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Open Access

Schulische Prädiktoren für psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen anhand einer Befragung von Schülerinnen und Schülern an Klinik- und Regelschulen

Published Online:https://doi.org/10.1024/1010-0652/a000339

Abstract

Zusammenfassung. Ungefähr ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen zeigt psychische Auffälligkeiten, doch nur ein geringer Teil der Betroffenen erhält professionelle Hilfe. Häufig gehen mit psychischen Beeinträchtigungen auch gravierende schulische Probleme einher. In dieser Studie untersuchten wir, ob es schulische Merkmale von Schülerinnen und Schülern gibt, die Hinweise auf eine psychische Auffälligkeit liefern können. Dazu wurden 185 Klinikschülerinnen und -schüler und 387 Schülerinnen und Schüler an Regelschulen zu ihrer schulischen Situation befragt. Außerdem wurde der Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) genutzt, um eine Vergleichsgruppe mit ausschließlich psychisch unauffälligen Schülerinnen und Schülern bilden zu können. Wir verwendeten ein logistisches Regressionsmodell, um herauszufinden, welche Antwortitems eine gute Vorhersage auf psychische Auffälligkeiten ermöglichten. Der Klassifikator war in der Lage, psychisch auffällige und unauffällige Schülerinnen und Schüler mit hoher Genauigkeit zu unterscheiden (Genauigkeit .83, Sensitivität: .76; Spezifität: .87). Die Klassifikation basierte dabei – anders als vermutet werden könnte – nicht primär auf Aussagen zum Lern- und Leistungsverhalten der Schülerinnen und Schüler, sondern auf Aussagen zu schulvermeidendem Verhalten und ihrer sozialen Integration. Diese schulischen Prädiktoren waren auch unter Kontrolle von Alter und Geschlecht sehr stabil. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Lehrkräfte eine bedeutsame Rolle bei der Früherkennung von psychischen Auffälligkeiten einnehmen können.

School predictors of mental health problems in children and adolescents based on a survey of students in hospital and regular schools

Abstract. About one-fifth of all children and adolescents display mental health problems, but only a small proportion of those receive professional help. Often, mental impairments are accompanied by serious difficulties at school. Here, we investigated whether certain characteristics of a student's school situation can provide information about their mental health. For this purpose, 185 students at specialized hospital schools and 387 students at regular schools were interviewed about their school situation. In addition, the Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) was used to form a comparison group without mental health problems. We used a logistic regression model to determine which response items were good predictors of whether or not students had mental health issues. The classifier was able to distinguish between students with and without mental health issues with high accuracy (accuracy .83, sensitivity: .76; specificity: .87). Contrary to expectation, the classification was not primarily based on self-reported information about learning behavior, but on statements about school-avoiding behavior and social integration. These school-related predictors were very stable even when controlling for age and gender. Thus, our results suggest that teachers can play a significant role in the early detection of mental health problems.

Einleitung

In den vergangenen Jahren hat die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zunehmend mehr Aufmerksamkeit erfahren. Dazu beigetragen haben große, auch internationale, Studien wie z.B. die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS-Studie; Robert Koch-Institut, 2008) und die Health Behaviour in School-aged Children Studie (HBSC-Studie; 10-1Bilz et al., 2016), die verschiedene Aspekte von Gesundheit und gesundheitsgefährdendem Verhalten im Kindes- und Jugendalter untersuchten. Neben der physischen rückte auch die psychische Gesundheit in den Fokus des Interesses, die insbesondere in der BELLA-Studie untersucht wurde (Klipker, Baumgarten, Göbel, Lampert & Hölling, 2018; Ravens-Sieberer, Wille, Bettge & Erhart, 2007). Es zeigte sich, dass etwa ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen Anzeichen für eine psychische Auffälligkeit aufweisen (Klipker et al., 2018) und bei mindestens 6% der Betroffenen von einer klinisch bedeutsamen Symptomatik ausgegangen werden kann, die einer kontinuierlichen ärztlichen Behandlung bedarf (Steffen, Akmatov, Holstiege & Bätzing, 2018). Dabei haben psychische Erkrankungen ein hohes Risiko zu chronifizieren und persistieren häufig bis ins Erwachsenenalter (Belfer, 2008; Ihle & Esser 2002; Lambert et al., 2013). Die Folgen für die Betroffenen sind vielfältig und häufig gravierend. Bereits bei Kindern und Jugendlichen zeigten sich eine Verminderung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, schulische Probleme und ein erhöhtes Risiko für einen Schulabbruch (Barkmann et al., 2016; Ravens-Sieberer & Klasen, 2014; Sagatun, Heyerdahl, Wentzel-Larsen & Lien, 2014). Dennoch gelangte nur jedes fünfte Kind/Jugendlicher mit psychischen Auffälligkeiten in Kontakt mit professioneller Hilfe (Klasen, Meyrose, Otto, Reiss & Ravens-Sieberer, 2017). Vor allem internalisierende Schwierigkeiten, insbesondere bei Mädchen, haben ein hohes Risiko, von Eltern unterschätzt zu bleiben (Hintzpeter et al., 2014; Petermann, 2005).

Neben dem Elternhaus ist die Schule ein weiterer Lebensbereich von Kindern und Jugendlichen, in dem psychische Schwierigkeiten auffallen und erkannt werden können. Dies ist besonders relevant, da sowohl im Eltern- als auch im Selbsturteil im Kontext psychischer Auffälligkeiten am häufigsten über Beeinträchtigungen in der Schule berichtet wird (Wille, Bettge, Wittchen & Ravens-Sieberer, 2008). Auch wird die Rolle der Lehrkräfte zunehmend als bedeutsam für die Früherkennung und als Informationsquelle bei der Diagnostik von psychischen Gesundheitsproblemen postuliert (Bilz, 2014; Loades & Mastroyannopoulou, 2010; Roos et al., 2016). Dies ist für eine möglichst frühzeitige Inanspruchnahme von medizinischen oder psychotherapeutischen Angeboten von Bedeutung. Darüber hinaus stellt im schulischen Kontext das Erkennen von psychischen Schwierigkeiten die Voraussetzung für einen passgenauen pädagogischen Umgang mit möglichen schulischen Problemen und gegebenenfalls die Einleitung von (sonder-)pädagogischen Unterstützungsmaßnahmen dar.

Ein Teil der psychisch auffälligen Schüler und Schülerinnen erhält ein sonderpädagogisches Bildungsangebot mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Der Anteil Kinder und Jugendlicher mit psychischen Auffälligkeiten in diesem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt ist mit 82% als sehr hoch anzusehen (Schmid, Fegert, Schmeck & Kölch, 2007). Zwischen dem Anteil an Schülerinnen und Schülern mit psychischen Auffälligkeiten in der Gesamtbevölkerung (16.9%; Klipker et al., 2018) und der Förderquote im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (1.3%; Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK), 2020) gibt es jedoch eine augenfällige Diskrepanz. Dies weist darauf hin, dass ein Großteil der psychisch auffälligen Kinder und Jugendlichen an Regelschulen unterrichtet wird und ihre Bedarfe somit auch dort identifiziert und berücksichtigt werden müssen.

Zu der Frage, inwieweit Lehrkräfte in der Lage sind, psychische Schwierigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler zu erkennen, liegen bisher wenig und teilweise uneinheitliche Erkenntnisse vor. Während einige Studien zu der Einschätzung gelangen, dass Lehrkräfte psychische Schwierigkeiten erkennen, ihre Schwere beurteilen können (Loades & Mastroyannopoulou, 2010; Splett et al., 2019) und sich die Einschätzungen von Lehrkräften zur psychischen Gesundheit ihrer Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter als prädiktiv für psychische Schwierigkeiten im Jugendalter erweisen (Honkanen et al., 2014), kommen andere Studien zu dem Ergebnis, dass Lehrkräfte bisher nur in geringem Maß in der Lage sind, psychische Schwierigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler zu identifizieren (Bilz, 2014; Eklund & Dowdy, 2014). Mehrere Studien zeigen, dass insbesondere internalisierende Schwierigkeiten ein hohes Risiko haben, von Lehrkräften nicht bemerkt zu werden (Auger, 2004; Bilz, 2014; Cunningham & Suldo 2014; Miller, Martinez, Shumka & Baker, 2014; Papandrea & Winefried, 2011). Die Selbst- und Fremdeinschätzung durch ihre Lehrkräfte weichen bei Jungen stärker voneinander ab als bei Mädchen (Bilz, 2014; Roos, 2016). Darüber hinaus geben Lehrkräfte an, sich nicht kompetent zu fühlen, internalisierende Probleme ihrer Schülerinnen und Schüler zu erkennen (Papandrea & Winefried, 2011) bzw. unzureichend vorbereitet zu sein, mit Schülerinnen und Schülern, die psychische Schwierigkeiten haben, umzugehen (Rothì, Leavey & Best, 2008).

Es stellt sich also die Frage, wie Schulen zukünftig stärker zu einer Früherkennung von psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen beitragen können. Um Lehrkräfte und pädagogisches Personal für psychische Schwierigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler sensibilisieren zu können, müsste also geklärt werden, welche beobachtbaren schulischen Merkmale Hinweise auf psychische Schwierigkeiten geben und wie vermieden werden kann, dass bestimmte Schwierigkeiten, v.a. internalisierende Auffälligkeiten, im schulischen Kontext unerkannt bleiben. Es existieren vielfältige Veröffentlichungen zu psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen, die Symptomatiken und auch Auswirkungen auf den schulischen Kontext beschreiben. Meist beziehen diese sich jedoch auf das Erscheinungsbild einer spezifischen Erkrankung wie ADHS (für einen Überblick siehe: Frölich, Döpfner & Banaschewski, 2014; Gawrilow, Guderjahn & Gold, 2013) oder Depression (für einen Überblick siehe: Castello & Brodersen, 2021) und liefern hauptsächlich Hinweise auf pädagogische Interventionsmöglichkeiten, nachdem die Problematik bereits erkannt und diagnostiziert wurde. Darüber hinaus wird allgemein berichtet, dass viele psychischen Erkrankungen Auswirkungen auf den schulischen Erfolg und die soziale Integration (Kölch & Nolkemper, 2017) haben und psychische Auffälligkeiten sich auf den Schulalltag in Form von Unterrichtsstörungen, aggressivem Sozialverhalten, Rückzugsverhalten, sozialen Ansteckungseffekten oder langfristig auch Schulabsentismus auswirken können (Castello, 2017, S.9). Eine Ausdifferenzierung schulischer Merkmale, die sich als relevant bei der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten erweisen und sich möglicherweise auch für eine Früherkennung durch Lehrkräfte eignen, liegt bisher nicht vor.

Daher haben wir für unsere Studie ein empirisches Vorgehen gewählt, um herauszufinden, welche schulischen Merkmale sich im Kontext psychischer Auffälligkeiten als bedeutsam erweisen können. In einer Vorstudie untersuchten wir Schulakten einer Klinikschule und erfassten sämtliche schulischen Probleme, die dokumentiert wurden (Janschewski, Berens & Käppler, 2014). Die dokumentierten schulischen Probleme ließen sich in abfallender Häufigkeit folgenden Kategorien zuordnen: Probleme beim schulischen Arbeiten, Probleme im Umgang mit Mitschülerinnen und Mitschülern/Lehrkräften, Erfahrungen als Mobbingopfer/Außenseiterin oder Außenseiter, eine hohe Anzahl von Fehlzeiten bis hin zu komplettem Schulabsentismus und eine erhöhte Anzahl Schul-/Klassenwechsel (ggf. auch erst nach dem Klinikaufenthalt). Die gefundenen Kategorien lassen sich inhaltlich in etwa auch den allgemeinen Beschreibungen von Auswirkungen auf den schulischen Erfolg und die soziale Integration bis hin zu Schulabsentismus (s.o.) zuordnen, sodass davon ausgegangen werden kann, dass sie eine valide Grundlage zur Erfassung schulischer Merkmale psychisch auffälliger Kinder und Jugendlicher darstellen. Diese Grundlage nutzten wir als Modell zur Ausdifferenzierung schulischer Merkmale, die im Kontext psychischer Auffälligkeiten auch ohne die Anwendung eines spezifischen Screeninginstruments von Lehrkräften beobachtbar oder bemerkbar sein können. Wir erfragten insgesamt 16 inhaltlich möglichst trennscharfe Items zur Erfassung schulischen Lernens und Arbeitens, zu erhöhten Fehlzeiten und zur sozialen Integration und Verhaltensproblemen, deren Ausprägung zwischen Stichproben mit und ohne psychisch auffällige Schülerinnen und Schüler verglichen wurde. Eine Unterscheidung von möglichen Risikofaktoren, Auswirkungen oder Symptomen erfolgte aufgrund der eingeschränkten Datenlage nicht. Eine genaue Auflistung und Beschreibung zur Auswahl der Items findet sich im Methodenteil.

In einer Baden-Württemberg weit angelegten Untersuchung befragten wir Schülerinnen und Schüler von Klinikschulen an Kinder- und Jugendpsychiatrien – als Gruppe mit gesicherter medizinischer Diagnose – mittels Fragebogen zu ihrer schulischen Situation vor ihrem Klinikaufenthalt und verglichen ihre Aussagen mit denen von Schülerinnen und Schülern ohne psychische Auffälligkeiten von Regelschulen mit einem logistischen Regressionsmodell (s. auch Methodenteil). Die gefundenen Prädiktoren können genutzt werden, um Lehrkräfte für mögliche schulische Auswirkungen von psychischen Problemen ihrer Schülerinnen und Schüler zu sensibilisieren, um ihnen frühzeitig pädagogisch begegnen und die Kooperation mit Eltern und Kolleginnen und Kollegen der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie suchen zu können.

Methoden

Datenerhebung und Stichprobe

Die Studie wurde als anonyme Online-Befragung konzipiert. Bei Bedarf konnten die Schulen jedoch aus organisatorischen Gründen auf Paper-Pencil-Fragebögen ausweichen. Die Befragung dauerte ca. 20 Minuten. Voraussetzung für die Teilnahme war eine schriftliche Einverständniserklärung der Eltern. Die Studie wurde vom Kultusministerium Baden-Württemberg genehmigt. Außerdem liegt ein positives Votum der Ethikkommission des Universitätsklinikums Tübingen vor. Die Datenerhebung fand zwischen April 2014 und Oktober 2015 statt.

Zur Datenerhebung wurden sechzehn Klinikschulen mit einem Standort an einer stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie in Baden-Württemberg angeschrieben und um Teilnahme an der Studie gebeten. Klinikschülerinnen und -schüler sind also Kinder und Jugendliche, die während eines längeren stationären Aufenthalts in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie die dortige Schule besuchen. Die Dauer des stationären Aufenthalts zum Zeitpunkt der Befragung wurde nicht erhoben. Da die durchschnittliche Verweildauer im Untersuchungszeitraum bei 34.35 Tagen (Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, 2015, 2016) lag, gehen wir jedoch nicht von einer größeren Verzerrung durch die retrospektive Befragung der Klinikschülerinnen und -schüler aus. Es nahmen 13 Klinikschulen an der Studie teil. Als Vergleichsstichprobe dienten Schülerinnen und Schüler von fünf Sekundarschulen in Baden-Württemberg (zwei Gymnasien, zwei Gemeinschaftsschulen und eine Realschule).

Insgesamt nahmen 288 Mädchen und 217 Jungen an der Studie teil, 46 Teilnehmerinnen und Teilnehmer machten keine Angabe zu ihrem Geschlecht (N = 551). Während an den Klinikschulen mehr Mädchen als Jungen in der Stichprobe vertreten waren (männlich: n = 55; weiblich: n = 109), wurden an Regelschulen ungefähr gleich viele Mädchen und Jungen befragt (männlich: n = 162; weiblich: n = 179). Alle Schülerinnen und Schüler waren zwischen 11 und 18 Jahren alt, an den Klinikschulen lag das mittlere Alter bei 15.1 ± 2.9 Jahren (Mittelwert und Standardabweichung1), an den Regelschulen bei 14.5 ± 2.2 Jahren. Die Schülerinnen und Schüler der Klinikschulen wurden während der Studie an 13 Standorten von Klinikschulen an Kinder- und Jugendpsychiatrien in Baden-Württemberg beschult und gaben an, im Vorfeld ihres Klinikaufenthalts eine Haupt/Werkrealschule (n = 29), eine Gemeinschaftsschule (n = 11), eine Realschule (n = 46), ein Gymnasium (n = 55), ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) (n = 1) oder eine Berufs(fach)schule (n = 18) besucht zu haben (n = 25 Schülerinnen und Schüler gaben andere oder keine Antworten). Die Schülerinnen und Schüler der Regelschulen wurden von zwei Gymnasien (n = 130), zwei Gemeinschaftsschulen (n = 130) und einer Realschule (n = 112; n = 16 gaben andere oder keine Antworten) rekrutiert. In Baden-Württemberg können auf einer Gemeinschaftsschule alle Bildungsabschlüsse (Hauptschulabschluss, mittlerer Bildungsabschluss und Abitur) angestrebt werden. Von den Schülerinnen und Schülern, die 2020 auf eine Gemeinschaftsschule wechselten, hatten 65.3% eine Grundschulempfehlung für die Werkreal-/Hauptschule, 25.7% eine Realschulempfehlung und 9% eine Grundschulempfehlung für ein Gymnasium erhalten (Kultusministerium Baden-Württemberg, 2021). Unter Annahme dieser Verteilung, ergaben sich für alle Schülerinnen und Schüler, die eine Schulart angaben (n = 160 Klinik- und n = 372 Regelschülerinnen und -schüler), folgende Verteilungen: 22.6% vs. 22.8% Hauptschülerinnen und -schüler, 30.5% vs. 39.1% Realschülerinnen und -schüler bzw. Schülerinnen und Schüler, die den mittleren Bildungsabschluss anstreben und 35.0% vs. 38.1% Gymnasiastinnen und Gymnasiasten an Klinikschulen vs. Regelschulen. Es kann also im Allgemeinen von einer weitgehenden Vergleichbarkeit der beiden Stichproben hinsichtlich der Schularten und der Altersverteilung ausgegangen werden.

Fragebogen zur Erfassung der schulischen Situation

Wir entwickelten einen Fragebogen, der die schulische Situation von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Auffälligkeiten möglichst umfassend erheben sollte. Für diese Studie wurden 16 Items schulischer Merkmale ausgewertet, die daraufhin untersucht wurden, ob sie Lehrkräften Hinweise geben können, dass bei einem Schüler oder einer Schülerin psychische Auffälligkeiten vorliegen könnten. Sämtliche Fragen bezogen sich auf die Zeit vor dem Klinikaufenthalt, um schulische Merkmale identifizieren zu können, die bereits vor der stationären Behandlung existierten und somit zu einer Früherkennung beitragen können. Durch die retrospektive Erhebung der schulischen Situation der Klinikschülerinnen und -schüler unterschieden sich die Fragebögen bei der einleitenden Instruktion: Regelschülerinnen und -schüler erhielten die Aufforderung: „Zunächst bitten wir dich, deine schulische Situation so genau wie möglich zu beschreiben.“, Klinikschülerinnen und -schüler die Aufforderung: „Zunächst bitten wir dich, deine schulische Situation so genau wie möglich zu beschreiben. Beantworte alle Fragen in diesem Fragebogen für die Zeit vor der Klinikschule.“ (Hervorhebungen im Original).

Die Zusammenstellung der Items erfolgte auf Grundlage einer unabhängigen Vorstudie, in der von Lehrkräften dokumentierte schulische Probleme von psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen mittels qualitativer Inhaltsanalyse aus Schulakten erfasst wurden. Somit sollten die hier erfragten untersuchten schulischen Merkmale von Lehrkräften wahrnehmbar sein. Es wurden die Schulakten eines gesamten Schuljahres einer Klinikschule untersucht (N = 100; Janschewski et al., 2014). In den Akten befanden sich hauptsächlich Berichte von Lehrkräften aus der Schulzeit der Kinder und Jugendlichen vor ihrem Klinikaufenthalt, aber auch der Abschlussbericht der Klinikschullehrkräfte, der nach der Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verfasst wurde. In den allermeisten Schulakten wurde von schulischen Problemen berichtet. Am häufigsten waren Beeinträchtigungen von schulischem Lernen und Arbeiten (62%) dokumentiert, gefolgt von Konflikten (mit Mitschülerinnen oder Mitschülern und/ oder Lehrkräften) und/oder Gruppenunfähigkeit (46%), eine hohe Anzahl von Fehltagen (35%) und Erfahrungen als Mobbingopfer und/oder Außenseiterin oder Außenseiter (17%). Außerdem wurde in 65% der Fälle von einem oder mehreren Schul-/Klassenwechseln vor oder nach dem Klinikaufenthalt berichtet (ebd.), was für die vorliegende Studie jedoch außer Acht gelassen wurde, da im pädagogischen Alltag beobachtbare schulische Merkmale untersucht werden sollten. Entsprechend wurden 5 Items zur Erfassung des schulischen Lernens und Arbeitens (Item 9, 10, 11, 12, 14), und 3 Items zur Erfassung erhöhter Fehlzeiten (Item 13, 15, 16) konzipiert. Darüber hinaus wurden weitere 8 Items zu Sozialkontakten und sozialer Integration und zur Erfassung der übrigen Problemlagen erfragt (Item 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8). Sämtliche Items wurden auf einer fünfstufigen Likert-Skala (stimmt gar nicht, stimmt eher nicht, stimmt teilweise, stimmt eher, stimmt genau) angegeben. Zusätzlich hatten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit anzugeben, die Frage nicht beantworten zu können (weiß ich nicht). Eine Ausnahme stellte lediglich Item 16 („Wie viele Fehltage hattest du ungefähr im letzten Schuljahr?“) dar. Dieses wurde vierstufig erfragt (0–10 Tag, 11–20 Tage, 21–40 Tage, mehr als 41 Tage). Eine Übersicht über die verwendeten Items findet sich in Tabelle 1 . Der Fragebogen wurde im Hinblick auf Verständlichkeit und Bearbeitungszeit vor seiner Anwendung mit drei Schülerinnen und Schülern einer Klinikschule getestet. Die Gesamtskala zeigt eine gute Reliabilität (Cronbachs Alpha = .86).

Tabelle 1 Übersicht über die verwendeten Items

Strengths and Difficulties Questionnaire

Der Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) ist ein Screening-Instrument zur Erfassung von Verhaltensstärken und -schwächen, welches breite internationale Anwendung zur Erfassung von psychischen Auffälligkeiten findet (Goodman, 1997). Mit je fünf Items werden die Problemskalenskalen emotionale Probleme, Verhaltensprobleme, Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen, Hyperaktivität und die Stärkeskala prosoziales Verhalten erfasst. Aus den vier Problemskalen wird ein Gesamtproblemwert gebildet. Die Grenzwerte des Gesamtproblemwerts wurden so gewählt, dass 80% der Kinder und Jugendlichen als „normal“, 10% als „grenzwertig“ und 10% als „auffällig“ eingestuft werden. Die Subskalen emotionale Probleme und Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen können zu einer Skala internalisierende Probleme und die Subskalen Verhaltensprobleme und Hyperaktivität zu einer Skala externalisierende Probleme kombiniert werden (Goodman, Lamping & Ploubidis, 2010). Darüber hinaus existiert ein Zusatzfragebogen, der zunächst erfragt, ob aus Sicht der Beurteilerin oder dem Beurteiler Schwierigkeiten im Bereich der Stimmung, dem Verhalten, der Konzentration oder im Umgang mit anderen vorliegen. Wird diese Frage mindestens mit leichten Schwierigkeiten bejaht, können weitere Angaben zur Chronizität, zum Leidensdruck, zur Belastung für andere und Beeinträchtigungen in Bereichen des Alltagslebens („zu Hause“, „mit Freunden“, „in der Schule“, „in der Freizeit“) gemacht werden. Es liegen Versionen für die Fremdbeurteilung aus Sicht von Eltern und Lehrkräften und eine Version zum Selbsturteil für Kinder und Jugendliche ab 11 Jahren vor.

Für diese Studie wurde der Gesamtproblemwert der deutschen Version der Selbstbeurteilung verwendet, deren Validität mehrfach nachgewiesen werden konnte (Becker et al.; 2018; Klasen et al., 2000; Lohbeck, Schultheiß, Petermann & Petermann, 2015). Außerdem wurden die Subskalen internalisierende und externalisierende Probleme gebildet und die Angaben zu Beeinträchtigungen des Alltagslebens des Zusatzfragebogens ausgewertet. Es wurden Schülerinnen und Schüler der Regelschule als psychisch auffällig angesehen, wenn der SDQ-Gesamtscore ≥ 15 war (Lohbeck et al., 2015). Der Anteil der somit im SDQ auffälligen Regelschülerinnen und -schüler betrug 19.7%. Dies stimmt gut mit Pretests des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys überein, die für das SDQ-Selbsturteil 16.1% grenzwertig auffälliger und auffälliger Gesamtproblemwerte angeben (Bettge, Ravens-Sieberer, Wietzker & Hölling, 2002). Die diskriminante Validität des SDQ-Selbst im Hinblick auf die Unterscheidung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne eine Diagnose einer psychischen Erkrankung kann als gut angesehen werden (AUC = .835; Becker, Hagenberg, Roessner, Woerner & Rothenberger, 2004).

Der SDQ wurde nicht zur Berechnung des Klassifikators herangezogen. Er diente in dieser Studie neben der medizinisch gesicherten Diagnose jedoch als zusätzliches Kriterium, um eine Einschätzung zu einer psychischen Auffälligkeit vornehmen zu können. Dadurch konnten sowohl psychisch auffällige Schülerinnen und Schüler in der Regelschulstichprobe identifiziert als auch eine Unterscheidung in internalisierende und externalisierende Auffälligkeiten in Klinik- und Regelschulstichprobe vorgenommen werden.

Statistische Auswertung und Maschinelles Lernen

Die Auswirkung psychischer Belastung in unterschiedlichen Lebensbereichen wurde mit einer ANOVA mit Messwiederholungen (R Pakete afex 0.28, lsmeans 2.3) mit Zwischensubjektfaktor Schülerinnen- und Schülergruppe und Innersubjektfaktor Lebensbereich analysiert. P-Werte für Vergleiche der Mittelwerte sind korrigiert nach Tukey.

Wir nutzten explorative Faktoranalyse, um die Antworten auf die Einzelitems datengetrieben zu aggregieren (Funktion fa, R Paket psych 2.0.12, Rotation: promax, Principle Factor Solution). Die Anzahl der Faktoren wurde so ausgewählt, dass das Bayesianische Informationskriterium (BIC) minimiert wurde. Diese Kennzahl wägt dabei die Fähigkeit des Faktoranalysemodells, die Daten akkurat zu modellieren, und dessen Komplexität gegeneinander ab.

Auf Itemebene fehlten im Mittel 1.8% der Antworten (zwischen 0.7% und 5.1%). Hohe Missingness wurde insbesondere bei den Items „Ich kann gut bewältigen, was die Schule von mir verlangt“ (5.1%), „Meine Leistungen haben sich im letzten Jahr verschlechtert“ (4.2%) und „Schule ist mir wichtig“ (4.0%) beobachtet. 435 Schülerinnen und Schüler hatten alle Fragen vollständig beantwortet. Fehlende Werte wurden mit der Methode predictive mean matching aus dem R Paket mice 3.12.0 mit Standardparametern (van Buuren & Groothuis-Oudshoorn, 2011) imputiert. Diese Methode nutzt Werte anderer Schülerinnen und Schüler mit ähnlichem Antwortprofil, um die fehlenden Werte einzufüllen.

Für die Unterscheidung zwischen psychisch auffälligen und psychisch unauffälligen Schülerinnen und Schülern verwendeten wir ein logistisches Regressionsmodell, um die Gruppenzugehörigkeit basierend auf den Faktorausprägungen bzw. den Item-Antworten vorherzusagen (Hastie, Tibshirani & Friedman, 2009). Dieses modelliert die Wahrscheinlichkeit, zur Gruppe der Klinikschülerinnen und -schüler („K“) zu gehören, als lineare Funktion mit Gewichten β der Prädiktoren x (also Faktorausprägungen oder Einzelitems):

(1)

Die Schätzung der Prädiktoren erfolgt über die Maximierung der regularisierten Likelihood des Modells. Wir verwendeten eine elastic-net-Regularisierung, die zwischen l1- und l2-Regularisierung interpoliert und sich für korrelierte Prädiktoren eignet (Friedman, Hastie & Tibshirani, 2010). Die Funktion der Regularisierung ist es, den Modellraum zu beschränken und somit eine gute Generalisierungsfähigkeit des Modells sicherzustellen, auch wenn der hierdurch zu erwartende Vorteil bei nur vier Prädiktoren im Modell, das auf der Faktoranalyse basiert, überschaubar ausfallen dürfte. Die l1-Regularisierung verwendet dazu den Absolutbetrag der Gewichte und führt insbesondere bei korrelierten Prädiktoren zu spärlich besetzen Gewichtsvektoren („sparseness“), d.h. wählt automatisch informative Items aus; die l2-Regularisierung hingegen verwendet die Summe der Quadrate der Einträge des Gewichtsvektors und sorgt zwar für nicht übermäßig anwachsende Gewichte in dem Fall, dass die Daten das Modell nur ungenügend bestimmen, nimmt aber keine Auswahl der Items vor. Wir nutzten die R Pakete caret 6.0-86 und glmnet 4.0-2, um die Modellparameter aus den Daten zu schätzen.

Wir evaluierten das Modell mit einer geschachtelten Kreuzvalidierungsstrategie: In der äußeren Schleife teilten wir den Datensatz 50-mal in unterschiedliche Partitionen von 70% der Daten, die zur Modellentwicklung genutzt wurden, und 30% der Daten, die zur Berechnung der Genauigkeit genutzt wurden. In dieser äußeren Schleife wurde die Imputation fehlender Werte für die beiden Partitionen unabhängig durchgeführt. In der inneren Schleife testeten wir verschiedene Kombinationen von l1- und l2-Regularisierung (.05, .5, .95; für Subgruppenanalysen nur .05) sowie Regularisierungsstärken (logarithmisch zwischen 0.0005 und 0.5) mit Hilfe von 100-fachem bootstrap-Resampling (unter Nutzung der caret-Implementation) und wählten das beste Modell mit Hilfe der 1-Standardfehler-Regel aus (Friedmann, Hastie & Tibshirani, 2010). Bei bootstrap-Resampling wird der Klassifikator auf einem Trainingsdatensatz trainiert, der aus mit Zurücklegen gezogenen Datenpunkten aus dem Originaldatensatz besteht (Kuhn & Johnson, 2013). Daher kann jeder Datenpunkt mehrfach vorkommen. Die Vorhersagequalität wird dann auf den nicht benutzten Datenpunkten evaluiert. Andere Evaluationsstrategien wie „wiederholte K-Fold Kreuzvalidierung“ erreichten nahezu identische Ergebnisse. Die Balance zwischen den Klassen wurde mit Hilfe der „downsample“-Option von caret sichergestellt. In der Analyse zeigte sich, dass die genaue Regularisierungsstrategie nur einen sehr kleinen Effekt auf die Vorhersagegüte hatte, sodass Modelle mit unterschiedlich spärlich besetzten Gewichtsvektoren nahezu gleich gute Vorhersagen machten. Wir berichten die Validierungskennwerte (geschätzt in der inneren Schleife) sowie die Testkennwerte (geschätzt in der äußeren Schleife) in der zusammenfassenden Tabelle, im Text geben wir grundsätzlich die Testkennwerte an. Die Abweichung zwischen beiden Werten aber klein. Zur Visualisierung der Gewichte wurde das Modell nochmals auf allen Daten angepasst.

Für die Güte des Klassifikators wurden verschiedene Standardmaße verwendet, die im Folgenden im Kontext dieses Artikels kurz definiert werden:

  1. 1.
    Genauigkeit: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Klassifikator die Gruppenzugehörigkeit einer Schülerin bzw. eines Schülers korrekt vorhergesagt hat (R oder K).
  2. 2.
    Area under the ROC-Curve (AUC): Die Fläche unter der ROC-Kurve, die die Spezifität und 1-Sensitivität für unterschiedliche Entscheidungskriterien miteinander in Verbindung setzt. Gute Klassifikatoren haben eine ROC-Kurve, die sehr steil ansteigt (d.h. bereits für hohe Spezifität eine hohe Sensitivität erreichen, s.u.) und damit AUC-Werte nahe 1.
  3. 3.
    Sensitivität: Die Wahrscheinlichkeit, eine Schülerin bzw. einen Schüler der Klinikschule zu erkennen.
  4. 4.
    Spezifität: Die Wahrscheinlichkeit, eine Schülerin bzw. einen Schüler der Regelschule zu erkennen.

Zusätzlich zu dem Ansatz aus dem Maschinellen Lernen führten wir eine unregularisierte statistische Analyse auf Einzelitemebene mit der R-Funktion glm durch, um den Einfluss der Einzelitems auf die Unterscheidung zwischen den Gruppen „R“ und „K“ zu testen.

Der Analysecode sowie die Daten sind im Open Science Framework (OSF) hinterlegt und öffentlich zugänglich: https://osf.io/vwzqg/.

Ergebnisse

Zur Untersuchung von schulischen Merkmalen psychisch auffälliger Schülerinnen und Schüler untersuchten wir die Antworten von 171 Schülerinnen und Schülern an Klinikschulen und von 380 Schülerinnen und Schülern an Regelschulen auf einen für diese Studie eigens entwickelten Fragebogen (N = 551, siehe Methoden). Da die Klinikschülerinnen und -schüler aufgrund einer psychischen Erkrankung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär behandelt wurden, wurde in dieser Studie das Vorhandensein einer psychischen Problematik durch das Vorliegen einer klinischen Diagnose abgesichert.

Die Vergleichsstichprobe wurde durch die Schülerinnen und Schüler der Regelschulen gebildet. Sie sollte ausschließlich psychisch unauffällige Schülerinnen und Schüler enthalten. Die dadurch notwendige Unterscheidung von psychisch unauffälligen und psychisch auffälligen Schülerinnen und Schülern an Regelschulen erfolgte mittels des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ; Goodman, 1997), der in den Fragebogen integriert war (siehe Methoden). Insgesamt ergaben sich somit für die Analysen der Studie folgende Schülerinnen- und Schülergruppen:

  1. 1.
    Schülerinnen und Schüler mit psychischen Auffälligkeiten an Klinikschulen (K)
  2. 2.
    Schülerinnen und Schüler mit psychischen Auffälligkeiten an Regelschulen (R/SDQ+)
  3. 3.
    Schülerinnen und Schüler ohne psychische Auffälligkeiten an Regelschulen (R).

Belastungserleben von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Auffälligkeiten

Zunächst prüften wir die Hypothese, dass psychische Probleme für die Betroffenen häufig auch eine starke schulische Beeinträchtigung erzeugen. Dazu werteten wir die Frage, wie stark angegebene psychische Beschwerden die Betroffenen in bestimmten Alltagsbereichen (zu Hause, mit Freundinnen/Freunden, im Unterricht und in der Freizeit) beeinträchtigen, nach Schülerinnen- und Schülergruppen differenziert aus. Wir analysierten dazu vollständig vorliegende Antworten jener Schülerinnen und Schüler, die auch von Schwierigkeiten im Bereich der Stimmung, der Konzentration, des Verhaltens oder im Umgang mit anderen berichteten (Klinikschülerinnen und -schüler: n = 140, Schülerinnen und Schüler an Regelschulen ohne erhöhten SDQ: n = 125, Schülerinnen und Schüler an Regelschulen mit erhöhtem SDQ: n = 59). Es zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Schülerinnen- und Schülergruppen und der Lebensbereiche im Hinblick auf die Stärke der Beeinträchtigung (ANOVA mit Messwiederholung, n wie oben spezifiziert; Haupteffekte Schülerinnen- und Schülergruppe und Lebensbereich, jeweils p < .001, keine signifikante Interaktion, p = .33; Tabelle 2). Erwartungsgemäß nahm die subjektive Beeinträchtigung über alle Lebensbereiche hinweg von Regelschülerinnen und -schülern ohne psychische Auffälligkeiten bis hin zu Klinikschülerinnen und -schülern zu (Abbildung 1, p < .0001 für alle paarweisen Vergleiche; Tabelle 3). Darüber hinaus zeigte sich, dass die Beeinträchtigung von den Betroffenen in allen Schülerinnen- und Schülergruppen im Bereich Schule und Unterricht am stärksten empfunden wurde. Im Vergleich mit anderen relevanten Lebensbereichen wie dem Familienleben zu Hause, der Freizeit und dem Bereich Freundschaften erlebten Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten den Lebensbereich Schule und Unterricht signifikant als am stärksten beeinträchtigt (Tabelle 4). Dieses Ergebnis ergänzt den Befund der BELLA-Studie, der zeigt, dass psychische Belastungen sowohl im Selbst- als auch im Elternbericht am häufigsten mit Beeinträchtigungen in der Schule einhergehen (Wille et al., 2008).

Tabelle 2 ANOVA mit Messwiederholungen für Unterschiede zwischen den Lebensbereichen und Schülerinnen- und Schülergruppen
Tabelle 3 Post-Hoc Tests der Unterschiede zwischen Schülerinnen- und Schülergruppen gemittelt über Lebensbereiche
Tabelle 4 Post-Hoc Tests der Unterschiede zwischen Lebensbereichen, gemittelt über alle Schülerinnen- und Schülergruppen
Abbildung 1 Subjektive Beeinträchtigung verschiedener Lebensbereiche von Schülerinnen und Schülern von Regelschulen ohne erhöhten SDQ (R), Regelschulen mit erhöhten SDQ (R/SDQ+) und Klinikschulen (K) erhoben mit dem SDQ Zusatzfragebogen. Die Befragten konnten auf einer vierstufigen Skala von gar nicht (hier mit 1 gewertet) über kaum und deutlich zu schwer (hier mit 4 gewertet) ihr Beeinträchtigungserleben angeben. Mittelwert des ANOVA-Modells mit ± 1 Standardfehler.

Unterscheidung von Klinik- und Regelschülerinnen und -schülern anhand latenter Faktoren

Wir untersuchten, welche latenten Faktoren der Schülerinnen und Schüler sich aus den Antworten auf die Items des Fragebogens ableiten ließen. Dazu nutzten wir explorative Faktoranalyse und konnten Evidenz für vier semantisch kongruente Faktoren, die die Kovarianz in der Stichprobe beschreiben, finden (Abbildung 2A, siehe Methoden). Zur Auswahl des Modells verwendeten wir das Bayesianische Informationskriterium. Die vier Faktoren erklärten gemeinsam 46% der Gesamtvarianz.

Abbildung 2 (A) Gewichte der Einzelitems in den Faktoren, die die schulische Situation der Schülerinnen und Schüler beschreiben. Weiß: positive Gewichte, Schwarz: negative Gewichte, Grau: trägt nicht zum Faktor bei. (B) ROC-Kurven der Kreuzvalidierungsdurchläufe. (C) Koeffizienten β des auf dem ganzen Datensatz trainierten Klassifikators, mit denen die Faktoren gewichtet werden, um vorherzusagen, ob Kinder und Jugendliche Schülerinnen und Schüler der Klinikschule oder der Regelschule (ohne erhöhten SDQ) sind. Die absolute Größe der Gewichte ist nicht aussagekräftig. (D) Verteilung der Vorhersagewahrscheinlichkeit des logistischen Regressionsmodells (siehe Methoden) für die Klasse „Klinikschülerin/Klinikschüler“ für Klinikschülerinnen und -schüler, Regelschülerinnen und -schüler (und Regelschülerinnen und -schüler mit erhöhtem SDQ (grau hinterlegt).

Es ließen sich folgende Faktoren identifizieren: aggressiv-oppositionelles Verhalten, soziale Schwierigkeiten, schulvermeidendes Verhalten und sozialer Rückzug und positives Lern-/Leistungsverhalten. Eine Übersicht über die den Faktoren zugehörigen Einzelitems findet sich in Tabelle 5.

Tabelle 5 Durch Faktoranalyse identifizierte schulische Faktoren zur Vorhersage psychischer Auffälligkeiten

Anschließend untersuchen wir, ob die Ausprägung dieser Faktoren genutzt werden kann, um Schülerinnen und Schüler mit psychischen Problemen von jenen ohne psychische Auffälligkeiten zu unterscheiden. Zu diesem Zweck trainierten wir einen linearen Klassifikator, der zwischen Klinikschülerinnen und -schülern (K) und Schülerinnen und Schülern der Regelschule ohne psychische Auffälligkeiten (R) unterscheiden sollte. Als „positive“ Klasse wurde immer die Klinikschule benutzt. Der resultierende Klassifikator konnte Schülerinnen und Schüler der Klinikschule von jenen der Regelschule ohne psychische Auffälligkeiten mit hoher Genauigkeit unterscheiden (Abbildung 2B, AUC .87 ± .02, Mittelwert und Standardabweichung über 50 Testdatensätze, Genauigkeit .83 ± .01; Tabelle 6). Der Klassifikator erreichte eine Sensitivität von .76 und eine Spezifität von .87. Dies bedeutet, dass der Klassifikator 76% aller Klinikschülerinnen und -schüler als solche erkannte und 87% der Schülerinnen und Schüler ohne psychische Auffälligkeiten korrekt der Regelschule zuordnete. Für einen Großteil der Kinder und Jugendlichen konnten also anhand der Faktorausprägungen richtig zugeordnet werden, ob sie eine Klinikschule besuchten oder nicht.

Tabelle 6 Übersicht über die Kenngrößen der untersuchten Klassifikatoren

Wir untersuchten, welche Faktoren für die Vorhersage besonders relevant waren. Mit großem Abstand übte den stärksten Einfluss auf die Vorhersage der Faktor schulvermeidendes Verhalten und sozialer Rückzug aus, gefolgt von sozialen Schwierigkeiten (Abbildung 2C). Vergleichsweise gering fielen die Gewichte für Schwierigkeiten mit Lern-/Leistungsanforderungen und aggressive und oppositionelle Verhaltensweisen aus. Dieses Ergebnis erscheint bedeutsam für die Schulpraxis, da Lehrkräfte zwar vorrangig das Lern-/Leistungsverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler beurteilen, schulvermeidendes Verhalten und soziale Problematiken jedoch ebenfalls beobachtbar sind.

Schließlich untersuchten wir die Schülerinnen- und Schülergruppe an Regelschulen mit erhöhtem SDQ (R/SDQ+), deren Angaben in die Berechnungen des Klassifikators nicht eingeflossen waren. Sollte der trainierte Klassifikator tatsächlich auf für die Schulpraxis relevante Merkmale hinweisen, wäre zu erwarten, dass diese Schülerinnen und Schüler zu einem höheren Prozentanteil der Klinikschule zugeordnet werden, obwohl sie die Regelschule besuchen. In der Tat wurden 66% dieser Gruppe als Klinikschülerinnen und -schüler klassifiziert, während dies nur für 11% der Schülerinnen und Schüler von Regelschulen mit unauffälligem SDQ der Fall war. Entsprechend konnte eine starke Erhöhung der Vorhersagewahrscheinlichkeit für die Klasse „Klinikschule“ bei diesen Schülerinnen und Schülern beobachtet werden (D). Der SDQ-Wert der Schülerinnen und Schüler aus der Gruppe R/SDQ+, die der Klinikschule zugeordnet wurden, war ebenfalls signifikant erhöht gegenüber denen, die der Regelschule zugeordnet wurden (Wilcoxon Rangsummentest, p = .014, n = 35/39).

Frühere Studien legen nahe, dass insbesondere internalisierende Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen häufig unerkannt bleiben (Bilz, 2014; Miller et al., 2014). Daher untersuchten wir weitergehend, ob der Klassifikator eine Tendenz hat, eher internalisierende oder externalisierende Schwierigkeiten zu erkennen. Dazu zeigen wir die Vorhersage (R vs. K) als Funktion des externalisierenden und des internalisierenden Problemwerts des SDQ (siehe Methoden); Abbildung 3). Für Schülerinnen und Schüler von Regelschulen ohne erhöhten SDQ waren die wenigen falsch positiven Fälle recht uniform über unterschiedliche Kombinationen von hohen Werten der externalisierenden und internalisierenden Subskalen verteilt (Abbildung 3A). Für Schülerinnen und Schüler von Klinikschulen zeigte insgesamt die internalisierende Subskala höhere Werte, die sich in einer leichten Tendenz für mehr Fehlklassifikationen für Schülerinnen und Schüler mit auffällig erhöhter externalisierender Subskala niederschlug (Genauigkeit .83 vs. .93 für Schülerinnen mit erhöhtem externalisierenden SDQ [≥ 8] und erhöhtem internalisierendem SDQ [≥ 9]; Abbildung 3B). Für Schülerinnen und Schüler von Regelschulen mit erhöhtem SDQ zeigte sich dieser Bias weniger ausgeprägt (Klassifizierung als Klinikschülerin/Klinikschüler: 67% vs. 70%; Abbildung 3C). Daher können die identifizierten latenten Faktoren sowohl für Kinder und Jugendliche mit internalisierenden als auch externalisierenden psychischen Schwierigkeiten als prädiktiv für eine Beschulung in der Klinik- oder Regelschule angesehen werden.

Abbildung 3 (A) Vorhersage R (grau) und K (schwarz) des Klassifikators für Schülerinnen und Schüler von Regelschulen ohne erhöhten SDQ in Abhängigkeit von externalisierender und internalisierender SDQ-Subskala. Da hier nur Schülerinnen und Schüler ohne erhöhten SDQ gezeigt sind (SDQ < 15) sind keine Punkte über der Gegendiagonalen zu sehen für die x + y = 15 gilt, da hier ein erhöhter SDQ vorliegt. (B) Wie in A. für Schülerinnen und Schüler von Klinikschulen. (C) Wie in (A) für Schülerinnen und Schüler von Regelschulen mit erhöhtem SDQ.

Vorhersage psychischer Probleme anhand von Einzelitems

Um genauer zu untersuchen, welche Einzelitems sich als besonders prädiktiv erwiesen, trainierten wir ebenfalls einen Klassifikator, der aus den Antworten der 16 Einzelitems vorhersagte, ob einzelne Schülerinnen und Schüler eine Klinikschule besuchten (K) oder Regelschülerinnen und -schüler ohne Auffälligkeit (R) waren. Zunächst nutzen wir einen Klassifikator mit l2-regularisierten Gewichten (siehe Methoden), bei dem alle Items verwendet werden können, solange die Gewichte nicht zu stark anwachsen. Auch für den Einzelitem-Klassifikator zeigten sich zufriedenstellende Werte für die Klassifikationsgüte (AUC: .89 ± .02, Mittelwert und Standardabweichung über 50 Testdatensätze, Genauigkeit: .85 ± .02; Tabelle 6). 74% der Klinikschülerinnen und -schüler wurden korrekt der Klinikschule zugeordnet und 91% der Regelschülerinnen und -schüler ohne psychische Probleme korrekt der Regelschule (d.h. Sensitivität: .74, Spezifität: .91). Ähnliche Werte erreichte ein Klassifikator, dessen Gewichtsvektor unter der Annahme von Spärlichkeit (d.h. wenige Gewichte sind ungleich null, „sparseness“) optimiert wurde (siehe Methoden).

Die Einzelitemanalyse erlaubte darüber hinaus einen detaillierteren Einblick, welche Items die höchste Vorhersagekraft besaßen. Übereinstimmend mit dem Ergebnis, dass eine hohe Ausprägung des Faktors Schulvermeidendes Verhalten und sozialer Rückzug besonders prädiktiv für Klinikschülerinnen und -schüler war, hatte bei der Einzelitemanalyse die Angabe von „hohen Fehlzeiten“ den stärksten Einfluss auf den Klassifikator, gefolgt von den Items „Ich habe mich in letzter Zeit in der Schule sehr zurückgezogen“ und „Ich habe Angst in die Schule zu gehen“ (Abbildungen 4B und C), unabhängig von der Regularisierung des Klassifikators. Diese Items ließen sich auch gut anhand der Verteilung der Antworten nachvollziehen (Abbildung 4A). Auch in diesem feiner aufgelösten Modell aus den Einzelitems zur Vorhersage, ob ein Kind/Jugendlicher Schülerin oder Schüler einer Regel- oder einer Klinikschule ist, zeigte sich also, dass weniger das Lern-/Leistungsverhalten Aufschluss über diese Unterscheidung gibt, als die Fragen nach einem regelmäßigen Schulbesuch, Wohlbefinden in der Schule und der sozialen Integration, in Übereinstimmung mit der Analyse der latenten Faktoren.

Abbildung 4 (A) Verteilung der Antworten für alle Items aufgeteilt nach Schülerinnen- und Schülergruppen (siehe Legende rechts oben; aus Platzgründen wird hier R + für die Gruppe R/SDQ + geschrieben). Alle Antworten wurden um ihren tatsächlichen Wert leicht mit uniformem Rauschen verschoben, sodass die wahrgenommene Punktdichte ungefähr der Antworthäufigkeit entspricht. (B) Gewichte des trainierten nicht-spärlichen Klassifikators, mit denen Antworten auf die Einzelitems 1–16 (Tabelle 1) gewichtet werden, um vorherzusagen, ob Schülerinnen und Schüler Klinikschülerinnen und -schüler oder Regelschülerinnen und -schüler (ohne erhöhten SDQ) sind. Item 16 entspricht „Fehlzeiten“, Item 3 „Ich habe mich in letzter Zeit in der Schule sehr zurückgezogen.“ und Item 13 „Ich habe Angst, in die Schule zu gehen.“ Die absolute Größe der Gewichte ist nicht aussagekräftig. (C) wie (B), nur diesmal Gewichte eines Klassifikators, dessen Gewichte spärlich („sparse“) regularisiert sind. Es werden ebenfalls Items 3, 13, und 16 selektiert.

Diese Ergebnisse konnten auch mit einem klassischen statistischen Modell bestätigt werden: Die Items Angaben von „hohen Fehlzeiten“, „Ich habe mich in letzter Zeit in der Schule sehr zurückgezogen“ und „Ich habe Angst in die Schule zu gehen“ hatten statistisch hoch signifikante Gewichte in einer logistischen Regressionsanalyse mit Ergebnisvariable „K“ oder „R“ (Tabelle 7).

Tabelle 7 Die statistische logistischen Regressionsanalyse zeigt kompatible Ergebnisse mit dem regularisierten Modell

Analyse getrennt nach Altersgruppen und Geschlecht

Psychische Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter treten stark alters- und geschlechtsspezifisch auf. Während Jungen eher zu Verhaltensproblemen neigen, zeigen Mädchen eher emotionale Probleme (Ottová, Hillebrandt, Bilz & Ravens-Sieberer, 2013). Ähnlich werden depressive Störungen im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter doppelt so häufig bei Mädchen als bei Jungen diagnostiziert, während sie im Kindesalter häufiger bei Jungen auftreten (Ihle & Esser, 2002). Abschließend untersuchten wir daher, ob die schulischen Prädiktoren in ähnlicher Weise geschlechts- und altersspezifisch waren. Dazu trainierten wir Klassifikatoren jeweils separat für die Teildatensätze, die entweder nur Jungen oder Mädchen bzw. Kinder oder Jugendliche enthielten. Auch für diese deutlich kleineren Datensätze konnten gute Genauigkeitswerte erreicht werden (Tabelle 6). Interessanterweise erwiesen sich die Items mit der stärksten Vorhersagekraft für die Beschulung auf der Klinikschule auch unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht als sehr stabil (Abbildung 5).

Abbildung 5 (A) Gewichte für einen Klassifikator, der separat auf Daten von Kindern (n = 229) und Jugendlichen (n = 239) trainiert wurde. (B) Gewichte für einen Klassifikator, der separat auf Daten von Jungen (n = 217) und Mädchen (n = 288) trainiert wurde.

Bei Kindern (≤ 14 Jahre) zeigten sich zusätzlich die Angaben, Außenseiterin bzw. Außenseiter in der Klasse zu sein und gemobbt zu werden, als prädiktiv (Abbildung 5A). Darüber hinaus zeigten sich keine auffälligen altersspezifischen Effekte.

Bei Jungen erwiesen sich zu den genannten Prädiktoren zusätzlich die Aussage, dass sich die schulischen Leistungen im vergangenen Jahr verschlechtert hätten, etwas stärker prädiktiv für eine Beschulung in der Klinikschule als in der Gesamtanalyse (Abbildung 5B).

Insgesamt zeigten sich im Vergleich zur Prävalenz bestimmter psychischer Erkrankungen also wenige alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede in den schulischen Prädiktoren.

Diskussion

Zusammenfassung und Einordnung

Wir befragten Kinder und Jugendliche, die sich in stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung befanden und dort eine Klinikschule besuchten sowie Schülerinnen und Schüler der Regelschule zu ihrem schulischen Erleben und Verhalten und konnten zeigen, dass ein entsprechend trainierter Klassifikator zwischen den beiden Schülerinnen- und Schülergruppen mit hoher Genauigkeit unterscheiden kann. Da alle Kinder und Jugendlichen, die eine Klinikschule besuchten, sich in stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung aufgrund einer diagnostisch abgesicherten psychischen Erkrankung befanden, kann davon ausgegangen werden, dass Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten auch anhand schulischer Merkmale wie schulvermeidendem Verhalten und sozialem Rückzug zu identifizieren sind.

Unsere Modelle zeigten gute diskriminante Werte (AUC: .90, für Faktor- bzw. AUC: .89 für einzelitembasierte Klassifikatoren; Tabelle 6). Medizinische Screening-Verfahren im Selbstbericht erreichen ähnliche Werte, auch wenn diese nicht direkt vergleichbar sind, da in unserer Studie zwei Gruppen an den Extremen der Verteilung verglichen werden – Klinikschülerinnen und -schüler mit abgesicherter psychiatrischer Diagnose und Regelschülerinnen und -schüler ohne SDQ-Auffälligkeit. So erreicht beispielsweise der SDQ-Selbstbericht ein AUC von .84 (Becker et al., 2004). Dabei wiesen einzelne Items in unserer Studie zwar inhaltliche Nähe zu Items des SDQ auf, spezifizierten diese jedoch für den schulischen Kontext2. Die übrigen Items erfragten schulische Merkmale, die im SDQ nicht erfragt werden3. Im Unterschied zu einem medizinischen Screeningverfahren wie dem SDQ wurden die untersuchten Items darauf ausgerichtet, von Lehrkräften im Schulkontext wahrgenommen oder beobachtet werden zu können. Insbesondere da die Angabe von hohen Fehlzeiten die stärkste Vorhersagekraft zeigte und im SDQ nicht erfragt wird, wurde eine inhaltliche Trennschärfe gewährleistet.

Vor dem Hintergrund, dass Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten angaben, im Lebensbereich Schule/Unterricht die stärkste Beeinträchtigung zu erleben, erhält die Untersuchung der schulischen Situation dieser Schülerinnen und Schüler sowie die Identifikation schulischer Merkmale, die diese Gruppe sichtbar machen, besondere Bedeutung. Schulvermeidendes Verhalten und sozialer Rückzug und soziale Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern zeigten in unserer Studie die stärkste Vorhersagekraft auf psychische Auffälligkeiten und erwiesen sich somit deutlich prädiktiver als schulische Leistungen, das Arbeitsverhalten oder aggressiv-oppositionelle Verhaltensweisen. Dieses Ergebnis mag im Hinblick auf die Symptomatik vieler psychischer Erkrankungen nicht überraschen, da sowohl Schulabsentismus als auch soziale Problematiken mit einem breiten Spektrum psychischer Erkrankungen assoziiert sind (Al-Mouhtasseb, Hebebrand & Knollmann, 2009; Egger, Costello & Angold, 2003; Lenzen et al., 2013). Im schulischen Bereich ist dieses Ergebnis dennoch beachtenswert, da der Fokus von Lehrkräften stark auf die Erfassung schulischer Leistungen und das Arbeitsverhalten von Schülerinnen und Schülern ausgerichtet ist und ihnen die Beurteilung nicht-leistungsbezogener Merkmale wie z.B. Mobbingerfahrungen häufig nur mit geringer Genauigkeit gelingt (10-2Bilz, Steger & Fischer, 2016). Wie andere Autorinnen und Autoren bereits vermuteten, könnten darüber hinaus Verhaltensweisen, die die Lehrkraft nicht direkt mit den Schwierigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler konfrontiert (wie oppositionelle Verhaltensweisen oder Schwierigkeiten im Lern-/Leistungsbereich) und den Unterricht nicht stören, von Lehrkräften als weniger gravierend eingeschätzt werden und weniger Beachtung finden (Bilz, 2014; Loades & Mastroyannopoulou, 2010). Damit Lehrkräfte zukünftig zu einer verbesserten (Früh-)Erkennung von psychischen Auffälligkeiten beitragen können, sollte die Diagnosefähigkeit von schulvermeidendem Verhalten und sozialer Problematiken in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften gefördert werden. Da häufige Fehlzeiten und insbesondere schulabsentes Verhalten ein Symptom von vermutlich bereits manifesten psychischen Auffälligkeiten darstellen können, sollten schulische Maßnahmen schon bei Anzeichen von schulvermeidendem Verhalten und geringer sozialer Integration von einzelnen Schülerinnen und Schüler ansetzen.

Unsere Ergebnisse decken sich in Teilen mit einer Studie von Ward, Sylva und Gresham (2010), in der schulische Prädiktoren in den Klassen 3 bis 5 für eine depressive Symptomatik in Klasse 6 untersucht wurden. Die Autorinnen und Autoren dieser Studie berichten, dass sich eine psychische Problematik mit hoher Genauigkeit bereits im Vorfeld über schulische Merkmale vorhersagen lässt und Lehrkräfte eine bedeutsame Rolle für die Früherkennung von psychischen Problemen ihrer Schülerinnen und Schüler einnehmen könnten. Unterschiede fanden sich jedoch teilweise im Hinblick auf die gefundenen Prädiktoren. Während schulisches Lern-/Leistungsverhalten in unserer Studie als Prädiktor für psychische Auffälligkeiten eine untergeordnete Bedeutung hatte, hatten in der Studie von Ward akademische Kompetenzen aus Sicht der Lehrkräfte in zwei von drei untersuchten Klassen eine große Vorhersagekraft für depressive Symptome zu einem späteren Zeitpunkt (Ward, Silva & Gresham, 2010). Der Befund, dass selbstberichtete Einsamkeit insbesondere im Schuljahr vor der Erfassung der depressiven Symptomatik eine starke Vorhersagekraft aufwies (Ward et al., 2010), liefert jedoch eine ähnliche Aussage wie unser Ergebnis, dass sozialer Rückzug und für Kinder bis 14 Jahre die Aussage Außenseiterin bzw. Außenseiter zu sein einen hohen prädiktiven Wert für psychische Auffälligkeiten haben. Die gefundenen Unterschiede können auf das unterschiedliche Studiendesign zurückzuführen sein. Ward et al. (2010) führten eine Längsschnittstudie mit deutlich kleinerer Stichprobe und jüngeren Schülerinnen und Schülern durch, in der ein Großteil der Daten durch Fremdurteile der Lehrkräfte erhoben wurde. Darüber hinaus lieferten die gefundenen schulischen Prädiktoren Hinweise auf eine spezifische psychische Problematik, nämlich eine depressive Symptomatik.

Methodische Überlegungen und Limitationen

Wir verwendeten in dieser Studie ein regularisiertes logistisches Regressionsmodell um einen Klassifikator zu konstruieren, der Schülerinnen und Schüler der Regelschule („R“) von denen der Klinikschule („K“) trennt. Alternativ führten wir auch eine statistische logistische Regressionsanalyse durch, die die Ergebnisse im Wesentlichen bestätigte – die hochsignifikanten Prädiktoren stimmten mit den von uns berichteten stärksten Prädiktoren gut überein. Die Tatsache, dass auch das unregularisierte Modell zu ähnlichen Schlussfolgerungen führte wie unser aus dem maschinellen Lernen motiviertes regularisiertes Modell, ist ein empirisches Ergebnis und hätte nicht vorher abgeschätzt werden können. Unser Interesse war es explizit den Fokus auf die Klassifikationsgüte und somit die Effektgröße (unter Berücksichtigung der Limitationen unseres Studiendesigns) statt auf die statistische Signifikanz zu legen (Franz & von Luxburg, 2015).

Durch die Merkmale der Stichprobenzusammensetzung und des Studiendesigns ergeben sich Limitationen der Aussagekraft der Studie. In der klinischen Stichprobe waren Mädchen überrepräsentiert. Dies ist auf den erschwerten Zugang und eine große Varianz in der Teilnahmebereitschaft zu erklären. Bei Jungen hatte eine Verschlechterung der schulischen Leistungen ein höheres Gewicht als in der Gesamtstichprobe. Da in der klinischen Stichprobe Mädchen überrepräsentiert waren, könnte dies bedeuten, dass sich in zukünftigen Studien mit einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis eine stärkere Gewichtung dieses Items zeigen würde. Obwohl bei der Auswahl der Regelschulen, die zur Rekrutierung der Vergleichsstichprobe herangezogen wurden, auf eine breite Streuung der Schularten geachtet wurde, konnte die Vergleichbarkeit der Schularten nur weitestgehend hergestellt werden. So befanden sich in der Vergleichsstichprobe keine Berufs(fach)schülerinnen und -schüler, aber mehr Schülerinnen und Schüler, die einen mittleren Bildungsabschluss anstreben. Dadurch können auch schulartspezifische Verzerrungen auf die Klassifikationsgenauigkeit der Prädiktoren nicht gänzlich ausgeschlossen werden.

Des Weiteren wurde in unserer Studie lediglich die Selbstauskunft der Schülerinnen und Schüler erhoben. Da psychische Auffälligkeiten am besten multiperspektivisch erfasst werden können und Selbst- und Fremdurteil häufig nur gering miteinander korreliert sind, wäre es wichtig zu prüfen, ob die schulischen Prädiktoren für eine psychische Auffälligkeit bei Erfassung von Fremdurteilen durch Lehrkräfte und Eltern stabil blieben. Da das Einzelitem mit der größten Vorhersagekraft „Fehlzeiten“ eine konkrete Angabe von Fehltagen erfragte, kann jedoch vermutet werden, dass die Einschätzung zwischen den Perspektiven der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern und Lehrkräfte bzgl. dieses schulischen Merkmals nicht wesentlich differiert.

Da die Studie die schulischen Merkmale der Klinikschülerinnen und -schüler retroperspektiv für die Zeit vor ihrem Klinikaufenthalt erfasst, sind Verzerrungen der Studienergebnisse durch ungenaue Erinnerungen der Klinikschülerinnen und -schüler möglich. Es kann vermutet werden, dass der Besuch einer Klinikschule zu einer Entspannung einer schulischen Problematik beiträgt. Ob dadurch Aussagen zu schulischen Schwierigkeiten vor dem Klinikaufenthalt gravierender oder verringert erinnert werden, bleibt unklar.

Relevanz der Ergebnisse

Schulvermeidendes Verhalten und soziale Schwierigkeiten können sich zwar gravierend in Erscheinungsbild und Ursache unterscheiden, doch implizieren die Studienergebnisse eine Forderung nach gezielter und frühzeitiger pädagogischer Intervention und einer erhöhten Sensibilität für die soziale Situation von Schülerinnen und Schülern. Dabei sollten auch entschuldigte Fehlzeiten berücksichtigt (Lenzen et al., 2013) und ggf. frühzeitig die Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Jugendhilfe gesucht werden. Da bisherige Studienergebnisse nahelegen, dass nicht-leistungsbezogene Merkmale von Lehrkräften nur zu einem geringen Teil wahrgenommen und häufig mit geringer Genauigkeit beurteilt werden (Bilz, 2014; 10-3Bilz et al., 2016; Cunningham & Suldo, 2014; Papandrea & Winefried, 2011), sollte in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften besonderes Augenmerk auf die Erweiterung relevanter schulischer Merkmale und die Förderung diagnostischer Kompetenzen gelegt werden.

Besondere Relevanz könnten die Studienergebnisse für die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem SDQ an Regelschulen erhalten. Sie entsprechen jenen Schülerinnen und Schülern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Risiko für eine psychische Auffälligkeit aufweisen, sich jedoch statistisch nur zu einem geringen Teil (ca. 20%) in psychologischer/psychotherapeutischer Behandlung befinden (Klasen et al., 2017). Diese Schülerinnen und Schüler werden also zu einem Großteil für Lehrkräfte nicht direkt als psychisch belastet erkennbar sein, konnten in unserer Studie anhand der schulischen Prädiktoren jedoch mehrheitlich identifiziert werden. Auf diese Weise können die Ergebnisse der vorliegenden Studie zu einer allgemeinen Sensibilisierung von Lehrkräften für psychische Auffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern beitragen und möglicherweise dazu führen, dass psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen von entsprechenden Fachleuten früher diagnostiziert und behandelt werden können. Darüber hinaus, und das erscheint für die Betroffenen gleichermaßen relevant, können sie zu einer veränderten Haltung von Lehrkräften gegenüber diesen Schülerinnen und Schülern beitragen: Erst wenn Lehrkräfte um die Möglichkeit wissen, dass schulaversivem Verhalten oder sozialer Isolation psychische Probleme zugrunde liegen könnten und darin einen schulischen Auftrag erkennen, können pädagogische Unterstützungsmöglichkeiten entsprechend der individuellen Bedarfe ausgerichtet werden.

Ausblick

In zukünftigen Studien können die gefundenen Klassifikatoren an größeren, möglichst repräsentativen Stichproben, validiert werden.

Grundsätzlich bleibt der Ursache-Wirkung-Zusammenhang von psychischen Auffälligkeiten und schulischen Merkmalen unklar. Es ist davon auszugehen, dass in vielen Fällen von einem komplexen Zusammenspiel auszugehen ist und schulische Problematiken sowohl Symptom, Bedingungsfaktor als auch Folgeerscheinung von psychischen Gesundheitsproblemen von Kindern und Jugendlichen sind. Daher sind die Studienergebnisse sowohl für die schulische Prävention von psychischen Auffälligkeiten, schulische Maßnahmen bei psychischer Belastung als auch für Konzepte der Reintegration von Schülerinnen und Schülern aus der Klinikschule heraus von Bedeutung. Im Sinne einer verbesserten Früherkennung von psychischen Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter könnten insbesondere Längsschnittstudien Aufschluss darüber geben, ob bestimmte schulische Merkmale bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt und vor dem Manifestieren einer psychischen Auffälligkeit beobachtbar sein können und sich somit als Risikofaktoren bzw. Prodromalsymptome identifizieren lassen.

Literatur

1 Dies sind ungefähre Werte, da das Alter aus Datenschutzgründen nur in 2-Jahres-Gruppen (11–12, 13–14, 15–16 und 17–18 Jahren) erfasst wurde.

2 z.B.: „Ich kann mich gut auf schulische Inhalte konzentrieren.“ (Fragebogen dieser Studie) – „Ich lasse mich leicht ablenken; es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.“ (SDQ-Selbstauskunft) oder „Ich habe Freundinnen oder Freunde in meiner Klasse.“ (Fragebogen dieser Studie) – „Ich habe einen oder mehrere gute Freunde oder Freundinnen.“ (SDQ-Selbstauskunft)

3 z.B.: „Meine schulischen Leistungen haben sich im letzten Jahr verschlechtert.“ (Fragebogen dieser Studie) oder „Wie viele Fehltage hattest du ungefähr im letzten Schuljahr?“ (Fragebogen dieser Studie)