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Open AccessOriginalarbeit

Behindertenspezifische Herausforderungen bei der pflegerischen Versorgung von contergangeschädigten Menschen – eine Bedarfsanalyse

Published Online:https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000670

Abstract

Zusammenfassung.Hintergrund: Zwischen 1957 und 1962 wurden in Deutschland ca. 5000 sogenannte Contergan-Kinder geboren, deren Mütter während der Schwangerschaft das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan genommen hatten. Fragestellung: Das Ziel der Studie war es, die pflegerische Versorgung, ungedeckte Bedarfe und finanzielle Eigenleistungen vor dem Hintergrund der Conterganschädigung mit ihren spezifischen Ausprägungen bei einzelnen Betroffenen sowie eventuelle zukünftige Herausforderungen zu erheben. Methoden: Es wurde eine Befragung mittels Fragebogen zu der pflegerischen Versorgung, den Bedürfnissen und vorliegenden Pflegestufen durchgeführt. Außerdem gab es eine orthopädische und psychische Untersuchung der Betroffenen hinsichtlich ihrer körperlichen Behinderungen und Beeinträchtigungen sowie psychischer Störungen. Ergebnisse: Die Contergangeschädigten teilen sich bezüglich ihrer pflegerischen Bedürfnisse in zwei Gruppen: Personen mit und ohne Beeinträchtigungen der Extremitäten. Das Vorhandensein des pflegerischen Bedarfes und die dafür aufgewendeten privaten Mittel verlaufen entlang dieser Grenze. Viele der Betroffenen werden nur von ihrem sozialen Umfeld pflegerisch betreut, was eine eigene Problematik darstellt, da das Umfeld der Betroffenen mitaltert und sie teilweise sogar noch von ihren Eltern versorgt werden. Schlussfolgerungen: Die Prävalenz für die Pflege bei Contergangeschädigten ist höher als in der deutschen Allgemeinbevölkerung derselben Altersgruppe, professionelle Pflegedienstleister sind unterrepräsentiert. Diese sollten häufiger in Anspruch genommen werden und dem spezifischen Bedarf der Betroffenen gerecht werden.

Upcoming challenges in providing care for thalidomide impaired individuals

Abstract.Background: Between 1957 and 1962 an approximate 5000 children were born in Germany with severe birth defects as their mothers took the substance Thalidomide during pregnancy as a sedative and effective relief from morning sickness. Objective: The aim of this study was to describe the care and assistance needed by the individuals impaired by Thalidomide and indicate upcoming challenges. A further aim was to determine the association between the impairment type and the care needed. Methods: Cross sectional study, 202 individuals impaired by Thalidomide were examined by two orthopedists as well as surveyed via questionnaire. They were also evaluated mentally by either a psychiatrist or psychotherapist. The need for care was determined by the acquired legal status for long-term care. Results: The sample divides roughly into two groups: the ones with impairments in their extremities and those who are not affected in their extremities. Many of the ones affected in their extremities are already dependent on assistance and need to be nursed. Those who are depending on assistance and care are mostly informally cared for. Conclusions: The prevalence for long-term care is already higher than in the age-adjusted general population in Germany, while formal care is underutilized. Therefore a challenge will be to make a shift from informal care to professional care providers as the informally caring (sometimes actually the parents of the impaired) are aging along with the ones they care for.

Was ist zu dieser Thematik schon bekannt?

Contergangeschädigte haben eine erhöhte Pflegebedürftigkeit.

Was ist neu?

Es gibt eine erstmalige Zusammenführung von ärztlich ermittelten somatischen und psychischen Diagnosen und Befragungen mit pflegerischem Bedarf.

Welche Konsequenzen haben die Ergebnisse für die Pflegepraxis?

Es muss eine Anpassung der Pflege an die Bedürfnisse erfolgen und der Anteil professioneller Dienstleister steigen. Diese müssen wissen, wie sie mit den spezifischen Bedürfnissen der Betroffenen umzugehen haben.

Die Einnahme von Medikamenten mit dem Wirkstoff Thalidomid im ersten Trimenon der Schwangerschaft kann zu schweren Fehlbildungen der noch ungeborenen Kinder führen. In Unkenntnis dieser Kontraindikation wurde in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts auch Schwangeren das thalidomidhaltige Schlafmittel Contergan verschrieben, da es als „für sensible Personengruppen unschädlich“ beworben wurde (Lenz, 1988; Vargesson, 2013).

In der Folge wurden zwischen 1957 und 1962 in Deutschland ca. 5000 Kinder mit teilweise gravierenden Behinderungen geboren, die während ihres ganzen Lebens auf pflegerische und medizinische Unterstützung angewiesen sind. Heute leben noch etwa 2400 Contergangeschädigte in Deutschland (zum Stichtag 27.04.2016 lebten davon 804 in Nordrhein-Westfalen), die zum jetzigen Zeitpunkt zwischen 57 und 61 Jahren alt sind. Diese Personen sind auf vielfältige Unterstützungsleistungen und Pflege in ihrem persönlichen Umfeld angewiesen (Ghassemi Jahani, Danielson, Karlsson & Danielsson, 2014; Kruse et al., 2013; Nippert, Edler & Schmidt-Herterich, 2002; Stephens & Brynner, 2001).

In dem vorliegenden Artikel werden der Einfluss der Conterganschädigung auf die Pflegebedürftigkeit der Betroffenen sowie ein daraus resultierender Handlungsbedarf dargestellt und diskutiert. Es soll auf die besonderen Bedürfnisse der Contergangeschädigten eingegangen werden, da sich die Altersstruktur der Betroffenen von denen anderer Pflegebedürftiger unterscheidet. Weiterhin leiden die Contergangeschädigten unter teilweise sehr spezifischen Beeinträchtigungen (z.B. Amelien und / oder Dysmelien), die andere Anforderungen an die erbrachten Pflege- und Unterstützungsleistungen stellen als es bei Pflegebedürftigen ohne Conterganschädigung der Fall ist.

Die einbezogenen Ergebnisse stammen aus einer Studie, die im Rahmen eines Gutachtenauftrages des Landeszentrums Gesundheit Nordrhein-Westfalen zwischen 2011 und 2013 durchgeführt wurde, die durch tiefergehende Analysen des erhobenen Datenmaterials erweitert wurden (Peters et al., 2015).

Fragestellung

Welche ungedeckten Bedarfe liegen bezüglich der Pflege bei den Contergangeschädigten vor, welche Einflussfaktoren begünstigen eine Pflegebedürftigkeit und wie wirken sich die speziellen Schädigungsmuster der Betroffenen auf ihre Bedarfe aus?

In der Diskussion wird zusätzlich auf Unterschiede zur Allgemeinbevölkerung eingegangen.

Methoden

Design

Die hier vorliegende Erhebung ist eine Querschnittsstudie.

Einschlusskriterien und Rekrutierung

Teilnehmen konnten alle durch die Conterganstiftung für behinderte Menschen anerkannten Contergangeschädigten, die zum Zeitpunkt der Studie in Nordrhein-Westfalen gelebt haben oder dort geboren wurden. Angedachtes Studiendesign war eine Vollerhebung, allerdings war dieses nicht durchführbar, da vollständige Adressdaten nicht verfügbar gemacht wurden. Die Rekrutierung erfolgte weitestgehend durch den Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e.V., der alle seine Mitglieder schriftlich über die Studie informierte und zwei Erinnerungsschreiben schickte. Weitere Maßnahmen, um eine potentielle Verzerrung der Stichprobe zu minimieren, wurden durchgeführt: So wurden alle Contergangeschädigten, die nicht organisiert waren, aber in der Dr. Becker Rhein-Sieg- Klinik behandelt wurden, gefragt, ob sie Interesse an einer Studienteilnahme hätten. Weiterhin wurde die Studie in Internetforen und auf Gesundheitsmessen vorgestellt. Der Rekrutierungszeitraum lag zwischen September 2011 und Februar 2013. Als Anreiz für die Studienteilnahme erhielten die Teilnehmenden sowohl den Arztbrief, in dem die Untersuchungsergebnisse zusammengefasst waren als auch auf ihre persönlichen Bedarfe zugeschnittene Behandlungsempfehlungen.

Untersuchungen und eingesetzte Instrumente

Es wurden systematisch die körperlichen Ursprungsschäden und die daraus resultierenden Folgeschäden der Betroffenen erhoben. Dabei wurden die Betroffenen von zwei orthopädischen Fachärzten mit umfangreicher klinischer Expertise zu Conterganschäden untersucht und in Schädigungsgruppen eingeteilt. Es wurde zwischen Betroffenen mit Schädigungen der oberen Extremitäten („zweifach geschädigt“), sowohl den oberen als auch den unteren Extremitäten („vierfach geschädigt“) und Personen ohne Schädigungen der Extremitäten unterschieden („Schädigungsmuster ohne Dysmelien“). Weiterhin wurde festgestellt, ob bei den Betroffenen eine starke Hörschädigung oder Gehörlosigkeit vorlag („Gehörlosigkeit“). Bei Bedarf wurden alle Gespräche mit Gebärdendolmetscherinnen und -dolmetschern geführt.

Für die Untersuchung zu den psychischen Störungen wurde das strukturierte klinische Interview für DSM-IV Diagnosen herangezogen (SKID-I &SKID-II), (Wittchen, Zaudig & Fydrich, 1997). Die Interviews wurden von zwei speziell trainierten Personen durchgeführt (Niecke et al., 2017).

Alle Untersuchungen wurden in der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht durchgeführt.

Die Pflegesituation und zusätzliche ungedeckte Bedarfe, demographische Angaben sowie die pflegerische Versorgung und zusätzliche Kosten für die Pflege wurden per Fragebogen erhoben. Pflegebedürftigkeit wurde im Sinne der Pflegeversicherung definiert, das heißt inwiefern die Betroffenen Leistungen aus der Pflegeversicherung in Anspruch genommen haben und somit eine Pflegestufe vorliegt (siehe ESM1).

Auswertung

Die Daten wurden mittels IBM SPSS Version 23 und R Version 3.1.0 ausgewertet. Um die Stichprobe zu beschreiben, wurden sowohl relative als auch absolute Häufigkeiten angegeben. Bei 2 × 2-Kontingenztafeln wurden aufgrund der geringen Fallzahlen exakte Fisher-Tests durchgeführt, bei 3 × 2-Tafeln wurde die Freeman-Halton-Erweiterung eingesetzt (Freeman & Halton, 1951). Für den Vergleich von Anteilen wurden zweiseitige Zweistichproben-Binomialtests verwendet. Alle durchgeführten Testroutinen und Konfidenzintervalle sind explorativer Natur, das Signifikanzniveau betrug für alle durchgeführten Prozeduren 0,05.

Ergebnisse

Es wurden insgesamt 453 Personen vom Interessenverband Contergangeschädigter NRW e.V. angeschrieben, wovon 67 Briefe nicht zugestellt werden konnten. Weiterhin wurden acht Personen direkt in der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik angesprochen, ob Interesse an einer Studienteilnahme besteht. Auf die Inserate in Betroffenenforen meldeten sich fünf potentielle Teilnehmende. Somit konnten 205 potentielle Studienteilnehmende gewonnen werden, von denen drei aufgrund fehlender Einschlusskriterien nicht in die Studie aufgenommen werden konnten. Entsprechend konnten 202 Personen für die Studie rekrutiert werden, dieses entspricht etwa einem Viertel der Gesamtpopulation der Contergangeschädigten in Nordrhein-Westfalen. An der psychodiagnostischen Untersuchung nahmen 193 Studienteilnehmende teil.

In Tabelle 1 werden die grundlegenden Eigenschaften der vorliegenden Stichprobe beschrieben. Das durchschnittliche Alter der Teilnehmenden betrug etwas über 50 Jahre (Standardabweichung [SD]: 1,01). Es nahmen mehr Frauen als Männer an der Studie teil. Die Schädigungsmuster sind in beiden Geschlechtern relativ gleich verteilt (p = 1,000), ebenso ließ sich kein Unterschied zwischen den Anteilen der Gehörlosen in den Geschlechtern nachweisen (p = 0,490). Sowohl bei den Bildungsabschlüssen (p = 0,346) als auch bei den nach den Kriterien der International Labour Organization (Greenwood, 1999; The Thirteenth International Conference of Labour Statisticians, 1982) definierten Erwerbstatus (p = 0,081) und Wohnsituation „alleinlebend“ vs. „nicht alleinlebend“ (p = 0,202) ließen sich keine Verteilungsunterschiede nachweisen.

Tabelle 1 Merkmale der untersuchten Stichprobe, die Werte sind absolute Zahlen (Prozent), wenn nicht anders benannt

Tabelle 2 beschreibt den Zusammenhang zwischen Schädigungsmuster und Gehörlosigkeit. Es leiden 33 (16,3 %) Studienteilnehmende unter Gehörlosigkeit. Hier ist auffällig, dass der Anteil der gehörlosen Betroffenen im Zusammenhang mit dem gefundenen somatischen Schädigungsmuster steht (p < 0,001): von den Gehörlosen sind 18 (54,4 %) zweifachgeschädigt, zwei vierfach geschädigt (6,1 %) und 13 (39,4 %) haben keine Dysmelien. Betrachtet man allerdings den Anteil der Gehörlosen in ihrer jeweiligen Schädigungsgruppe, ist der Anteil der Gehörlosen mit der Anzahl der geschädigten Extremitäten negativ assoziiert: so sind von den 20 vierfach Geschädigten nur zwei (10 %) gehörlos und von den 161 zweifach Geschädigten 18 (11,2 %) Betroffene gehörlos. Bei den Contergangeschädigten ohne Dysmelien sind allerdings 13 (61,9 %) Teilnehmende von Gehörlosigkeit betroffen. Der Zusammenhang zwischen Gehörlosigkeit und den Schädigungen ohne Dysmelien leitet sich aus der Entwicklung des Embryos und dem Zeitpunkt der Einnahme von Thalidomid während der Schwangerschaft ab (Conterganstiftung, 2014). Dieser Zusammenhang schlägt sich auf die Pflegebedürftigkeit nieder (siehe Tab. 3).

Tabelle 2 Zusammenhang von Schädigungsmuster und Gehörlosigkeit
Tabelle 3 Merkmale der Stichprobe im Zusammenhang mit Pflegebedürftigkeit, die Werte sind absolute Zahlen (Prozent), wenn nicht anders benannt

Die Schädigungsmuster haben einen Einfluss auf das Vorhandensein von Pflegebedürftigkeit (p < 0,001), wobei kein Studienteilnehmender mit dem Schädigungsmuster ohne Dysmelien angegeben hat, Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beziehen. Die Verteilung bei den zweifach und vierfach Geschädigten ist jeweils ungefähr gleich auf beide Gruppen verteilt. Von den Betroffenen, die keine Gehörlosigkeit vorliegen haben, beziehen 49,1 % der Personen Leistungen aus der Pflegeversicherung, wohingegen dieser Anteil bei den gehörlosen Teilnehmenden bei nur 27,3 % liegt (p = 0,023) und diese alle entweder in die Gruppe der zweifach oder vierfach Geschädigten fallen. Dementsprechend stellt sich der maßgebliche Faktor, der zum Vorliegen des Pflegebedarfes führt, als die Schädigung der Extremitäten dar.

Es lassen sich lediglich beim Wohnstatus (alleinlebend, nicht alleinlebend) keine Verteilungsunterschiede in der Pflegebedürftigkeit nachweisen (p = 0,753), sowohl bei der Angewiesenheit auf einen Rollstuhl (p = 0,030) als auch beim Erwerbstätigkeitsstatus (p = 0,036) sind Unterschiede nachweisbar. Weiterhin wurde gefragt, wer an der Pflege beteiligt ist, wobei generell auffiel, dass bei einem Großteil der Betroffenen primär das soziale Umfeld eingebunden und der Gebrauch von professionellen Dienstleistern unterrepräsentiert ist. Lediglich 12 % der Contergangeschädigten, bei denen eine Pflegestufe vorliegt, nehmen irgendeine Art von ambulanten Diensten in Anspruch.

Obwohl die Prävalenzen der psychischen Störungen teilweise bezeichnend oberhalb derer von gleichaltrigen Personen in der Allgemeinbevölkerung liegen (Niecke et al., 2017), ließ sich kein Zusammenhang zwischen Pflegebedürftigkeit und akuten psychischen Störungen nachweisen (Tab. 4, p = 0,698 für unipolare Depression, p = 0,796 für substanzbezogene Störungen und p = 0,196 für Schmerzstörungen). Weiterhin ließ sich kein Zusammenhang zwischen dem Vorliegen einer psychischen Störung und dem Vorliegen von Pflegebedürftigkeit im Sinne der Pflegeversicherung nachweisen (p = 0,474).

Tabelle 4 Psychische Störungsmuster der Stichprobe im Zusammenhang mit Pflegebedürftigkeit, die Werte sind absolute Zahlen (Prozent), wenn nicht anders benannt

Auffällig ist allerdings, dass von den 18 Personen, die angaben, einen Pflegebedarf in Sinne der Pflegeversicherung bei sich gegeben zu sehen, jedoch keine Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten, sieben (38,9 %) mit einer akuten unipolaren Depression diagnostiziert wurden.

Die Frage, ob zusätzliche Pflegebedarfe bestehen, die nicht von der Pflegeversicherung abgedeckt werden (unabhängig davon, ob sie Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommen), bejahten 38 %, wohingegen 62 % der Betroffenen einen solchen zusätzlichen Pflegebedarf nicht sahen. Weiterhin wurde nach den privaten Zuzahlungen etwa für die Leistungen ambulanter Pflegedienste oder anderer Versorgungsangebote gefragt. Hierbei gaben 80 Contergangeschädigte (39,6 %) an, dass sie zusätzliche finanzielle Belastungen aufgrund ihrer Pflegesituation haben: elf Personen (5,4 % der Gesamtstichprobe) schätzten Zusatzkosten von bis zu 1500 € jährlich, 21 Personen (10,4 %) gaben Zusatzkosten von 1000 bis unter 2500 € an, bei 20 Teilnehmenden (9,9 %) lagen die jährlichen Zusatzkosten zwischen 2500 und unter 5000 €. Zwischen 5000 und 10000 € mussten 17 Contergangeschädigte (8,4 %) aufwenden, über 10000 € wandten elf Betroffene (5,4 %) auf. Die Personen, die angaben, dass sie zusätzliche finanzielle Belastungen hatten, waren alle mindestens zweifach geschädigt. Von den zweifach Geschädigten gaben 66 (41,0 %) Personen an, dass ihnen solche Kosten entstanden seien, von den vierfach Geschädigten sogar 14 (70,0 %) Personen, p < 0,001.

Viele Folgeschäden manifestierten sich in der Angabe von Schmerzen (siehe Tab. 5). Da fast alle Betroffenen in der Untersuchung angaben, unter Schmerzen zu leiden, lassen sich Zusammenhänge mit der Pflegebedürftigkeit nicht zeigen (p = 1,000). Allerdings lässt sich ein Zusammenhang zwischen Pflegebedürftigkeit und Zahnverschleiß nachweisen (p < 0,001). Der Zahnverschleiß entsteht dadurch, dass Extremitätengeschädigte statt ihrer Arme und Hände zum Verrichten von Tätigkeiten auf den Mund zurückgreifen müssen: so wird z. B. ein Eimer Wasser mit den Zähnen gegriffen und angehoben. Entsprechend ist die Analogie zum Zusammenhang zwischen Pflegebedürftigkeit und Schädigungsmuster gegeben, da das eine das andere bedingt.

Tabelle 5 Angabe von Zahnverschleiß, Schmerzen und Komorbiditäten nach ICD-10 klassifiziert im Zusammenhang mit Pflegebedürftigkeit, die Werte sind absolute Zahlen (Prozent), wenn nicht anders benannt

Weiterhin wurden die Betroffenen nach ihren Begleitkrankheiten gefragt (siehe Tab. 5), wobei diese Angaben auf Selbstauskünften beruhen. Auch hier ließen sich keine Verteilungsungleichheiten in Bezug auf die Pflegebedürftigkeit nachweisen (p ε [0,207; 1,000]) außer im Falle von Krankheiten des Verdauungssystems (p = 0,046).

Diskussion

In der hier vorliegenden Erhebung wurden Contergangeschädigte systematisch körperlich hinsichtlich ihrer Schädigungen untersucht und diese Daten mit den Angaben zur Pflegebedürftigkeit und soziodemographischen Daten in Zusammenhang gesetzt.

Eine Stärke der Studie ist, dass zum ersten Mal in einer großen Stichprobe eine systematische körperliche Untersuchung mit den geäußerten gedeckten und ungedeckten Bedarfen verknüpft werden konnte. Bisherige Studien beruhen entweder auf sehr kleinen Stichproben oder auf selbstberichteten Gesundheitsdaten. Da es bei selbstberichteten Gesundheitsdaten zu Ungenauigkeiten kommen kann (Zajacova & Dowd, 2011), erscheint der in dieser Studie gewählte Ansatz wesentlich robuster. Die extreme Diskrepanz zwischen der Selbstauskunft bezüglich psychischer Störungen (Tab. 5, Psychische und Verhaltensstörungen) und den tatsächlich gefundenen Störungen (Tab. 4) vermittelt – auch wenn man von Nichtangaben aufgrund der Angst vor Stigmatisierung ausgeht – einen Eindruck. Zusätzlich wurden alle Betroffenen von denselben beiden mit Conterganschädigungen erfahrenen Orthopäden und denselben beiden Psychologen / Psychiatern untersucht, somit kann darüber hinaus von einer Minimierung der Interobserver-Variabilität ausgegangen werden.

Eine Limitation dieser Studie ist, dass nicht quantifiziert werden kann, wie repräsentativ die Stichprobe ist, da der Großteil der Rekrutierung über die Selbsthilfegruppe Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e.V. erfolgte und somit mit einer Verzerrung der Stichprobe zur Grundgesamtheit gerechnet werden muss. Aufgrund weiterer verschiedener sowohl ineinandergreifender als auch gegenläufiger Faktoren ist es nicht möglich, eine Richtung der potentiellen Verzerrung anzugeben. Die in dieser Studie gefundenen Ergebnisse weisen allerdings auf dieselben grundlegenden Problematiken hin, die schon in früheren Befragungsstudien gefunden wurden (Kruse et al., 2013; Nippert, Edler & Schmidt-Herterich, 2002).

Der Vergleichswert von Pflegebedürftigkeit in der Normalbevölkerung derselben Altersklasse liegt in Nordrhein-Westfalen bei unter 8 ‰. Eine vergleichbare Prävalenz für Pflegebedürftigkeit wie die der Contergangeschädigten findet sich in der Normalbevölkerung in Nordrhein-Westfalen erst bei den 85-Jährigen. Ein weiterer großer Unterschied besteht bei der Ambulantisierungsquote: während in Deutschland 27,4 % aller pflegebedürftigen Menschen in einer stationären Wohnform leben, trifft dies nur auf zwei Prozent der befragten Contergangeschädigten zu (Statistisches Bundesamt, 2017).

Zusätzlich nehmen von den befragten Menschen mit einer Conterganschädigung, die nicht in einer stationären Einrichtung leben, nur 12 % professionelle Angebote in Anspruch. In der Allgemeinbevölkerung mit einer Pflegebedürftigkeit ohne stationäre Pflege ist der Anteil derer, die professionelle Hilfe von ambulanten Pflegediensten oder vergleichbaren Organisationen in Anspruch nehmen mit 24,2 % mehr als doppelt so hoch.

Durch die sehr stark variierenden Schädigungsmuster müssen für jeden Contergangeschädigten individuelle Lösungen für die pflegerischen Bedürfnisse geschaffen werden. Die viel weiterverbreitete Inanspruchnahme von informal care kann dadurch begründet sein, dass ebenso wie bei ärztlichen Versorgern auch bei einigen professionell Pflegenden kein Wissen über die Schädigung und damit den Umgang mit dieser in der täglichen Versorgung besteht. Eine weitere Herausforderung wird entstehen, wenn die gehörlosen Studienteilnehmenden in größerem Maße auf professionelle Pflege angewiesen sein werden: so nimmt bisher nur eine gehörlose Person einen ambulanten Dienstleister in Anspruch. Aufgrund der gefundenen Merkmalskombinationen (hohe Ambulantisierungsquote, potentielle starke psychische Belastungen, mögliches hohes Schmerzerleben, spezielle körperliche Einschränkungen, Gehörlosigkeit) ist nicht absehbar, vor welche Schwierigkeiten diese Personengruppe mit ihren speziellen Ansprüchen professionelle Dienstleister stellen wird, da diese Personen bisher ihren Pflegebedarf fast vollständig über informal care abdecken.

Unklar ist die Kausalitätsrichtung bei den Personen, die angaben, einen Pflegebedarf im Sinne der Pflegeversicherung zu haben aber keine Leistungen aus der Pflegeversicherung zu bekommen und mit einer akuten unipolaren Depression diagnostiziert wurden. Es kann nicht eindeutig geklärt werden, ob diese Personen sich aufgrund ihrer vorliegenden Depression als hilfebedürftiger empfinden oder ob diese Depression reaktiv aus ungedeckten Bedarfen entsteht.

Das „Pflegekonzept“, in dem sich größtenteils das eigene soziale Umfeld um die Betroffenen kümmert, wird mit der Zeit immer anfälliger werden, da einerseits das soziale Umfeld mitaltert und andererseits die Betroffenen aufgrund ihres natürlichen Alterungsprozesses in eine Art doppelte Pflegebedürftigkeit (zusätzlich zur vorhandenen Behinderung die Alterspflegebedürftigkeit) geraten. Da es offensichtlich durch die Art der Schädigung zu untypischen Pflegebedarfen wie z.B. vielen haushaltsnahen Pflegeleistungen kommen kann, sind spezialisierte Angebote, ein erleichterter Zugang zu diesen sowie Weiterbildungsangebote an die professionellen Pflegedienstleister erforderlich.

Elektronische Supplemente (ESM)

Die elektronischen Supplemente sind mit der Online-Version dieses Artikels verfügbar unter https://doi.org/ 10.1024/1012-5302/a000670.

Dipl.-Stat. Christina Samel, Institut für Medizinische Statistik und Bioinformatik, Medizinische Fakultät, Universität zu Köln, Kerpener Str. 62, 50937 Köln, Deutschland, [email protected]

Autoreninterview mit Prof. Dr. med. Klaus M. Peters

Was war die größte Herausforderung bei Ihrer Studie?

Das Vertrauen der Studienteilnehmer zu gewinnen, sodass sie bereit waren, sich dem umfänglichen Studienprotokoll zu stellen.

Was wünschen Sie sich bezüglich der Thematik für die Zukunft?

Die gewonnenen Erkenntnisse aus der Studie weiter umzusetzen, um die Betroffenen optimal versorgen zu können.

Was empfehlen Sie zum Weiterlesen / Vertiefen?

Stephens & Brynner (2001), siehe Literatur.

Literatur

Dipl.-Stat. Christina Samel, Institut für Medizinische Statistik und Bioinformatik, Medizinische Fakultät, Universität zu Köln, Kerpener Str. 62, 50937 Köln, Deutschland,