Kommentare zu . Die integrative Lerntherapie: Therapieform zur Behandlung von Lernstörungen. Lernen und Lernstörungen, 6 (2), 65–73
Kommentar aus rechtschreibdidaktischer Sicht
Es ist sehr erfreulich, dass der Fachverband für integrative Lerntherapie e.V. (FiL) ein Leitbild zu Therapieform und Behandlung von Lernstörungen vorlegt. Der Entwurf ist gut fundiert, nachvollziehbar und handlungsleitend. In unserem Kommentar beziehen wir uns besonders auf die Rechtschreibstörung.
Der erste Schritt zu einer zielführenden Rechtschreibförderung bzw. Rechtschreibtherapie ist eine genaue Lernstandsdiagnose. Da die Wirksamkeit von Behandlungen, die unmittelbar an den Symptomen, d.h. an den Rechtschreibfehlern, ansetzen, sich bestätigt hat (vgl. Ise, Engel & Schulte-Körne, 2012), kommt daher der Qualifikation der Lerntherapeutinnen – z.B. im Bereich der Differenzierung von Lang- und Kurzvokalen – höchste Bedeutung zu.
Eine qualitative Analyse der Rechtschreibfehler ermöglicht im besonderen Maße ein individuell passgenaues Lernangebot (vgl. Scheerer-Neumann, 2014; Corvacho del Toro, 2016). Die gängigen Modelle des Schriftspracherwerbs geben zwar eine grobe Orientierung über Fehlerarten und die verschiedenen Strategien, die zum Einsatz kommen, wenn Kinder schreiben lernen, dennoch ist die alleinige Kenntnis der Modelle nicht ausreichend (vgl. Becker, 2008), um das Fehlerprofil eines Lerners zu bestimmen und daraus ein Lernangebot abzuleiten. Schülerschreibungen kommen immer durch den Einsatz verschiedener Strategien zustande. Wolfgang Eichler (1976) führt in seinem Modell (vor Uta Frith, 1986) den Begriff einer „hierarchischen Parallelität“ ein. Das bedeutet, dass Strategien des frühen Schreibens noch in fortgeschrittene Phasen mitgeführt werden, dort aber nicht mehr die dominanten Zugriffsweisen darstellen, sondern nur noch bei schwierigen bzw. unbekannten Wörtern angewendet werden. Eine genaue Analyse der Rechtschreibfehler auf graphematischer Ebene erlaubt es, eine fundierte Einschätzung über die eingesetzten Strategien zu erhalten. Für eine effektive Förderung ist die Arbeit mit den falsch geschriebenen Wörtern in freien Texten zielführend und unumgänglich (vgl. Thomé & Thomé, 2017; Corvacho del Toro, 2016).
Abgesehen von der geteilten Zuwendung der Lehrperson auf alle Lernenden in einer Schulklasse und dem ungeteilten Eingehen auf individuelle Bedürfnisse in einer therapeutischen Einzelsitzung sind die inhaltlichen Unterschiede zwischen gutem Rechtschreibunterricht und einer guten Rechtschreibtherapie fließend. Die Anforderungen an die Sachkompetenz in Bezug auf die Struktur der deutschen Schriftsprache, wie sie für Lehrkräfte bestehen, müssen in gleichem Maße auch für Sprach- und Lerntherapeutinnen gelten (Corvacho del Toro, 2013; 2016). Für die deutsche Schriftsprache gibt es allerdings nicht die eine Sachkompetenz, denn es herrscht in der orthographietheoretischen und rechtschreibdidaktischen Forschung kein Konsens über die grundlegenden linguistischen Einheiten der Orthographie. Während einige Forscher die Silbe als Zentrum der Rechtschreibdidaktik sehen, stellen andere die Phonem-Graphem-Korrespondenzen sowie Morpheme in den Vordergrund der Untersuchung und Vermittlung der deutschen Orthographie (vgl. dazu Kruse & Reichardt, 2016). Diese Unterschiede resultieren aus verschiedenen linguistischen Theorien (Strukturalismus vs. Generative Linguistik) und wirken sich auf Modelle des Schriftspracherwerbs aus, die entweder eine Verzahnung oder eine eher voneinander unabhängige Entwicklung des Lese- und Schreibprozesses annehmen (Siekmann, 2011; Naumann, 2014).
Vergleichsstudien über die Wirksamkeit der verschiedenen Ansätze wurden bislang vor allem in der Unterrichtsqualitätsforschung durchgeführt (Weinhold, 2009; Hofmann, Zöller & Roos, 2009). Die Interpretation der Ergebnisse und die Übertragung auf therapeutische Settings ist schwierig, weil die Qualität des Unterrichts auch bei gleicher Methode stark von der Qualifikation der Lehrperson abhängt (Hofmann et al., 2009). In diesem Sinne wären klinische Studien, die das Vorgehen genau überwachen, zur Überprüfung von Wirksamkeit bzw. zur Untersuchung von Wirkmechanismen der Instruktion anzustreben, um für eine weitere Verbesserung der integrativen Lerntherapie nutzbar gemacht werden zu können.
Literatur
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(2016). Zur qualitativen Rechtschreibfehleranalyse und einer schriftsystematischen lernförderlichen Behandlung der Rechtschreibstörung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 44 (5), 397–408.
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Punktgenau fördern! Warum? Ein historischer Rückblick und einige Daten . In Schulte-Körne G.Thomé G. (Hrsg.), LRS – Legasthenie: interdisziplinär (S. 115–135). Oldenburg: isb.(2011). Der Zusammenhang von Lesen und (Recht)Schreiben. Frankfurt: Peter Lang.
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