinblick auf die Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch die Corona-Pandemie (z. B. Schlack et al., 2020) weiter an Relevanz. Auch die Niedrigschwelligkeit der PTS scheint nur bedingt gegeben, da viele Familien diese erst mit hohem Leidensdruck und / oder Komorbiditäten aufsuchen.

Literatur