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Open AccessOriginalarbeit

Cliffhanger als gewinnbringendes Stilmittel bei der Leseförderung?

Ergebnisse einer randomisiert-kontrollierten Pilotstudie zu Wirkungen variierender Texteinteilungen auf die Lesefreude und die Erinnerung an Textinhalte von Grundschulkindern

Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000372

Abstract

Zusammenfassung.Hintergrund: In der Vergangenheit wurden bereits zahlreiche Leseförderkonzepte erfolgreich evaluiert. Ein Desiderat besteht jedoch im Bereich der Materialanalyse. Die aktuelle Pilotstudie überprüft, ob im Rahmen einer Leseförderung variierende Texteinteilungen die Lesefreude und die Erinnerung an Textinhalte beeinflussen könnten. Methoden: N = 109 Kindern aus dritten und vierten Klassen wurden zwei Versionen eines kurzen Erzähltextes vorgelegt, die sich lediglich im Hinblick auf die Einteilung in Sinnabschnitte unterschieden. Über diesen Weg wurden vorhandene oder nicht vorhandene spannungsreiche Handlungsunterbrechungen (Cliffhanger) am Ende der Textabschnitte evoziert. Die Kinder wurden randomisiert auf zwei Bedingungen (Cliffhangergruppe, Kontrollgruppe ohne Cliffhanger) aufgeteilt. Anschließend wurden im Rahmen einer Leseverständnisförderung die Texte abschnittsweise durchgearbeitet. Ergebnisse: Kinder der Cliffhangergruppe schätzten nach der Leseförderung die erlebte Lesefreude signifikant günstiger ein, konnten sich jedoch auch signifikant schlechter an die Textinhalte erinnern als die Kinder der Kontrollgruppe. Diskussion: Cliffhanger könnten somit tatsächlich die Lesefreude bei der Umsetzung von Lesefördermethoden steigern. Im Hinblick auf das Textverständnis werden jedoch möglicherweise zusätzliche kognitive Ressourcen beansprucht, was eine Verarbeitung der Inhalte erschwert. Dieser Hypothese müsste in zukünftigen Studien nachgegangen werden.

Cliffhangers as a Profitable Stylistic Device in Reading Promotion? Results of a Randomized Controlled Pilot Study on the Effects of Varying Text Arrangements on Reading Enjoyment and Memory of Text Content of Elementary School Children

Abstract.Background: In the past, numerous reading promotion concepts have already been successfully evaluated. However, a desideratum exists in the area of material analysis. The current pilot study examines whether varying text divisions in the context of reading promotion could influence reading enjoyment and recall of text content. Methods: N = 109 children from third and fourth grades were presented with two versions of a short narrative that differed only in terms of division into sense sections. Using this approach, existent or nonexistent suspenseful plot interruptions (cliffhangers) at the end of the text sections were evoked. Children were randomly assigned to two conditions (cliffhanger group, control group without cliffhangers). Subsequently, the narratives were worked through section by section as part of a reading comprehension intervention. Results: Children in the cliffhanger group rated their experienced reading enjoyment significantly more favorably than children in the control group after the reading intervention, but also had significantly poorer recall of text content. Discussion: Cliffhangers could thus indeed increase reading enjoyment when implementing reading promotion methods. However, with regard to text comprehension, additional cognitive resources may be claimed, making it more difficult to process the content. This hypothesis would need to be explored in future studies.

Einleitung

Lesekompetenz ist eine notwendige Voraussetzung für die Teilhabe am Bildungswesen und spielt für das private wie berufliche Leben eine wesentliche Rolle. Ein gravierender Anteil an Kindern und Jugendlichen hat jedoch große Probleme im Aneignungsprozess. Es ist von ca. 14% lese- und rechtschreibschwachen Schülerinnen und Schülern in allen Klassenstufen auszugehen (Klicpera, Schabmann, Gasteiger-Klicpera & Schmidt, 2017). Ca. 8% erfüllen die Kriterien für eine kombinierte Lese- und Rechtschreibstörung nach ICD-10, ca. 6% die Kriterien für eine isolierte Lesestörung (Galuschka & Schulte-Körne, 2016). Der frühzeitige Einsatz von effektiven Lesefördermethoden ist somit essentiell für den Grundschulunterricht.

In der Vergangenheit wurden bereits zahlreiche Leseförderkonzepte erfolgreich evaluiert (Spilles, 2020). Ein gravierendes Desiderat besteht jedoch im Bereich der Materialanalyse. Während durchgeführte Interventionen in Originalarbeiten meist detailreich beschrieben werden, erfolgt die Darstellung des eingesetzten Fördermaterials (z.B. der Lesetexte) in der Regel nur sehr knapp. Die aktuelle Pilotstudie zielt auf einen spezifischen Aspekt dieser Forschungslücke ab und überprüft, ob variierende Texteinteilungen die Lesefreude und die Erinnerung an Textinhalte beeinflussen könnten. Konkret wurden im Rahmen einer zehnminütigen Leseverständnisförderung mit Grundschulkindern zwei verschiedene Versionen eines kurzen Erzähltextes betrachtet, die sich lediglich im Hinblick auf die Einteilung in Sinnabschnitte unterschieden. Über diesen Weg wurden vorhandene oder nichtvorhandene spannungsreiche Handlungsunterbrechungen (Cliffhanger) am Ende der Textabschnitte evoziert.

Lesekompetenz

Lesekompetenz wird in der Forschungsliteratur sehr unterschiedlich definiert. Im Rahmen von PISA wird Lesekompetenz als die Fähigkeit, „geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (Baumert, Stanat & Demmrich, 2001, S.23) verstanden und umfasst die Aspekte „allgemeines Textverständnis“, „Informationsermittlung“, „textbezogene Interpretation“, „inhaltliche Reflexion“ und „formbezogene Reflexion“ (Hurrelmann, 2002). Diesem sehr kognitiv ausgerichteten Kompetenzbegriff liegen somit textimmanente und wissensbasierte Verstehensleistungen zugrunde (ebd.). Hurrelmann (2010, S.24) schreibt aus Perspektive der Lesesozialisationsforschung, dass „es sich beim Lesen um einen konstruktiven Akt der Bedeutungszuweisung zu einem Text handelt, der in einem Handlungszusammenhang steht, so dass auf Leserseite nicht nur Vorwissen und kognitive Fähigkeiten (samt Lesestrategien) gefragt sind, sondern auch motivational-emotionale und kommunikativ-interaktive Bereitschaften und Fähigkeiten“. Lesekompetenz umfasst somit mehr als lediglich die Lesefertigkeit. Kognitive Verarbeitungsprozesse bilden eine wesentliche Grundlage, werden jedoch um subjektiv-motivationale Dispositionen sowie Fähigkeiten zur Kommunikation über Textinhalte ergänzt. Diese umfassende Sichtweise erscheint vor allem aus pädagogischer Sicht relevant, da die Schule nicht nur vor der Aufgabe steht, das Leseverständnis zu fördern, sondern ebenso die Fähigkeit zur Kommunikation über Texte und die Freude am Lesen unterstützen soll (Beschlüsse der Kultusministerkonferenz, 2004). Ein geeignetes pädagogisches Rahmenmodell stellt das didaktische Modell der Lesekompetenz nach Rosebrock, Nix, Rieckmann & Gold (2011) dar. Es unterscheidet die Prozessebene (Wort- und Satzidentifikation, lokale und globale Kohärenzbildung, Erkennung von Superstrukturen und Darstellungsstrategien), die Subjektebene (bspw. motivationale Aspekte oder Offenheit gegenüber dem vorliegenden Text) und die soziale Ebene (Anschlusskommunikation über Textinhalte im sozialen Umfeld). Alle Ebenen beinhalten gleichbedeutsame Teilaspekte, die während des Lesens und darüber hinaus von Bedeutung sind.

Der Beitrag stützt sich auf das Modell der Lesekompetenz nach Rosebrock et al. (2011) und nimmt neben dem Leseverständnis (Prozessebene) schwerpunktmäßig die Lesefreude (Subjektebene) in den Blick.

Leseverständnisförderung

Zur Unterstützung des Leseverständnisses eignet sich grundsätzlich der Aufbau von Lesestrategien, die die Informationsverarbeitung durch das Elaborieren und Organisieren des Gelesenen unterstützen (Seuring & Spörer, 2010). Hierzu zählen die Aktivierung von Hintergrundwissen, das Zusammenfassen von Abschnitten, das Unterstreichen relevanter Passagen, das Generieren von Fragen zum Text sowie das Treffen von Vorhersagen (ebd.). Je nach Programm bzw. Methode (bspw. Peer-Assisted Learning Strategies: Fuchs et al., 2001; Story Mapping: Smith, Boon, Stagliano & Grünke, 2011; Concept Oriented Reading Instruction: Guthrie et al., 1998) und adressierter Textart variieren die eingesetzten Strategien und Vorgehensweisen.

Eine der prominentesten Leseverständnisfördermethoden ist das Reciprocal Teaching bzw. Reziproke Lehren (Palincsar & Brown, 1984). Hierbei werden Texte schrittweise in Kleingruppen oder Lerntandems erarbeitet, indem nach dem Lesen eines Abschnitts unbekannte Wörter geklärt werden, der Abschnitt zusammengefasst wird, mögliche Verständnisfragen besprochen und weitere Textinhalte vorhergesagt werden. Pro Textabschnitt (oder Lesetext) übernimmt eine Person die Leitung und führt durch die einzelnen Schritte, während die verschiedenen Aufgaben von den restlichen Personen übernommen werden. Über diesen Weg wird die Beteiligung Aller am Geschehen sichergestellt und eine systematische Vorgehensweise zur Texterschließung durch wiederholte Anwendung eingeübt (Spörer, Demmrich &Brunnstein, 2014). Rosenshine und Meister (1994) bestätigen in ihrer Metaanalyse (16 Studien) die Wirksamkeit des Reziproken Lehrens gegenüber dem herkömmlichen Unterricht in standardisierten (d = 0.32) und selbstkonstruierten (d = 0.88) Lesetests. In einer im deutschsprachigen Raum durchgeführten Evaluationsstudie mit 210 Grundschulkindern untersuchten Spörer, Brunstein und Kieschke (2009) die Effektivität in Kleingruppen und Tandems und konnten den Fördererfolg für beide Umsetzungsformen bestätigen.

Cliffhanger als gewinnbringendes Stilmittel bei der Leseförderung?

Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Durchführung von Leseverständnisförderungen ist der Einsatz adäquater Lesematerialien. Textform, -gestaltung und -schwierigkeit sind hier wesentliche Indikatoren, die bei der Auswahl berücksichtigt werden sollten. Basiert die Intervention wie beim Reziproken Lehren auf der abschnittsweisen Durcharbeitung eines Textes, ist außerdem die Einteilung in Abschnitte nicht ganz trivial. Für Lehrkräfte oder Forschende ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, Texte in Sinnabschnitte zu unterteilen. Nach eigenen Recherchen finden sich gewinnbringende Hinweise zur Art und Weise einer möglichst sinnvollen Vorgehensweise hierbei jedoch in keiner einzigen Originalarbeit zum Reziproken Lehren. Diese Fragestellung ist aber vermutlich nicht ganz irrelevant, da die eingesetzten Strategien (bspw. Textinhalte vorhersagen) schließlich immer auf einen bestimmten Abschnitt angewendet werden. Das abschnittsbezogene Ausharren dürfte unterschiedliche kognitive Zustände evozieren – zum Beispiel in Abhängigkeit davon, wie der jeweilige Abschnitt vor dem Hintergrund der Fortführung einer Erzählung endet.

Ein literarisches Stilmittel, das in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen könnte, sind Cliffhanger. Cliffhanger sind spannungsreiche Handlungsunterbrechungen, die häufig im Rahmen von Fortsetzungsromanen aber auch bei Fernsehserien oder mehrteiligen Kinofilmen zum Einsatz kommen und somit zum Kauf der Fortsetzung oder zum Besuch der Folgeveranstaltung animieren (Wortwuchs, 2021). Überträgt man dieses Konzept auf die Einteilung von Lesetexten, könnten Cliffhanger am Ende von Sinnabschnitten dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler eine höhere Lesefreude erleben und angeregt werden, über die Inhalte der nachfolgenden Abschnitte zu spekulieren, was vielleicht auch einen Einfluss auf deren Erinnerung an die Textinhalte nehmen könnte.

Obgleich die Wirkung von Cliffhangern den meisten Menschen bekannt sein dürfte, liegen Evaluationsstudien hierzu kaum vor. Assoziiert wird das Stilmittel oftmals (bspw. in Jeup, 2009) mit dem sogenannten Zeigarnik-Effekt (Zeigarnik, 1927). Diesem liegt die Annahme zugrunde, dass unerledigte Aufgaben eine Spannung im Gedächtnis erzeugen und somit besser erinnert werden können, als abgeschlossene. Erste Hinweise zur Gültigkeit dieser Aussage wurden von Zeigarnik (1927) durch eine Reihe von Versuchen zwischen 1924 und 1926 mit insgesamt 164 Studierenden, Lehrkräften und Kindern geliefert. Hierbei sollten die Probandinnen und Probanden verschiedene handwerkliche und mentale Aufgaben absolvieren, die sie zur Hälfte beenden konnten. Die andere Hälfte der Aufgaben wurden vor der Fertigstellung abgebrochen. Anschließend wurde erfragt, an welche Aufgaben sich die Teilnehmenden erinnern. Als Indikator für den Einfluss erledigter vs. unerledigter Aufgaben auf die Erinnerung wurde der Quotient aus behaltenen unerledigten und behaltenen erledigten Aufgaben betrachtet. Im Schnitt resultierte ein Quotient von 1.9 – die Probandinnen und Probanden konnten also unerledigte Aufgaben zu 90% besser behalten als erledigte (Zeigarnik, 1927). Neben diesen deskriptiven Ergebnissen liegen noch einige weitere (teilweise eher diffuse) Untersuchungen zum Zeigarnik-Effekt vor, die die Gültigkeit aber oftmals in Frage stellen (z.B. Kiebel, ohne Jahr), sodass es sich hierbei scheinbar um ein eher unzuverlässiges Phänomen handelt.

Fragestellungen

Insgesamt ist die Forschungslage zur Wirkung von Cliffhangern sehr dürftig und beschränkt sich in erster Linie auf den assoziierten Zeigarnik-Effekt. Untersuchungen im Rahmen von Leseverständnisförderungen liegen überhaupt nicht vor. Aufgrund der schwachen theoretischen und empirischen Basis wird die aktuelle Untersuchung daher explizit als Pilotstudie deklariert. Es ergeben sich folgende Forschungsfragen:

Lesefreude

Wirkt sich der Einsatz von Cliffhangern im Rahmen einer Leseverständnisförderung positiv auf die Lesefreude von Grundschulkindern aus?

Cliffhanger dienen dazu, die Neugier für den Fortgang einer Erzählung anzuregen. Da keine hierzu (aussagekräftigen) empirischen Studien gefunden wurden, wird lediglich auf Basis einer Alltagsevidenz davon ausgegangen, dass sich die Einteilung einer kurzen Erzählung in Sinnabschnitte, die jeweils mit einem Cliffhanger enden, günstiger auf die Lesefreude auswirkt, als eine Einteilung in Abschnitte ohne Cliffhanger.

Erinnerung an Textinhalte

Wie wirkt sich der Einsatz von Cliffhangern im Rahmen einer Leseverständnisförderung auf die Erinnerung an Textinhalte von Grundschulkindern aus?

Während Effekte im motivational-emotionalen Bereich durchaus auch ohne vorhandene Forschungsergebnisse unterstellt werden können, sind positive Wirkungen auf die Lernleistung nicht ohne Weiteres zu postulieren.

Aus den Befunden zum Zeigarnik-Effekt lässt sich nur sehr schlecht ableiten, dass Cliffhanger die Erinnerung an gelesene Textinhalte positiv beeinflussen. Zudem fallen die Forschungsbefunde hierzu inkonsistent aus.

Ein weiteres assoziierbares Forschungsfeld ist die Curiosity-Forschung (Loewenstein, 1994). In einer Studie mit 97 Probandinnen und Probanden konnten Wade und Kidd (2019) zeigen, dass eine themenspezifische Neugier in schwacher Verbindung mit besseren Lernleistungen zu stehen scheint (β = .26). Da Cliffhanger darauf abzielen, die Neugierde zu wecken, könnte hiermit also ggf. auch eine lernförderliche Wirkung einhergehen.

Zuletzt bietet die Cognitive Load Theory (Sweller, Van Merriënboer & Paas, 1998) einen theoretischen Zugang, der jedoch gegen eine bessere Erinnerung im Falle der Verwendung von Cliffhangern spricht. Bei der Cognitive Load Theory wird angenommen, dass das Arbeitsgedächtnis einen Flaschenhals beim Wissenserwerb darstellt, weshalb bei der Gestaltung von Lernmaterialien insbesondere für schwache Lernende darauf geachtet werden sollte, eine Arbeitsgedächtnisbelastung aufgrund eines ungünstigen Instruktionsdesigns (Extraneous Cognitive Load) zu vermeiden. Die Einteilung eines Erzähltextes in Abschnitte, die mit Cliffhangern enden, könnte einen solchen ungünstigen Effekt jedoch evozieren. Die erzeugte Spannung, das angeregte Spekulieren über den Fortgang der Geschichte und die schwer zu verarbeitenden unabgeschlossenen Handlungsstränge beanspruchen möglicherweise zusätzliche kognitive Ressourcen, was die Verarbeitung der tatsächlichen Textinhalte erschwert.

Aufgrund der konkurrierenden Theorien wird im Hinblick auf die Erinnerung an Textinhalte keine gerichtete Hypothese formuliert.

Methoden

Stichprobe

An der Studie nahmen zwei dritte, sieben vierte und drei jahrgangsgemischte Klassen aus acht Grundschulen in Nordrhein-Westfalen teil. Unter anderem bedingt durch die Corona-Pandemie konnten jedoch nicht von allen Erziehungsberechtigten die Einverständnisse für die Studienteilnahme eingeholt werden. Somit ergab sich eine Stichprobe von insgesamt n = 109 Schülerinnen und Schülern. Eine Darstellung der demografischen Daten findet sich in Tabelle 1.

Tabelle 1 Demografische Angaben zur Stichprobe

Durchführung

Die Studie wurde von insgesamt 4 Versuchsleitenden im Sommer 2021 durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler einer Klasse wurden zunächst individuell per Zufall in eine Cliffhanger- und eine Kontrollgruppe eingeteilt. Danach erfolgten die Umsetzung der Leseförderung und die anschließende Befragung im eins-zu-eins-Setting. Durch die alternierende Randomisierung wurde jeweils ca. die Hälfte der teilnehmenden Kinder einer Schulklasse mit dem Cliffhanger-Text und die andere Hälfte mit dem Text ohne Cliffhanger gefördert und zwar von derselben Versuchsleiterin bzw. demselben Versuchsleiter. Durch diese Vorgehensweise wurde versucht, Klassen- und Versuchsleitendeneffekte hinsichtlich der Kontrastierung beider Gruppen auszuschließen.

Da die Untersuchung als Pilotstudie angelegt war, umfasste die Förderung lediglich eine Sitzung à ca. 10 Minuten mit einer unmittelbar anschließenden Befragung (auch ca. 10 Minuten). Den Kindern wurden die Textabschnitte jeweils auf einem separaten Blatt vorgelegt. Zunächst sollten sie den Abschnitt laut vorlesen. Danach wurden ggf. unbekannte Wörter und Verständnisfragen geklärt. Anschließend überlegten die Kinder, wie die Geschichte wohl weitergehen könnte. Erst dann wurde der nächste Abschnitt präsentiert. Die Strategien Zusammenfassen und potentielle Wissensfragen stellen, die beim Reziproken Lehren normalerweise ebenfalls erfolgen, wurden nicht umgesetzt.

Nach dem Durcharbeiten aller Abschnitte schloss die Befragung an. Den Kindern wurden zunächst Fragen zu ihrer Person (Alter, Lesegewohnheiten etc.) gestellt. Anschließend wurden sie zur zuvor erlebten Lesefreude befragt. Fragen zu den Inhalten der Geschichte folgten bewusst erst ganz am Ende, um verzerrende Wirkungen auf die Lesefreude auszuschließen.

Lesematerial

Als Lesematerial kam ein kurzer Erzähltext mit drei inhaltlichen Episoden zum Einsatz, deren Lesbarkeitsindex (LIX; Björnsson, 1968) bei 26.6 liegt. Der LIX kann als Indikator für die ungefähre Beurteilung der Schwierigkeit eines Lesetextes hinzugezogen werden, wobei ein Wert unter 40 in etwa dem Anspruch von Kinder- und Jugendliteratur entspricht (Lenhard & Lenhard, 2014). Es wurde bewusst ein sehr leichter Text verwendet, damit auch schwache Leserinnen und Leser an der Untersuchung partizipieren konnten. In der Cliffhanger- und Kontrollgruppe kam exakt derselbe Text zum Einsatz (vgl. Abbildung 1). Der einzige Unterschied in beiden Versionen betrifft die Einteilung der Geschichte in fünf Abschnitte, die in der Cliffhanger-Version zu vier spannungsreichen Handlungsunterbrechungen führt. In der Kontrollgruppe wird die kurzzeitig aufgebaute Spannung noch im Abschnitt aufgelöst.

Abbildung 1 Einteilung des Erzähltextes (blau: Cliffhanger, orange: keine Cliffhanger).

Instrumente

Lesefreude

Die Lesefreude wurde anhand von sechs Fragen erfasst (bspw. „War die Geschichte spannend für dich?“), die auf einer vierstufigen Likert-Skala (0 = stimmt nicht, 1 = stimmt kaum, 2 = stimmt ziemlich, 3 = stimmt genau) von den Kindern beantwortet wurden. Für die Auswertung wurde der Mittelwert über alle sechs Fragen gebildet (Range: 0–3). Die interne Konsistenz liegt bei Cronbach's α = .63.

Erinnerung an Textinhalte

Die Erinnerungen an die Inhalte der Erzählung wurden mit Hilfe zwölf offener Fragen zu den verschiedenen Textabschnitten überprüft (bspw. „Wer kam in die Küche, als Jonas und Annika unter der Bank saßen?“). Die Fragen bezogen sich ausschließlich auf den Text und konnten in diesem explizit lokalisiert und somit wörtlich wiedergegeben werden, ohne dass hierfür Vorwissen oder die Herstellung von Beziehungen zwischen einzelnen Textteilen erforderlich waren. Im Lesekompetenzmodell von IGLU (Hußmann et al., 2016), dass grundlegend zwischen den beiden Dimensionen „Nutzung von textimmanenter Information“ und „Heranziehen externen Wissens“ unterscheidet, lässt sich das Anforderungsniveau des Lesetests somit der ersten Dimension und deren Subskala „unabhängige Einzelinformationen nutzen“ zuordnen. Für die Auswertung wurde der prozentuale Anteil richtig gelöster Fragen berechnet (Range: 0–100%). Die interne Konsistenz liegt bei Cronbach's α = .60.

Kontrollvariablen

Als Kontrollvariablen wurden das Geschlecht, das Alter, die zuhause gesprochene Sprache (meistens Deutsch, gleichhäufig Deutsch und eine andere Sprache, meistens eine andere Sprache) und das Leseverhalten daheim (Liest du zuhause viel? 0 = stimmt nicht, 1 = stimmt kaum, 2 = stimmt ziemlich, 3 = stimmt genau) erfragt.

Statistik

Die Schülerinnen und Schüler wurden zwar auf individueller Ebene randomisiert den beiden Versuchsbedingungen zugewiesen. Der Stichprobe unterliegt aber dennoch eine Nestung in Schulklassen. Da die Anzahl der Klassen für eine Mehrebenenanalyse zu gering ist, wurden in R mit Hilfe des lavaan-Packets (Rosseel, 2012) Regressionsanalysen mit einer Standardfehlerkorrektur gerechnet. Hierbei werden die Standardfehler konservativer geschätzt, als bei einer herkömmlichen Regressionsanalyse.

Für jede Fragestellung wurde ein eigenes Regressionsmodell gerechnet. Statistisch kontrolliert wurde für das Geschlecht, das Alter, die daheim gesprochene Sprache und das Leseverhalten daheim. Alle metrischen Variablen (Lesefreude, Texterinnerung, Alter, Leseverhalten daheim) wurden z-standardisiert. Da nur ein sehr geringer Anteil der Kinder angab, zuhause meistens eine andere Sprache als Deutsch zu sprechen, wurden die beiden Kategorien „gleichhäufig Deutsch und eine andere Sprache“ und „meistens eine andere Sprache“ zusammengefasst.

Ergebnisse

In Tabelle 2 findet sich ein Überblick zur deskriptiven Statistik. Die Mittelwertvergleiche sprechen jeweils mit schwachen Effekten (Cohen's d) dafür, dass Kinder der Cliffhangergruppe die erlebte Lesefreude höher einschätzen als Kinder der Kontrollgruppe, die sich hingegen scheinbar besser an die Textinhalte erinnern konnten.

Tabelle 2 Deskriptive Ergebnisse

In Tabelle 3 sind die Ergebnisse der Regressionsanalye mit Standardfehlerkorrektur abgebildet. Es ergeben sich unter Berücksichtigung der Kontrollvariablen signifikante Einflüsse der Interventionsbedingung auf beide abhängigen Variablen. Und zwar wie zuvor im Falle der Lesefreude zu Gunsten und im Falle des Textverständnisses zu Ungunsten der Cliffhanger-Bedingung.

Tabelle 3 Ergebnisse der Regressionsanalyse mit Standardfehlerkorrektur

Ergänzend ist noch zu erwähnen, dass in den 12 Fragen zum Textverständnis auch vier Fragen zu den vier spannungsreichen Handlungsunterbrechungen der Cliffhangergruppe (vgl. Abbildung 1) enthalten waren. Hier unterscheiden sich beide Gruppen in den Ergebnissen nicht.

Diskussion

Beantwortung der Fragestellungen

Die Annahme, dass sich die Einteilung einer kurzen Erzählung in Sinnabschnitte, die jeweils mit einem Cliffhanger enden, günstiger auf die Lesefreude auswirkt, als eine Einteilung in Abschnitte ohne Cliffhanger, kann auf Basis der empirischen Ergebnisse bestätigt werden. Kinder der Cliffhangergruppe schätzten die erlebte Lesefreude signifikant und schwach höher ein, als Kinder der Kontrollgruppe. Es bestätigt sich also die zuvor aus einer Alltagsevidenz heraus formulierte Vermutung.

Im Hinblick auf die Erinnerung an Textinhalte scheinen Cliffhanger am Ende von Sinnabschnitten den korrekten Wissensabruf zu erschweren. Kinder der Kontrollgruppe ohne Cliffhanger konnten die Fragen zum Erzähltext mit einem schwachen Effekt signifikant besser beantworten. Vor diesem Hintergrund scheint die Vermutung, dass Cliffhanger einen zusätzlichen Extraneous Cognitive Load (vgl. Sweller et al., 1998) verursachen und somit kognitive Ressourcen, die für die Speicherung der Textinhalte notwendig wären, beanspruchen, am wahrscheinlichsten.

Bemerkenswert an den Befunden ist, dass in beiden Gruppen vom ersten Buchstaben bis zum letzten Punkt exakt derselbe Text zum Einsatz kam. Lediglich die präsentierten Sinnabschnitte variierten.

Limitationen

Über das methodische Vorgehen (Durchführung der Förderung mit den Versuchsleitenden im eins-zu-eins-Setting, randomisierte Zuweisung der Schulkinder auf die Bedingungen) konnte zwar ein Studiendesign mit einer hohen internen Validität realisiert werden. Es ergeben sich aber dennoch einige Limitationen:

Erstens lassen sich die Befunde nur auf die eingesetzte Erzählung übertragen. Perspektivisch wäre es notwendig, diese auch mit weiteren Geschichten zu replizieren, die literarisch betrachtet auch durchaus anspruchsvoller sein dürften. Im Sinne des Pilotcharakters wurde bewusst eine sehr simple Textform gewählt. Es lässt sich außerdem keine Aussage darüber treffen, ob auch grundsätzlich die Lesefreude oder das Leseverständnis besser bzw. schlechter durch die Umsetzung des Reziproken Lehrens mit Cliffhangertexten gefördert werden kann.

Zweitens ist die externe Validität der Studie deutlich eingeschränkt. Zweifelhaft bleibt, ob sich im realen Schulsetting (bspw. Anwendung der Förderung im Rahmen des Kooperativen Lernens oder des Peer-Tutorings) ähnliche Effekte ergeben.

Drittens wurde statistisch nicht ausreichend für die Lesekompetenz der Kinder kontrolliert. Approximiert wurden die Lesegewohnheiten daheim und die zuhause vorrangig gesprochene Sprache erfasst. Perspektivisch sollte zusätzlich auf jeden Fall ein valides Lesekompetenzscreening eingesetzt werden. Es ist zu vermuten, dass die Lesekompetenz den Cliffhanger-Effekt moderiert, da stärkere Lesende die Textinhalte besser erfassen können und die Wirkung der Textunterbrechungen somit stärker sein dürfte. Damit einhergehend sollten auch differenziertere Lesetests zur Messung der abhängigen Leseverständnis-Variable herangezogen werden. In der Studie wurde nur eine Dimension des Lesekompetenzmodells von IGLU (Hußmann, 2016) erfasst. Die erfasste Kompetenz ist somit als sehr basal zu beurteilen.

Viertens wurde nicht das Arbeitsgedächtnis der Kinder getestet. Sollte die Hypothese zutreffen, dass Cliffhanger zusätzliche kognitive Ressourcen beanspruchen und somit die Texterinnerung der Kinder behindern, dürfte der Zusammenhang durch die Arbeitsgedächtniskapazität der Kinder moderiert werden.

Fünftens wurde die Lesedauer nicht gestoppt. Nach subjektiver Angabe der Versuchsleitenden unterschieden sich Kinder beider Gruppen hinsichtlich der Bearbeitungsdauer nicht. Dennoch wäre die Dauer der Förderung gerade im Hinblick auf die Wirkung auf das Textverständnis eine wichtige Kontrollvariable.

Vor dem Hintergrund der aufgeführten Limitationen sollten die Befunde der Pilotstudie in einer Folgestudie zunächst mit verschiedenen Lesematerialien repliziert werden. Dabei sollten mindestens die zuvor benannten Variablen zusätzlich erfasst werden. In einem nächsten Schritt wäre eine Untersuchung im Feld angebracht, die die Wirkung variierender Texteinteilungen auch im Längsschnitt beleuchtet.

Relevanz für die Praxis

Implikationen für die Praxis sind aus den Studienergebnissen nicht ohne Weiteres abzuleiten. Sollten sich die hiesigen Ergebnisse auch im Feld replizieren lassen, resultiert hieraus ein gewisses Dilemma, da der Einsatz von Cliffhangern – zumindest wie in der aktuellen Studie umgesetzt – einerseits die Lesefreude steigern könnten, andererseits die Erinnerung an Textinhalte aber möglicherweise erschwert. Bevor jedoch keine belastbaren Replikationsstudien publiziert wurden, ist eine Aussage hierzu nicht sinnvoll.

Insgesamt kann aber dennoch vermutet werden, dass dem Lesematerial eine größere Bedeutung zukommt, als es die dürftigen Darstellungen in bisherigen Studien zur Leseverständnisförderung (bspw. zum Reziproken Lehren) vermuten lassen. In Zukunft wäre es daher wünschenswert, wenn Forschende die Lesematerialanalyse stärker in den Blick nehmen, um Lehrkräften für die Umsetzung von Förderkonzepten konkretere Hinweise zu geeigneten Lesematerialien an die Hand geben zu können.

Literatur