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Published Online:https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000597

Das Jahr 2017 ist Geschichte und damit auch der 30. Jahrgang der „Pflege – Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe“. Es war ein Jubiläumsjahrgang, und aus diesem Anlass hatten die Herausgeberinnen und Herausgeber der Zeitschrift mehrere Vertreterinnen und Vertreter aus unterschiedlichen Bereichen der Pflege oder mit dem Pflegeberuf assoziierten Arbeitsfeldern eingeladen, schriftlich in Frage-Antwort-Form Stellung zum Stand und zu den künftigen Herausforderungen der Pflege und der Pflegewissenschaft im deutschsprachigen Raum zu beziehen. Als Einstieg diente eine von Silvia Käppeli und Martha Meier im Editorial der ersten Ausgabe zitierte Aussage von Virginia Henderson zu den Möglichkeiten des grenzenlosen Einflusses der Pflege auf die Gesundheitspflege. Das Herausgebergremium versprach sich von den Antworten der Expertinnen und Experten Hinweise auf zentrale Entwicklungslinien rund um den Pflegeberuf und seine wissenschaftlichen Grundlagen, aber auch darauf, inwiefern eine deutschsprachige pflegewissenschaftliche Zeitschrift wie die Pflege hierbei weiterhin ihre Berechtigung und Bedeutung hat.

Insgesamt konnten 17 Expertinnen und Experten aus den Bereichen Praxis, Management, Forschung und Bildung der Pflege sowie aus der Berufs- und Gesundheitspolitik und angrenzenden Bereichen für dieses Anliegen gewonnen werden, gleichmäßig verteilt über verschiedene Tätigkeitsfelder und die drei Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz. Unter dem Titel „30 Jahre Pflege – ein Blick in die Zukunft“ wurden die Beiträge in den Ausgaben 02 bis 05 / 2017 publiziert. Ausgabe für Ausgabe entfalteten sie ein breites Panorama an Perspektiven auf die berufliche Pflege und die Pflegewissenschaft im deutschsprachigen Raum, in der Rück- wie in der Vorausschau. Bei aller Diversität lassen sich einige zentrale Themen erkennen, die hier kurz zusammengefasst und reflektiert werden sollen.

Meilenstein hochschulische Erstausbildung

Als ein dominierendes Thema in den Positionen der befragten Expertinnen und Experten erwies sich die zunehmende Akademisierung des Pflegeberufs in den drei Ländern. Insbesondere die Etablierung hochschulischer Ausbildungswege in der Pflege wurde bei der Frage nach positiven Entwicklungen und Erreichtem oft an erster Stelle genannt. Ungeachtet aktueller Unterschiede in den normativen Rahmenbedingungen – von der generellen Verlagerung der Pflegeausbildung in den Tertiärbereich in Österreich über teils bereits längere Traditionen tertiärer Ausbildungswege in der Schweiz bis hin zum fortbestehenden Modellcharakter bis 2020 in Deutschland – wird der inzwischen in allen drei Ländern mögliche akademische Zugangsweg zum Pflegeberuf übereinstimmend als ein Meilenstein für die weitere Professionalisierung gesehen.

Die Erwartungen an die Effekte der Akademisierung der Primärausbildung sind beträchtlich und reichen von der Gewährleistung der Patientensicherheit bis hin zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs und, damit verbunden, zur Sicherstellung eines ausreichenden Berufsnachwuchses unter den Bedingungen des demografischen Wandels. Durchgehend wird die hochschulische Primärausbildung als Grundvoraussetzung für den Erwerb der für eine evidenzbasierte Praxis erforderlichen Kompetenzen in der Aneignung, kritischen Reflexion und Implementierung wissenschaftlicher Erkenntnisse gesehen. Zudem sollen Pflegepersonen mit der Anhebung des Bildungsniveaus zu gleichberechtigten Partnerinnen und Partnern in einer interprofessionellen Zusammenarbeit auf Augenhöhe werden. Mehr oder weniger explizit wird darüber hinaus erwartet, dass akademisch ausgebildete Pflegende Führungsrollen in der fachwissenschaftlichen Weiterentwicklung der Pflegepraxis übernehmen und in der Lage sind, die Positionen und den gesellschaftlichen Wert des Pflegeberufs nach innen wie nach außen offensiv und gut begründet zu vertreten.

Vorerst, und dies wurde von den Expertinnen und Experten auch anerkannt, sind diese Erwartungen aber weitestgehend noch zu beweisende Hypothesen. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung der hochschulischen Ausbildung wurde daher neben einer Harmonisierung der Studienangebote vor allem eine systematische Evaluation der Qualität der Studienprogramme sowie der Auswirkungen neu entstehender Kompetenzniveaus und -profile gefordert. An offenen Fragen mangelt es nicht. So wurde wiederholt die Notwendigkeit des frühzeitigen interprofessionellen Lernens betont, jedoch nicht näher ausgeführt, wie dies gelingen kann, wenn die hochschulische Ausbildung bevorzugt an Fachhochschulen fern von Universitäten mit medizinischen Fakultäten erfolgt. Kaum reflektiert wurden auch die Unterschiede zwischen den Ländern: künftig Vollakademisierung auf der Pflegefachkraftebene in Österreich versus verschiedene Zugangswege zum Beruf in der Schweiz und in Deutschland. Wie viele akademisch ausgebildete Pflegefachkräfte werden benötigt? Hundert Prozent oder zwanzig Prozent, wie vom Wissenschaftsrat in Deutschland empfohlen (Wissenschaftsrat, 2012)? Und welcher Strategien bedarf es tatsächlich, um künftig genügend junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern und in diesem zu halten? Ohne dass diese Fragen von uns an die Expertinnen und Experten gestellt worden waren, wurde aus den vorliegenden Antworten deutlich, dass diese Themen weitestgehend noch eine „terra incognita“ sind.

Hochschulische Ausbildung darf kein Selbstzweck sein

Wenngleich der hochschulischen Erstausbildung durchgehend ein hoher Stellenwert auf dem Weg der Selbstermächtigung des Pflegeberufs eingeräumt wurde, ging aus den Interviews auch hervor, dass dieser Meilenstein kein Selbstzweck sein darf, sondern Startpunkt und Motor weiterer Entwicklungen sein muss. Gerade diesbezüglich kamen beitragsübergreifend jedoch einige Leerstellen zur Sprache, sowohl die Praxis als auch die Wissenschaft der Pflege betreffend. Für die Praxis wurde insbesondere ein hoher Bedarf an Entwicklung, Implementierung und Evaluation innovativer, multiprofessioneller Versorgungsmodelle konstatiert. Diese sollten, so die Befragten, Antworten auf sich ändernde Versorgungsbedürfnisse und -bedarfe geben sowie die Rollen von Pflegefachpersonen unterschiedlichen Qualifikationsniveaus definieren und die berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit neu gestalten. Dies auch, um die Attraktivität des Berufes zu erhöhen und damit dem Fachkräftemangel begegnen zu können.

Für das Pflegemanagement und die Pflegewissenschaft wurde zudem auf die Notwendigkeit hingewiesen, noch mehr als bisher akademische Weiterbildungs- und Laufbahnmodelle zu etablieren, die Perspektiven nach einem Bachelorabschluss bieten, sei es in Richtung des Modells „Advanced Nursing Practice“ oder in Richtung pflege- und versorgungswissenschaftlicher Master- und Promotionsprogramme. Dies sei geboten, um mit rasanten Entwicklungen in der Gesundheitsversorgung – als Stichwörter seien „personalisierte Medizin“, „personenzentrierte Versorgung“ oder „IT 4.0“ genannt – nicht nur Schritt zu halten, sondern diese auch mitzubestimmen sowie pflegerische Aufgabenfelder in der Primärversorgung, in der Angehörigenarbeit und in der Beratung weiterzuentwickeln. Erforderlich hierfür seien sowohl die forschungsbasierte Generierung und Überprüfung von Wissen als auch Kompetenzen und Strategien für eine effektive Implementierung dieses Wissens in zunehmend komplexen, sich diversifizierenden Versorgungskontexten. Bedarf wurde darüber hinaus für mehr und stärker empirisch unterfütterte Master-Studienangebote für die Qualifizierung von Lehrenden in der pflegerischen Aus- und Weiterbildung signalisiert, um die Qualität der Lehre sicherzustellen und einem drohenden Mangel an Lehrenden zuvorzukommen.

Obwohl unter den befragten Expertinnen und Experten große Übereinstimmung hinsichtlich der Zukunftsaufgaben von Pflegepraxis-, -management, -bildung und -wissenschaft bestand, blieb relativ unbestimmt, wie diese Anforderungen umgesetzt werden können. So ergibt sich beispielsweise die auch pflegewissenschaftlich zu beantwortende Frage, wie bezahlbare, für professionell Pflegende wie Pflegebedürftige gleichermaßen attraktive Pflegearrangements gestaltet sein sollten, um die Versorgung bei langzeitigem Unterstützungsbedarf zu decken. Ebenso noch zu klären ist, inwieweit die Diversifizierung pflegerischer Kompetenzniveaus und Aufgabenfelder tatsächlich ein probates Mittel ist, um dem Fachkräftemangel und damit der „nurse migration“ zulasten von Drittländern entgegenzuwirken, oder dies eher unnötig die Komplexität von Versorgungsprozessen und -strukturen erhöht und die pflegeberufliche Identität aushöhlt.

In einem Punkt zeigten sich die Expertinnen und Experten jedoch einig: Sollen die beschriebenen Ziele erreicht werden, müssen Vertreterinnen und Vertreter des Pflegeberufs mehr als bisher Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse nehmen, auf der Organisationsebene in den Einrichtungen ebenso wie auf der Systemebene in der Gesundheitspolitik. Sich mit Gesundheitspolitik auseinanderzusetzen, Debatten zu initiieren oder sich in diese einzubringen, bestehende Entscheidungsspielräume auszuschöpfen oder sich neue zu erarbeiten – auch dies gehöre zur gesellschaftlichen Verantwortung des Pflegeberufes. Bezogen auf das zu kommentierende Eingangszitat von Virginia Henderson wurde unisono konstatiert, dass der Pflegeberuf noch lange nicht seine Einflussmöglichkeiten ausgeschöpft habe und beruflich Pflegende gefordert seien, stärker selbst Verantwortung für die Entwicklung des eigenen Berufs zu nehmen. Als Instrumente hierfür wurden beispielsweise Fachgesellschaften oder Pflegekammern genannt.

Zeit für eine neue Forschungsagenda?

Auch im Hinblick auf die Pflegeforschung stimmten die Positionen der Expertinnen und Experten weitestgehend überein. Aktuelle Debatten reflektierend, etwa zum künftigen „skill“- und „grade“-Mix in der Pflege, zu künftigen Verantwortungs- und Aufgabenbereichen der Pflege in der Gesundheitsversorgung, zur Rolle moderner Technologien für die Pflege oder zu den sich ändernden Informations- und Selbstbestimmungsbedürfnissen pflegebedürftiger Menschen, äusserten die Befragten einen großen Bedarf an theoretisch und empirisch fundiertem Wissen. Essenziell sind aus ihrer Sicht eine hohe Praxisrelevanz und eine gute Beweiskraft der Forschungsergebnisse sowie eine vermehrte Evaluation ökonomischer Implikationen pflegerischer Versorgungsprozesse und -strukturen.

Gerade Letzteres wurde als wichtig hervorgehoben, um den Nutzen und den gesellschaftlichen Wert einer hochqualifizierten Pflege kraftvoller als bisher in Diskurse und Entscheidungsprozesse auf Organisations- oder Systemebene einbringen zu können. Damit einhergehend fanden sich auch Plädoyers für eine stärkere Öffnung für Fragestellungen auf der Organisations- oder Systemebene über einzelne Patientengruppen hinaus, um prinzipielle Determinanten, Mechanismen und Effekte pflegerischen Entscheidens und Handelns besser verstehen und schließlich beeinflussen zu können. Angeregt wurde hierbei auch, stärker als bisher auf Theorien und Modellen anderer Wissenschaften zurückzugreifen, wie zum Beispiel der Psychologie, Soziologie oder Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Neben diesen eher „anwendungsorientierten“ Anforderungen fanden sich aber auch Stimmen, die sich für eine vermehrte Forschung über unmittelbare Verwertungsinteressen hinaus aussprachen, im Sinne einer vermehrten disziplineigenen Theoriebildung und einer Überwindung gegebenenfalls bestehender Praxisschranken.

Insgesamt zeichnen diese Rückmeldungen einen breiten Aufgabenkatalog für die Pflegeforschung im deutschsprachigen Raum in den nächsten zehn Jahren und demonstrieren die Berechtigung und den potenziellen Wert von Pflegeforschung für die Versorgungsqualität und die Gesellschaft, aber auch für den Pflegeberuf selbst. Diese Pflegeforschung benötigt Ressourcen, personelle wie finanzielle, die über eine öffentlich finanzierte Akademisierung der Primärausbildung hinausgehen. Obwohl in Deutschland und der Schweiz in den letzten zehn Jahren bereits nationale Agenden für die Pflegeforschung erarbeitet und konsentiert wurden (Behrens et al., 2008), deuten die Stellungnahmen der Expertinnen und Experten an, dass sich inzwischen ergänzende zentrale Forschungsfragen ergeben oder etablierte Schwerpunkte neu akzentuiert haben. Eine systematische, kritische Evaluation bestehender Agenden, wie sie derzeit für die Swiss Research Agenda for Nursing (SRAN) erfolgt (Schweizer Verein für Pflegewissenschaft, 2017), und eine rationale, deliberative Priorisierung künftiger Anforderungen an die Gegenstände und Methoden der Pflegeforschung und deren strukturelle wie finanzielle Ausstattung scheinen demnach dringend geboten. Hierbei gilt es alle für die interne und externe Validität und effektive Umsetzung der Forderungen erforderlichen Perspektiven einzubinden, darunter auch die der Adressaten der Pflege und der Förderungsforderungen (European Commission, 2017).

Und die Pflege …?

So wenig es an Aufgaben für die Pflegeforschung mangelt, so wenig wurde von den Befragten grundsätzlich die Relevanz und die Berechtigung deutschsprachiger pflegewissenschaftlicher Publikationsorgane infrage gestellt. Zwar wurde einschränkend anerkannt, dass für deutschsprachige Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler Publikationen in Zeitschriften wie der Pflege die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen in international ausgerichteten, englischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften nicht ersetzen werden können, dennoch wurde von den Expertinnen und Experten genügend Gegenstand und Spielraum für eigene deutschsprachige Publikationsorgane gesehen. Speziell für die Pflege kristallisierten sich hierbei zwei zentrale Rollen heraus: zum einen die der „Mittlerin“ zwischen Pflegewissenschaft und Rezipienten aus der Pflegepraxis, zum anderen als Ort der pflegewissenschaftlichen Analyse, Reflexion und Diskussion von Themen und Fragen, die in gewisser Weise an die Kultur, Sprache und Versorgungssysteme im deutschsprachigen Raum gebunden sind.

Diese Aufgaben decken sich mit dem Verständnis der Herausgeberinnen und Herausgeber und geben Rückenwind für die nächste Dekade. Sie zeigen auch, dass die in der jüngeren Vergangenheit vorgenommenen editorischen Anpassungen, wie die weitere Profilierung der Rubrik „Aus der Praxis – für die Praxis“ oder die dezidierte Öffnung für englischsprachige Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum, den Interessen potenzieller Nutzerinnen und Nutzer oder auch Autorinnen und Autoren entsprechen. Die Verbreitung, Diskussion und Aufnahme pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse in den drei Ländern und anderen deutschsprachigen Regionen zu unterstützen, bleibt somit auch weiterhin das oberste Ziel der Pflege.

Die Rückmeldungen der Expertinnen und Experten ebenso wie die sich daraus ergebenen offenen Fragen werden hierbei inhaltliche Orientierung geben. An dieser Stelle sei daher allen beteiligten Expertinnen und Experten nochmals ausdrücklich für die Zeit und Überlegungen gedankt, die sie in die Beantwortung der Interviewfragen investiert haben. Gemeinsam, aber doch unabhängig voneinander und aus jeweils eigener Perspektive haben sie eine Hauptaufgabe übergreifend für die Praxis, die Wissenschaft, die Bildung und die Politik rund um den Pflegeberuf skizziert: faktenbasiert noch deutlicher als bisher die Stimme der Pflege erheben und sich einzumischen. Dazu wollen und werden die Herausgeberinnen und Herausgeber der Pflege maßgeblich beitragen.

Prof. Dr. Katrin Balzer, Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege, Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Universität zu Lübeck, [email protected]

Literatur

Prof. Dr. Katrin Balzer, Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege, Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Universität zu Lübeck, E-Mail