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Open AccessOriginalarbeit

Freiheitsentziehende Maßnahmen in bayerischen Heimeinrichtungen für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit Intelligenzminderung

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000808

Abstract

Zusammenfassung.Fragestellung: In Bayern leben etwa 10 % aller jungen Menschen mit Intelligenzminderung in Heimeinrichtungen. 2016 wurde in Presseberichten der Vorwurf unzulässiger freiheitsentziehender Maßnahmen formuliert. Im Rahmen des Projekts REDUGIA wurde in bayerischen Heimeinrichtungen eine repräsentative Erhebung zu freiheitsentziehenden Maßnahmen (FeM), herausforderndem Verhalten (hfV) und der Mitarbeiterbelastung (MaB) durchgeführt. Methodik: 65 Einrichtungen für junge Menschen mit Intelligenzminderung in Bayern wurde ein Fragebogen zu strukturellen Gegebenheiten sowie MaB, hfV und FeM zugesendet. Neben deskriptiven Auswertungen wurden korrelative Analysen bzw. Regressionsanalysen zum Zusammenhang zwischen hfV, FeM und MaB durchgeführt. Ergebnisse: Es wurden Daten zu 1839 Personen in 61 Einrichtungen erhoben. 84.3 % der Einrichtungen berichteten geringe Raten an hfV und FeM, während 15.7 % ein gehäuftes Vorkommen von hfV und FeM angaben. Auf n = 1809 Vollzeitäquivalente kam es innerhalb von 14 Tagen zu 639 körperlichen Angriffen durch Bewohner_innen. In 12 Monaten wurden problemverhaltensassoziiert 85 Krankmeldungen sowie 33 Versetzungsanträge/Kündigungen berichtet. Es zeigte sich ein signifikant positiver Zusammenhang zwischen hfV und FeM (R² = .307, F = 21.719, p < .001). Die Mitarbeiterbelastung korrelierte positiv mit hfV (r = .507, p < .001). Schlussfolgerungen: Die Studienbefunde weisen darauf hin, dass hfV sowie FeM bei jungen Menschen mit Intelligenzminderung kein flächendeckendes Phänomen darstellen, sondern sich auf wenige spezialisierte Einrichtungen fokussieren. Mögliche Maßnahmen zur Prävention von Problemverhalten und Freiheitsentzug werden diskutiert.

Freedom-restricting measures in Bavarian residential facilities for children, adolescents, and young adults with intellectual disabilities

Abstract.Objective: In Bavaria, around 10 % of youths with an intellectual disability (ID) live in residential facilities. In 2015, media raised accusations of inadmissible use of coercive measures. The REDUGIA project carried out a representative survey in Bavarian facilities regarding coercive measures (FeM), challenging behavior (hfV), and employee stress (MaB). Method: We sent a questionnaire concerning structural conditions, MaB, hfV and FeM to 65 Bavarian facilities for young people with ID. In addition to preparing descriptive evaluations, we performed correlative and regression analyses concerning the relationship between hfV, FeM, and MaB. Results: We retrieved data from 1,839 subjects in 61 facilities. 84.3 % of facilities reported low rates of hfV and FeM, while 15.7 % reported an increased incidence of hfV and FeM. For n = 1809 full-time position equivalents there were 639 physical attacks by residents over the course of 14 days. We observed 85 instances of sick leave and 33 transfer apllications/resignation associated with hfV. The frequency of hfV predicted the frequency of FeM (R² = 0.307, F = 21.719, p < .001). MaB correlated positively with hfV (r = 0.507, p < .001). Conclusions: The descriptive data indicate that hfV and FeM are not general phenomena but occur mainly in a circumscript number of highly specialized facilities. This emphasizes the need for prevention of hfV and FeM.

Einleitung und Hintergrund

Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung stellen eine Hochrisikogruppe für psychische Erkrankungen dar. Obgleich keine repräsentative Erhebung zur Prävalenz psychischer Störungen in dieser Gruppe existiert, so lässt sich aus selektierten fragebogenbasierten Stichprobenuntersuchungen ableiten, dass das Risiko für psychische Erkrankungen um den Faktor 2.2 bis 4.4 erhöht ist (Häßler et al., 2014). Aufgrund der eingeschränkten oder fehlenden kommunikativen Fertigkeiten, die eine Vielzahl der Kinder und Jugendlichen mit Intelligenzminderung betreffen, werden psychiatrische Symptome oft nicht mitgeteilt (underreporting), primär auf die Behinderung attribuiert (diagnostic overshadowing) oder in der retrospektiven Entwicklungsbeurteilung als bereits „immer“ stark ausgeprägt beschrieben (baseline exaggeration; Reiss, Levitan & McNally, 1982; Sovner & Hurley, 1983). Unzureichende Diagnostik und konsekutiv insuffiziente Behandlungsangebote begünstigen die weitere neurokognitive Beeinträchtigung, die psychopathologische Aggravierung der psychiatrischen Symptomatik sowie die soziale Desintegration der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Insbesondere wenn auto- oder fremdaggressives Verhalten auftritt, wird in pädagogischen Settings von herausforderndem Verhalten gesprochen. Dieser Begriff soll jedoch nicht implizieren, dass das Verhalten der Kontrolle der Person unterliegt und sie dieses bewusst einsetzt, um das Umfeld zu provozieren. Der Begriff beschreibt die Tatsache, dass der Umgang mit dem Verhalten für Betreuungspersonen eine Herausforderung darstellt. Die Prävalenz von herausforderndem Verhalten liegt bei geistiger Behinderung bei ca. 52 % (Dworschak, Ratz & Wagner, 2016). Selbstverletzendes und aggressives Verhalten sind dabei die häufigsten kritischen Verhaltensweisen (Kahng, Iwata & Lewin, 2002; McClintock, Hall & Oliver, 2003). Gleichzeitig kann das Problemverhalten Auslöser für freiheitsentziehende Maßnahmen (FeM) sein, die primär dem Schutz des Kindes oder der Personen im Umfeld dienen sollen. Es existieren allerdings keine belastbaren Prävalenzraten für die Anwendung von FeM bei geistiger Behinderung. Steht das Problemverhalten im Zusammenhang mit der psychischen Störung, so kann postuliert werden, dass die freiheitsentziehende Maßnahme bei adäquater medizinisch-psychotherapeutischer Versorgung zumindest teilweise zu verhindern gewesen wäre. Eben diese spezifische diagnostische und therapeutische Versorgungssituation ist nach Ansicht von Schulen und Trägerverbänden in Bayern „völlig unzureichend“, wodurch es zu „inakzeptablen Belastungen, freiheitsentziehenden Maßnahmen sowie einer Desintegration der betroffenen Kinder und Jugendlichen aus dem schulischen Kontext“ kommt (Runder Tisch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Bayern, 2018). Bedingt sind diese Versorgungsdefizite primär durch strukturelle Hürden, die zwischen medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Strukturen bestehen. Zudem wird von den Verbänden die ansteigende körperliche und psychische Belastung der Pädagog_innen sowie der Eltern angemahnt.

In 2016 veröffentlichten diverse Medienkanäle umfangreiche kritische Berichte zum Thema FeM in bayerischen Heimeinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung (Wreschniok & Fiedler, 2016). Die erhobenen Vorwürfe stützten sich primär auf Berichte von Eltern und ehemaligen Mitarbeiter_innen über Fixierungen, Einschlüsse und den Einsatz von Bettgittern oder anderen Vorrichtungen, die als unsachgemäß und fachlich unbegründet charakterisiert wurden. Eine daraufhin durch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (StMAS) veranlasste Ad-hoc-Prüfung durch das Bayerische Landesjugendamt deckte insgesamt sieben „gravierende Verstöße bei der Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen“ auf, jedoch wurden keine flächendeckenden Missstände identifiziert (Mittler, 2016). Auch sei die Anwendung der FeM in den Einrichtungen durchgängig mit der gesetzlich erforderlichen Zustimmung der Sorgeberechtigten und bei jungen Volljährigen auch mit der entsprechenden richterlichen Genehmigung erfolgt. In den Medien und unter Fachleuten wurde hierbei jedoch diskutiert, inwiefern Eltern sich gezwungen sähen, ihre Zustimmung zu erteilen, um den begehrten Heimplatz für ihr Kind zu erhalten (Kutter, 2017). Eine externe Kontrolle von FeM für Kinder und Jugendliche in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung durch Familiengerichte wurde erst mit der Novellierung des § 1631b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ab dem 01.10.2017 gesetzlich festgeschrieben. Neben der erwünschten öffentlichen Thematisierung von Freiheitsentzug in Heimeinrichtungen und den rechtlichen Rahmenbedingungen zog die Berichterstattung für die pädagogisch-therapeutischen Mitarbeiter_innen in den Heimeinrichtungen die Konsequenz eines generellen Verdachts des Fehlverhaltens nach sich. Gleichzeitig ist die Belastung bei Mitarbeiter_innen in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung oft sehr hoch (Habermann-Horstmeier, 2020; Habermann-Horstmeier & Limbeck, 2016). Vor allem körperliche Übergriffe haben oft schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit (Richter & Berger, 2009). Es existierten zu dem Zeitpunkt jedoch keine systematischen Erhebungen zum Einsatz von Freiheitsentzug in bayerischen Heimeinrichtungen.

In einem durch das StMAS einberufenen Expertenrat wurden die Vorgänge bewertet und im Abschlussbericht „Stationäre Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung“ im Rahmen eines 10-Punkte-Plans Maßnahmen zur Sicherung und Verbesserung der qualitativen Standards in den Einrichtungen vorgeschlagen (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration, 2016). Diese Maßnahmen umfassten u. a. eine stärkere Beteiligung der Bewohner_innen sowie der Eltern, die Schaffung von Beratungs- und Beschwerdestellen, die Überarbeitung der Heimrichtlinien, die Intensivierung von Fortbildungsmaßnahmen in den Einrichtungen sowie die Verstärkung der Heimaufsicht. Weiterhin wurde die staatliche Förderung des Forschungsverbunds SEKIB (Stationäre Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung; Bretschneider, 2018; Dworschak et al., 2018) angestoßen, der drei wissenschaftliche Projekte zur Reduktion von FeM umfasst. Innerhalb des Verbundes zielt das Projekt REDUGIA (Reduktion von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung: Grundlagen einer interdisziplinären Allianz) darauf ab, die Anwendung von FeM in Heimeinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung in Bayern vor und nach Novellierung des § 1631b BGB zu charakterisieren und quantifizieren. In der vorliegenden Publikation werden erste Ergebnisse der REDUGIA-Baseline-Erhebung vorgestellt.

Methodik

Die Studie wurde durch die Ethikkommission der Universität Würzburg (Studiennummer 227/17) geprüft und als ethisch unbedenklich bewertet.

Im Rahmen von REDUGIA wurden in bayerischen Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Intelligenzminderung mittels quantitativer und qualitativer Verfahren Daten über Art und Häufigkeit herausfordernder Verhaltensweisen sowie FeM und die damit assoziierte Mitarbeiterbelastung erhoben. Die Stichprobe setzte sich aus Einrichtungen aus dem gesamten Bundesland mit Bewohner_innen nach Sozialgesetzbuch (SGB) IX (Eingliederungshilfe) zusammen, wobei angesichts der geringen Anzahl an spezialisierten Einrichtungen aus Datenschutzgründen keine Angaben zu den genauen Standorten erhoben wurden. Vorliegend werden die quantitativen Baseline-Daten dargestellt, die eine erstmalige Statusbeschreibung der Situation dieser Population in einem deutschen Bundesland ermöglichen. Wir gingen von den Hypothesen aus, dass es positive Zusammenhänge gibt zwischen 1) dem Ausmaß von FeM und dem Ausmaß herausfordernden Verhaltens und 2) dem Ausmaß der Mitarbeiterbelastung und dem Ausmaß herausfordernden Verhaltens sowie dem Ausmaß an FeM.

Es existieren bislang keine systematisch erhobenen Daten zur Gesamtzahl der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Intelligenzminderung in bayerischen Heimeinrichtungen, da fachliche Ausrichtung, Belegung und Klientenspektrum der verschiedenen Einrichtungen kontinuierlichen Veränderungen unterliegen. Auf Grundlage der Daten des StMAS sowie weiterführender eigener Recherchen wurden insgesamt 104 Einrichtungen als für REDUGIA potenziell relevant identifiziert. Nach Ausschluss der Einrichtungen, die nicht die Einschlusskriterien der Studie erfüllten (z. B. Fokus auf Patienten_innen mit Körperbehinderung oder somatischen Erkrankungen), wurden der Baseline-Fragebogen an insgesamt 65 Einrichtungen versendet. Standen mehrere Einrichtungen unter gemeinsamer Trägerschaft, so wurden z. T. in einem Fragebogen Angaben zu allen Einrichtungen dieses Trägers gemacht. Daher lagen insgesamt 51 Fragebögen mit Informationen über 61 von 65 Einrichtungen (Rücklaufquote = 94 %) vor. Vier Einrichtungen willigten nicht in die Studienteilnahme ein. Wir gehen insgesamt von der Repräsentativität der Daten für das Bundesland Bayern aus.

Da sich die Angaben von Trägern, die in einem Fragebogen über mehrere Einrichtungen berichteten, nicht mehr auf die einzelnen Einrichtungen zurückbeziehen ließen, gehen alle in einem Fragebogen beschriebenen Einrichtungen als jeweils eine Einrichtung in die Analyse ein. Die Angaben erfolgten entweder durch die Einrichtungsleitung oder durch Gruppenmitarbeiter_innen auf Basis von Quelldaten (Akten).

Der Baseline-Fragebogen (elektronisches Supplement [ESM]) enthielt insgesamt 81 Fragen aus vier Kategorien:

Rahmenbedingungen

In dieser Fragenkategorie wurden strukturelle Daten hinsichtlich der Anzahl der Heimplätze, der Gruppengrößen, der Anzahl von Intensivplätzen sowie des Personalschlüssels erfasst. Intensivgruppen bieten gemäß den staatlichen Heimrichtlinien „intensiv-pädagogische Betreuung und Förderung für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit Behinderung und tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, psychiatrischen Störungsbildern sowie massiven anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten an, die ein besonders hohes Schutzbedürfnis vor Selbst- bzw. Fremdgefährdung haben“ (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration, 2017). Als Ziel dieser gesonderten Wohnform mit den sich daraus ergebenden Vorteilen ist die Verringerung der FeM genannt. Daher wurden Anzahl und Größe der Intensivgruppen ebenfalls erhoben.

Herausforderndes Verhalten

Neben Art, Häufigkeit und Dokumentationsweise von kritischen Ereignissen wurde auch die Anzahl der Kinder mit herausforderndem Verhalten erhoben. Aus den diesbezüglichen Daten wurde ein quantitativer Index Herausforderndes Verhalten für die jeweilige Einrichtung ermittelt (= Anzahl der Bewohner_innen mit herausfordendem Verhalten/Anzahl Bewohner_innen). Zudem wurde differenziert zwischen herausforderndem Verhalten insgesamt und kritischen Ereignissen, da diese im Gegensatz zu weniger disruptiven Verhaltensproblemen, wie z. B. motorischen Stereotypien oder exzessivem Lautieren, häufiger FeM nach sich ziehen. Als kritische Ereignisse wurden verschiedene Formen von Auto- und Fremdaggression gewertet. Hier wurde die Auftretenshäufigkeit innerhalb von 14 Tagen erhoben.

Freiheitsentziehende Maßnahmen

Die Erhebung von Art, Häufigkeit und Dokumentation von FeM erfolgte unter einer breiten Definition und bezog sich nicht allein auf die rechtliche Definition von Freiheitsentzug gemäß § 1631b BGB. Ziel der Abfrage war es, das Spektrum der eingesetzten FeM abzubilden sowie ein quantitatives Maß zur Häufigkeit von FeM sowie der Anzahl der betroffenen Bewohner_innen in der jeweiligen Einrichtung zu generieren. Für die Analysen wurde ein Indexwert Freiheitsentziehende Maßnahmen (= Anzahl Bewohner_innen mit FeM/Gesamtzahl Bewohner_innen) berechnet.

Mitarbeiterbelastung

Da anzunehmen ist, dass Mitarbeiter_innen insbesondere aggressive Verhaltensweisen als Belastung erleben, wurden in dieser Fragenkategorie die Häufigkeit körperlicher Übergriffe gegenüber Mitarbeiter_innen und der Notwendigkeit des Tragens von Schutzkleidung sowie die Anzahl der mit herausforderndem Verhalten in Zusammenhang stehenden Krankmeldungen und Kündigungen erhoben. Für die Analysen wurde ein Indexwert Mitarbeiterbelastung (= Summe Mitarbeiterbelastung/Anzahl Mitarbeiter_innen in Vollzeitäquivalenten) herangezogen.

Die Baseline-Erhebung enthält Angaben zur Situation vor der Novellierung des § 1631b BGB und damit vor den Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen von FeM. Ergebnisse hinsichtlich möglicher Veränderungen durch die Gesetzesnovellierung werden Anfang 2021 vorliegen.

Statistische Auswertung

Die statistische Auswertung erfolgte mit IBM SPSS Statistics Version 26. Deskriptiv werden Häufigkeiten, Prozentangaben, Summen- und Mittelwerte mit Standardabweichungen dargestellt. Für die Analysen wurden die Indexwerte für herausforderndes Verhalten, FeM und Mitarbeiterbelastung herangezogen. Zusammenhänge wurden bei Erfüllung der Gauß-Markov-Annahmen mittels linearer Regressionsmodelle geprüft. Bei Verletzung der Voraussetzungen wurden Zusammenhänge mittels Korrelationsanalysen nach Pearson untersucht. Es wurde ein generelles Signifikanzniveau von p = .05 angenommen. Aufgrund der α-Adjustierung für multiples Testen lag das tatsächliche Signifikanzniveau bei p = .017.

Ergebnisse

Struktur der Heimeinrichtungen

Insgesamt lebten in Bayern zum Zeitpunkt der Baseline-Erhebung in den teilnehmenden 61 vollstationären Einrichtungen 1839 Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit Intelligenzminderung. Die Einrichtungen verfügten über insgesamt 282 Wohngruppen. Die mittlere Gruppengröße betrug 6.9 ± 2.1 Kinder. 173 Kinder lebten in 34 Intensivgruppen verteilt auf 16 Einrichtungen. Die mittlere Größe der Intensivgruppen lag bei 5.2 ± 2.1 Kindern.

Innerhalb der Stichprobe gab es zum Zeitpunkt der Baseline-Erhebung insgesamt 102 geschlossene Plätze. Das heißt 6 % der Bewohner_innen waren bereits vor der Gesetzesnovellierung geschlossen nach § 1631b BGB untergebracht. Für 380 Kinder und Jugendliche bestanden schriftliche Absprachen mit den Eltern hinsichtlich der Anwendung von FeM. 19 von 282 Gruppen gaben an, Gruppentüren grundsätzlich verschlossen zu halten. Sechs weitere Einrichtungen hielten die Gruppentüren intermittierend verschlossen. 12 Einrichtungen besaßen insgesamt 19 Time-out-Räume (N = 7 mit einem Raum, N = 2 mit zwei Räumen, N = 2 mit drei Räumen). Für deskriptive Angaben zur Struktur der Einrichtungen siehe Tabelle 1.

Tabelle 1 Charakteristika der Einrichtungen zur Baseline-Erhebung.

Häufigkeit von herausforderndem Verhalten

Insgesamt wurde in 44 von 51 Fragebögen herausforderndes Verhalten berichtet. Da die Einrichtungen unterschiedliche fachliche Profile aufwiesen, war zu erwarten, dass herausforderndes Verhalten der Bewohner_innen in den Einrichtungen nicht gleichmäßig verteilt auftritt. Tabelle 2 bildet über alle Einrichtungen ab, wie viele Bewohner_innen im Durchschnitt herausfordernde Verhaltensweisen zeigten.

Tabelle 2 Durchschnittliche Anzahl der Bewohner_innen mit herausforderndem Verhalten pro Einrichtung innerhalb von 14 Tagen.

Abbildung 1 stellt die Häufigkeit von kritischen Ereignissen dar, die in einer Einrichtung pro Bewohner_in innerhalb von 14 Tagen aufgetreten waren. Als kritische Ereignisse wurden selbst- und fremdaggressive Verhaltensweisen gewertet (Selbstverletzung, Verletzung von anderen Bewohner_innen, Verletzung von Mitarbeiter_innen, Zerstören von Gegenständen). Schwere Formen herausfordernden Verhaltens konzentrierten sich auf wenige Einrichtungen, wohingegen die Bewohner_innen der Mehrzahl der Einrichtungen kaum oder keine schwer aggressiven Verhaltensweisen zeigten. In 40 von 51 Einrichtungen wurde weniger als ein kritisches Ereignis pro Einrichtung pro Bewohner_in innerhalb von 14 Tagen berichtet. In 14 Einrichtungen war diese Art von Ereignis nie zu beobachten. In den Einrichtungen mit den höchsten Raten an kritischen Ereignissen bestand dieses am häufigsten in selbstverletzendem Verhalten.

Abbildung 1 Relative Häufigkeit kritischer Ereignisse pro Einrichtung pro Bewohner_in innerhalb von 14 Tagen. Die Einrichtungen (x-Achse) sind in abnehmender Häufigkeit der kritischen Ereignisse sortiert.

Häufigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen

Tabelle 3 stellt die durchschnittliche Häufigkeit der Anwendung von FeM in einer Einrichtung innerhalb von 14 Tagen dar. Deskriptiv waren trotz der durchschnittlichen Einrichtungsgröße von 30 Kindern und Jugendlichen und der breiten Definition von Freiheitsentzug sehr geringe Häufigkeiten zu verzeichnen. Analog zu den Befunden bezüglich kritischer Ereignisse zeigte sich eine deutliche Verdichtung der FeM auf wenige Einrichtungen.

Tabelle 3 Durchschnittliche Anzahl von freiheitsentziehenden Maßnahmen (FeM) betroffener Bewohner_innen pro Einrichtung innerhalb von 14 Tagen.

Anhand des Indexwertes Herausfordernde Verhaltensweisen und des Indexwertes Freiheitsentziehende Maßnahmen ließ sich jede Einrichtung in einer Matrix verorten, die den Zusammenhang zwischen beiden Dimensionen abbildet (Abbildung 2).

Abbildung 2 Zusammenhang zwischen dem Index Herausforderndes Verhalten und dem Index Freiheitsentziehende Maßnahmen pro Einrichtung (R2 = .307, F = 21.719, p < .001).

Es zeigte sich über alle Einrichtungen hinweg ein signifikant positiver prädiktiver Wert des herausfordernden Verhaltens für die Anwendung von FeM (R2 = .307, F = 21.719, p < .001). Es lässt sich deskriptiv erkennen, dass in den meisten Einrichtungen sowohl wenige Bewohner_innen mit herausforderndem Verhalten als auch wenige von Freiheitsentzug betroffene Bewohner_innen lebten, während einzelne Einrichtungen z. T. erheblich von diesem Muster abwichen.

Ausmaß der Mitarbeiterbelastung

Die befragten 61 Einrichtungen verfügten zum Zeitpunkt der Baseline-Erhebung über 1809 Mitarbeiterstellen in Vollzeitäquivalenten. Es erfolgte keine Unterscheidung nach Berufsgruppen. In Tabelle 4 ist die Mitarbeiterbelastung dargestellt, operationalisiert durch die Häufigkeit körperlicher Angriffe und der Notwendigkeit des Tragens von Schutzkleidung sowie der Anzahl an Krankmeldungen und Versetzungsanträgen bzw. Kündigungen aufgrund von herausforderndem Verhalten der Bewohner_innen. Aus den vorliegenden Daten ergab sich für die Mitarbeiter_innen pro Vollzeitstelle eine 35 %ige Wahrscheinlichkeit, innerhalb von 14 Tagen körperlich angegriffen zu werden. In den 12 Monaten vor der Befragung kam es infolge herausfordernden Verhaltens zu 85 Krankmeldungen und 33 Versetzungsanträgen bzw. Kündigungen. In Anbetracht der zuvor beschriebenen Konzentration herausfordernder Verhaltensweisen auf wenige Einrichtungen ist davon auszugehen, dass sich die reale Mitarbeiterbelastung in diesen Einrichtungen mit Bewohner_innen mit stark ausgeprägtem Problemverhalten deutlich schwerwiegender darstellt. Dies bestätigte sich im statistischen Vergleich (p = .009). Einrichtungen mit höheren Raten an herausforderndem Verhalten wiesen außerdem auf Trendniveau einen höheren Personalschlüssel in Form von Vollzeitäquivalenten auf (p = .55).

Tabelle 4 Grad der Mitarbeiterbelastung.

Es zeigte sich ein signifikant positiver Zusammenhang zwischen dem Index Herausforderndes Verhalten und dem Index Mitarbeiterbelastung (r = .507, p < .001), der in Abbildung 3 grafisch dargestellt ist.

Abbildung 3 Zusammenhang zwischen dem Index Mitarbeiterbelastung und dem Index Herausforderndes Verhalten pro Einrichtung (r = .507, p < .001).

Zwischen der Häufigkeit von FeM und dem Grad der Mitarbeiterbelastung war kein Zusammenhang zu beobachten (r = .260, p = .071, Abb. 4).

Abbildung 4 Zusammenhang zwischen dem Index Mitarbeiterbelastung und dem Index Freiheitsentziehende Maßnahmen (r = .260, p = .071).

Diskussion

Die vorliegenden Baseline-Daten stellen nach unserem Kenntnisstand die erste systematische Erhebung von herausforderndem Verhalten sowie FeM in Heimeinrichtungen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Intelligenzminderung in einem deutschen Bundesland dar.

Die Datenerhebung erfolgte vor der Novellierung des § 1631b BGB. Dennoch lagen zu diesem Zeitpunkt bereits für 151 der 173 Kinder in Intensivgruppen gerichtlich bewilligte freiheitsentziehende Unterbringungen nach der damals gültigen Fassung des § 1631b BGB vor. Da in der Befragung insgesamt nur 102 geschlossene Plätze in Bayern berichtet wurden, weist dies darauf hin, dass einige Unterbringungsbeschlüsse auch für Heimplätze ausgesprochen worden waren, die nicht dezidiert als geschlossene Plätze ausgewiesen waren. Die Anwendung von FeM außerhalb einer Unterbringung war vor der Gesetzesnovellierung allein dem Elternrecht zugeordnet und nur limitiert durch eine Gefährdung des Kindeswohls. Damit waren Fixierungen, sedierende Medikation und Kayserbetten sowie andere FeM bereits mit Einwilligung der Eltern zulässig. Für etwa 20 % aller Kinder lagen nach Angabe der Einrichtungen diesbezüglich schriftliche Vereinbarungen mit den Eltern vor. Seit der Novellierung ist bei wiederholter oder regelmäßiger Anwendung eine richterliche Genehmigung einzuholen.

Die Daten der REDUGIA-Studie zeichnen ein differenziertes Bild. Die Mehrzahl der 61 teilnehmenden Einrichtungen berichtete kein(e) oder kaum herausforderndes Verhalten oder FeM. Vor allem kritische Verhaltensweisen sowie FeM konzentrierten sich auf wenige Einrichtungen. Eine mögliche Erklärung für diese ausgeprägten Diskrepanzen liegt in den unterschiedlichen Ausrichtungen und Zielgruppen der Einrichtungen. Tatsächlich nehmen nur wenige Einrichtungen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Intelligenzminderung auf, die bekanntermaßen aggressive Verhaltensweisen zeigen. Vielmehr ist es für die Betroffenen mit schwersten Verhaltensstörungen und ausgeprägtem auto- und fremdaggressivem Verhalten schwer, einen geeigneten Heimplatz zu finden. Aus der Klink am Greinberg als kinder- und jugendpsychiatrische Spezialklinik für junge Menschen mit Mehrfachbehinderung in Würzburg (Träger: Bezirk Unterfranken) sind uns mehrere Fälle aus verschiedenen Bundesländern bekannt, die seit mehreren Jahren auf einen Heimplatz warten. Diese Kinder und Jugendlichen verbleiben zunächst im medizinischen Krankenhaussystem und werden im Erwachsenenalter in psychiatrischen Versorgungskliniken dauerhaft weiterbetreut. Die Dichotomisierung in „reguläre“ Einrichtungen und „intensive“ Einrichtungen stellt eine grundsätzliche Problematik dar. Zum einen geht der Bedarf an „regulären“ Heimplätzen zurück, während der Bedarf an „intensiven“ Heimplätzen das Angebot deutlich übersteigt. Folglich sind die Personen mit dem höchsten Bedarf und den gravierendsten Verhaltensproblemen am schwierigsten an die Träger zu vermitteln. Zum anderen konzentrieren sich aufgrund der Akkumulation der schwer beeinträchtigten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in wenigen spezialisierten Heimeinrichtungen dort sowohl Problemverhalten als auch FeM. Dadurch geraten diese Einrichtungen gegebenenfalls in den Verdacht, sich fehlerhaft zu verhalten.

Insgesamt konnte die Hypothese bestätigt werden, dass das Auftreten von herausforderndem Verhalten mit einer höheren Rate an FeM assoziiert ist. Dies deutet darauf hin, dass Freiheitsentzug in der Regel zielgerichtet eingesetzt wird, um eine Selbst- oder Fremdschädigung zu verhindern. Es ist andererseits aber möglich, dass es systematische Unterschiede zwischen den Einrichtungen in Bezug darauf gibt, wie schnell ein Verhalten als herausfordernd oder kritisch bewertet wird. So können zum Beispiel Stereotypien unabhängig vom Ausprägungsgrad als mehr oder weniger disruptiv eingestuft und infolgedessen mehr oder weniger häufig mit FeM unterbunden werden. Wenn eine Einrichtung hier relativ enge Toleranzgrenzen definiert, dann resultieren hieraus hohe Frequenzen von herausforderndem Verhalten und FeM. In unseren Daten finden sich Hinweise darauf, dass einzelne Einrichtungen trotz einer hohen Rate an herausforderndem Verhalten nur geringe Raten an Freiheitsentzug aufweisen. Die spezifischen Konzepte und Strategien der jeweiligen Einrichtungen könnten daher vorbildhafte Strategien zur Reduktion von FeM darstellen.

Voraussetzung für die Implementierung von Alternativen zur Anwendung von FeM ist die Identifikation der individuellen Ursachen dieser Verhaltensweisen. Häufig ist das im pädagogischen Kontext als herausfordernd definierte Verhalten Ausdruck einer psychischen Erkrankung. Die Behandlung der Grunderkrankung kann sich präventiv bezüglich des Auftretens von Problemverhalten auswirken. Eine frühzeitige Diagnostik und indizierte Therapie könnte den Betroffenen so nicht nur ein höheres Maß an Partizipation und Teilhabe ermöglichen, sondern durch die Prävention herausfordernden Verhaltens auch zur Reduktion von FeM beitragen.

Auch die Hypothese eines signifikant positiven Zusammenhangs zwischen herausforderndem Verhalten und der Mitarbeiterbelastung konnte bestätigt werden. Die erhobene Mitarbeiterbelastung setzte sich zusammen aus dem Vorkommen von körperlichen Angriffen der Bewohner_innen gegenüber den Mitarbeiter_innen, der Notwendigkeit des Tragens von Schutzkleidung für Mitarbeiter_innen sowie der Häufigkeit von Krankmeldungen und Kündigungen/Versetzungsanträgen. Da Aggression gegenüber Mitarbeiter_innen auch in den Index Herausforderndes Verhalten einfließt und der Bedarf für Schutzkleidung direkt aus dem aggressiven Verhalten der Bewohner_innen resultiert, ergibt sich hier eine gewisse Konfundierung. Um die für die Mitarbeiterbelastung relevanten Komponenten des herausfordernden Verhaltens zu identifizieren, wurden Korrelationen zwischen dem herausfordernden Verhalten und den Items des Indexes Mitarbeiterbelastung berechnet. Hier zeigten sich signifikante Zusammenhänge des herausfordernden Verhaltens mit der Anzahl körperlicher Angriffe sowie der Häufigkeit von Krankmeldungen, jedoch nicht mit der Häufigkeit der Notwendigkeit des Tragens von Schutzkleidung oder der Anzahl an Kündigungen. Das Risiko von Angriffen, Schutzkleidungsnotwendigkeit oder Krankschreibung lässt sich für Teilzeitbeschäftigte auf deren Stellenanteil umrechnen. Für die Anzahl der Kündigungen ist dies nicht möglich, da diese immer auf eine Person bezogen sind.

Einrichtungen, in denen mehr Bewohner_innen herausforderndes Verhalten zeigten, verfügten über einen höheren Personalschlüssel. Trotzdem war die Belastung der Mitarbeiter_innen dieser Einrichtungen höher als in Einrichtungen mit weniger schwer verhaltensauffälligen Bewohner_innen. Dies kann zum einen damit zusammenhängen, dass die Mitarbeiterbelastung fast ausschließlich durch Faktoren operationalisiert wurde, die aus dem herausfordernden Verhalten selbst resultieren können (Angriffe, Notwendigkeit von Schutzkleidung und Krankmeldungen durch Verletzungen), und damit die Belastung in Einrichtungen mit Bewohner_innen mit mehr herausforderndem Verhalten höher ausfällt. Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass die zusätzlichen Mitarbeiter_innen nicht primär in den Bereichen mit der größten Exponiertheit eingesetzt wurden und daher zu keiner maßgeblichen Verbesserung beitragen konnten.

Die Häufigkeit von FeM zeigte hingegen keine Assoziation mit der Mitarbeiterbelastung. Da die psychische Belastung nicht erfasst wurde, können keine Aussagen dazu getroffen werden, ob die Mitarbeiter_innen den Einsatz von FeM als belastend erlebten. Der Einsatz von FeM brachte im Umkehrschluss aber auch keine Verbesserung in der Form, dass die Anwendung der FeM das Arbeitsumfeld sicherer macht und damit die Mitarbeiterbelastung reduziert, d. h., die Bewohner_innen infolge von FeM z. B. weniger Fremdaggression zeigen und es dadurch zu weniger Krankmeldungen der Mitarbeiter_innen kommt. Diese Frage lässt sich auf Basis der vorliegenden Daten nicht abschließend beantworten. Es ist zu vermuten, dass ohne Kenntnis und Adressierung der Ursachen des herausfordernden Verhaltens eine reine Reaktion in Form von FeM keine nachhaltige Verhaltensänderung bewirken kann, sondern lediglich eine kurzfristige Lösung darstellt.

Interessant wäre es, neben der körperlichen auch die psychische Mitarbeiterbelastung im Detail zu untersuchen. Mitarbeiter_innen von Einrichtungen mit Spezialisierung auf schwere – auch aggressive – Verhaltensstörungen weisen potenziell größere Resilienz oder adaptivere Copingstrategien auf und sind dadurch unter Umständen weniger psychisch belastet. Um abschließend den Einfluss von herausforderndem Verhalten und FeM auf die globale Belastung der Mitarbeiter_innen einschätzen zu können, sind weitere Untersuchungen notwendig.

Handlungsempfehlungen

Mittels qualitativer Interviews wurden im Rahmen von REDUGIA in ausgewählten Einrichtungen zusätzlich bereits etablierte hilfreiche Strategien sowie aus der klinischen Erfahrung resultierende Vorschläge der Mitarbeiter_innen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten erhoben und Handlungsempfehlungen auf Ebene der direkt involvierten Parteien sowie auf politischer Ebene abgeleitet.

In Bezug auf die fachliche Organisation der Einrichtungen standen vor allem Maßnahmen zu Qualifikation und Qualitätssicherung sowie Erwartungen an Personen in Leitungspositionen im Vordergrund. In Bezug auf die Haltung des Teams gegenüber FeM wurde vor allem ein gemeinsamer Prozess der Erarbeitung von Standards im Team als wichtiger Faktor benannt. Der dritte Bereich, in dem ein Bedarf identifiziert wurde, bestand in der interdisziplinären Kooperation zwischen allen beteiligten Parteien (Einrichtungen, Eltern, Jugend- und Sozialämter, Fachdienste, schulische Strukturen, Richter und Verfahrensbeistände, somatische und psychotherapeutische Behandler_innen).

Ein abgestimmtes Vorgehen der Politik zur Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Reduktion von FeM wurde von den befragten Einrichtungen als entscheidend für eine erfolgreiche Reduktion von FeM herausgestellt. Für die Verbesserung der Primärprävention und der Früherkennung von Verhaltensstörungen erscheinen eine Dissemination entsprechender Kompetenzen in der Fläche sowie die fachliche Begleitung von pädagogischen Teams und die Schaffung von Netzwerkstrukturen mit dem ambulanten System erforderlich. Eine weitere wichtige Rolle nimmt der Kompetenztransfer in die medizinische Aus-, Weiter- und Fortbildung ein.

Eine Verbesserung der Rahmenbedingungen (teil)stationärer Einrichtungen kann erreicht werden durch eine Anpassung der Heimrichtlinien, die Erhöhung der Personalschlüssel, eine verpflichtende flächendeckende Einführung evidenzbasierter Deeskalationsschulungen, die Schaffung von Vergütungsstrukturen für Maßnahmen zur Qualitätssicherung oder die finanzielle Subventionierung bzw. Reduktion bürokratischer Hürden zur Beschaffung von Alternativmöglichkeiten zu FeM. Essenziell für eine Verbesserung der Evidenzbasierung von Prävention, Diagnostik und Therapie sind zusätzliche Förderprogramme für die Durchführung qualitativ hochwertiger wissenschaftlicher Untersuchungen.

Offene Forschungsfragen

In diesem gesellschaftlich hoch relevanten Feld ist weiterführende, qualitativ hochwertige Forschung dringend notwendig. Mit REDUGIA wurde in Bayern als erstem deutschen Bundesland der Ist-Zustand zur Anwendung von FeM in Heimeinrichtungen für junge Menschen mit Intelligenzminderung erhoben. Mit den Erfahrungen dieses Pilotprojekts als Grundlage ist es möglich, unter Elimination der methodischen Limitationen von REDUGIA die aktuelle Situation in Gesamtdeutschland zu erfassen und passgenaue Empfehlungen zu erarbeiten. Hierfür ist über den Rahmen der Forschungsfragen von REDUGIA hinaus eine systematische Untersuchung moderierender und mediierender Einflüsse auf den Zusammenhang zwischen herausforderndem Verhalten und FeM essenziell. Außerdem ging unserer Studie nicht systematisch auf die möglichen Hintergründe des herausfordernden Verhaltens ein. Hier könnte die Untersuchung z. B. des Zusammenhangs psychischer Erkrankungen mit herausforderndem Verhalten und der Notwendigkeit bzw. Wirksamkeit der Behandlung dieser Erkrankungen untersucht und mögliche alternative Strategien zu FeM überprüft werden. Die systematische Untersuchung der Wirksamkeit verschiedener Copingstrategien der Mitarbeiter_innen in Heimeinrichtungen und deren Einfluss auf die Einstellung zu und die Anwendung von FeM erscheint für eine langfristige Reduktion von FeM notwendig, da die als wirksam identifizierten Strategien im nächsten Schritt flächendeckend implementiert werden könnten. Zuletzt können vor allem Situationen, in denen herausforderndes Verhalten nicht zu FeM geführt hat, Aufschluss über wirksame Alternativen geben. Eine gezielte Erhebung dieser Situationen könnte Gegenstand einer zukünftigen Studie sein.

Limitationen

Die wichtigste Limitation der Studie besteht in der Tatsache, dass es sich bei den Angaben um reine Selbstauskünfte der Einrichtungen handelt. Bei einem so kontrovers diskutierten Thema wie Freiheitsentzug für Menschen mit geistiger Behinderung kann dieses Format zu sozial erwünschtem Antwortverhalten führen. Unter Wahrung aller datenschutzrechtlichen Vorgaben könnte eine Einsichtnahme in die Akten der Einrichtungen durch Studienmitarbeiter_innen die Objektivität der Daten erhöhen. Allerdings ist eine Überprüfung der Vollständigkeit der Einträge schwer realisierbar.

Über die insgesamt 61 Einrichtungen wurde in 51 Fragebögen berichtet, d. h., manche Träger fassten die Angaben über alle ihre Einrichtungen zusammen. Es war in diesen Fällen nicht möglich, Rückschlüsse auf einzelne Einrichtungen zu ziehen. Hierdurch kann es zu Verzerrungen der Daten gekommen sein.

Weiterhin gab es grundlegende methodische Limitationen in Bezug auf den Fragebogen selbst. So wurde die personelle Situation zum Zeitpunkt der Baseline-Erhebung in Form von Vollzeitäquivalenten statt der Anzahl der angestellten Personen erfasst. Auch fehlte eine Unterteilung nach Berufsgruppen. Daher lässt sich nicht ausschließen, dass manche Einrichtungen hier auch Mitarbeiter_innen aus Verwaltung, Sekretariat etc. miteingerechnet haben. Es ist nicht zu eruieren, auf wie viele Personen sich die kritischen Ereignisse bezogen und welchem Risiko jede einzelne Person demnach ausgesetzt war. Zukünftige Datenerhebungen sollten zusätzlich zu den Vollzeitäquivalenten die Anzahl der Mitarbeiter_innen unterteilt nach Berufsgruppen erfragen. Mit Ausnahme der kritischen Verhaltensweisen wurde in Bezug auf das herausfordernde Verhalten nur die Anzahl der betroffenen Kinder ohne Angaben zur Häufigkeit der Verhaltensweisen erfasst. Wir gehen außerdem davon aus, dass es zum einen Bewohner_innen gab, die von mehreren FeM betroffen waren, und zum anderen bestimmte FeM zusammen auftraten und somit ein herausforderndes Verhalten in mehreren FeM resultierte (z. B. körperliches Festhalten, Fixierung und Zwangsmedikation nach Impulsdurchbruch). Diese Information lässt sich aus den Fragebogendaten leider nicht herausziehen. In zukünftigen Datenerhebungen sollten sowohl die Frequenz aller Arten herausfordernden Verhaltens als auch die Anzahl der betroffenen Personen erfasst werden und zusammenhängende FeM kenntlich gemacht werden.

Außerdem wurde in Bezug auf die Mitarbeiterbelastung ausschließlich die körperliche Belastung erfragt, während keine Informationen zur psychischen Belastung in die Untersuchung eingingen. Mit Angaben zur psychischen Belastung sowie zur Häufigkeit aller Arten herausfordernden Verhaltens könnten die Muster aus FeM und Problemverhalten noch weiter im Detail analysiert werden. Es wurden zusätzlich zur Fragebogenerhebung in ausgewählten Einrichtungen qualitative Interviews durchgeführt, in denen beispielhaft Situationen erfasst wurden, in denen FeM vermieden werden konnten. Dieser Schritt ergänzt inhaltlich einige der Limitationen der Fragebogenerhebung. Die Ergebnisse der Interviews werden im Rahmen eines Promotionsvorhabens in Form einer Monografie veröffentlicht. Zukünftige Studien sollten sowohl Fragen zur psychischen Mitarbeiterbelastung beinhalten als auch systematisch Situationen erheben, in denen FeM vermieden werden konnten.

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https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000808.

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