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Ein Jahrhundert Dorsch Lexikon der Psychologie

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000515

Als Fritz Giese 1921 sein Psychologisches Wörterbuch veröffentlichte, schrieb er im Vorwort: „Ein psychologisches Wörterbuch besteht bisher in deutscher Sprache nicht“ (S. 1). Das Wörterbuch solle als Hilfsmittel bei der Einführung in die Psychologie, beim Lesen psychologischer Werke und Zeitschriften dienen. „Vor allem will es den […] psychologischen Praktikern […] das Mindestmaß an Kenntnissen bieten“ (S. 1). Die geringen Vorkenntnisse der „psychologischen Praktiker“ erklären sich damit, dass diese meist Ingenieure waren. Die Psychotechnik expandierte und mit ihr wuchs die Anzahl psychologisch nicht vorgebildeten Psychotechniker. Der Abschluss mit einer Promotion in einer philosophischen Fakultät war zwar möglich; dieses Studium wurde aber allgemein nicht als berufsqualifizierend angesehen.

Abbildung 1 Dorsch Lexikon der Psychologie

Giese (1890 – 1935) hatte in Berlin, Halle und Tübingen studiert. Das Wörterbuch erschien mit Copyrightvermerk 1920 im Kleinformat. Es hatte 170 Seiten und behandelte meist knapp 1.646 Stichwörter. Neben den Sachbegriffen aus Psychologie und Nachbargebieten gab es gut 60 Eintragungen zu Persönlichkeiten, darunter aber noch keine einzige Frau. 60 Abbildungen waren enthalten, etwa ein Dutzend zeigte psychotechnische Geräte, von denen Giese einige selbst entwickelt hatte. Die zweite Auflage erschien 1928 in korrigierter und etwas erweiterter Form. Ergänzt wurden u. a. Stichwörter wie „Behavio‍(u)‌rismus“ und „geisteswissenschaftliche Psy.“. Fritz Giese starb 1935 mit nur 45 Jahren an den Folgen einer Operation. Noch vor seinem Tod hatte er Veränderungen für die dritte, erweiterte Auflage des Wörterbuchs (1935) vorbereitet.

Erst 1950 erschien eine Neuauflage, nun unter dem Titel Dorsch-Giese Psychologisches Wörterbuch, begründet von Dr. Fritz Giese, neubearbeitet von Dr. Friedrich Dorsch (Dorsch & Giese, 1950). Dorsch (1896 – 1987), früherer Mitarbeiter und Kollege von Giese, hatte in Freiburg und Basel studiert, war vor allem bei Arbeitsämtern tätig, unterrichtete 1947 – 1971 auch als Lehrbeauftragter für angewandte Psychologie an der Universität Tübingen (Häcker & Stapf, 2013). Das Wörterbuch war nun mit fast 300 Seiten wesentlich umfassender. Die meisten Abbildungen aus der Psychotechnik waren verschwunden, andere waren hinzugekommen. Etwas überraschend war, dass Dorsch sämtliche Eintragungen zu Personen entfernt hatte, da er sie ungenügend fand. Da die einzelnen Eintragungen des Wörterbuchs nicht namentlich gekennzeichnet waren, lässt sich nur durch Vergleiche der dritten (1935) und vierten (1950) Auflage erkennen, ob die Beiträge von Fritz Giese oder Friedrich Dorsch stammen. Buchbesprechungen und Erinnerungen von Zeitzeugen machen deutlich, dass die Auflage von 1950 als Gewinn für die Psychologie der damaligen Zeit gewertet wurde.

Giese und Dorsch hatten als Praktiker für den interessierten Nichtfachmann geschrieben. Gebraucht wurde aber inzwischen ein Nachschlagewerk, das auf dem Stand der Wissenschaft war und auch für Studierende der Psychologie im Diplomstudiengang als Orientierung dienen konnte. Um diese Neuorientierung zu erreichen, waren erhebliche Veränderungen erforderlich, u. a. die stärkere Berücksichtigung der Forschung und Fachliteratur, besonders der amerikanischen Einflüsse und die Einbeziehung mathematisch-statistischen Methoden. Friedrich Dorsch, Rudolf Bergius (1914 – 2004) und Werner Traxel (1924 – 2009) bemühten sich darum, die neueren Entwicklungen angemessen zu berücksichtigen. So entstand die 6. Auflage von 1959 als vollkommene Neubearbeitung; es gab einen Testanhang mit über 500 Testbeschreibungen, einen umfangreichen sog. mathematischen Anhang von Wilhelm Witte (1915 – 1985), und es gab einen bibliographischen Anhang. Diese Überarbeitung machte das Wörterbuch in Teilen zu einem Handbuch.

Der Dorsch, wie er allgemein genannt wurde, durchlief in diesen Jahren zwei grundlegende Veränderungen: Aus dem Nachschlagewerk für Praktiker wurde ein fachwissenschaftliches Lexikon. Außerdem wurde aus dem Autorenwerk ein Herausgeberwerk, an dem bald mehrere hundert AutorInnen mitwirkten. Hierdurch wurde der Dorsch das führende Lexikon. Schon durch diese Autorenschaft unterscheidet sich der Dorsch z. B. vom heutigen Internetlexikon Wikipedia, dessen Autorenschaft meist unbekannt ist.

Die 19 Auflagen über fast ein ganzes Jahrhundert sind zu einer lohnenden Quelle der Psychologiegeschichte geworden. Die Durchsicht der früheren Auflagen lässt Wachstum und Wandel der Psychologie erkennen. Wann wurden neue Begriffe erstmals erklärt? Hier eine Auswahl: „Psychotechnik“ (1921), „Rechtspsychologie“ (1950), „Feldtheorie“, „Hawthorne-Untersuchung“, „psychische Sättigung“ (1959), „Soziometrie“ (1963), „Pygmalion-Effekt“, „Reaktanz“, „Trigramm“, „Yerkes-Dodson-Gesetz“ (1976), „foot-in-the-door-technique“, „Hodometer“, „künstliche Intelligenz“, „Milgram-Experiment“, „Repression-Sensitization“ (1982) „Burnout“, (1994), „Mobbing“, „NLP“ (1996), „Big Five“, „Resilienz“, „Rubikon-Modell“ (2013). Gelegentlich ist man überrascht: So wurde der Begriff „Frustration“ erst 1959 aufgenommen. Er war noch in den sechziger Jahren in der deutschsprachigen Psychologie ungebräuchlich; heute gehört er zur Umgangssprache. Aus der Erstauflage (Giese, 1921) sind dagegen schon sehr bald einige Begriffe verschwunden: „Flaschenorgel“, Fratzentraum“, „Gentil-Staat“, „Oberbewußtsein“, „Romberg-Syndrom“, „Rückenmarkseele“, „Rückschlaggesetz“. Solche Begriffe sind heute in der Psychologie kaum noch zu finden.

Halten wir fest: Der Dorsch hat Zeiten der großen Inflation, die Nazizeit und die Nachkriegszeit überstanden. Ablesbar sind die Schwierigkeiten der ersten Jahrzehnte an häufigem Verlagswechsel und wechselnder Buchausstattung. Dagegen steht die erstaunliche Kontinuität durch nur wenige Herausgeber über fast ein Jahrhundert. Zum Erfolg der letzten Jahre trugen die Mitwirkung vieler Fachleute, der Gebietsexperten, das häufigere Erscheinen und seit 2013 die Verfügbarkeit als Online-Lexikon bei (Wirtz, 2013). So hat ein Lexikon in Buchform auch in Zeiten der Digitalisierung seine Berechtigung.

Verfasser: Prof. em. Dr. Helmut E. Lück, FernUniversität in Hagen, Fakultät für Psychologie,

Literatur

  • Dorsch, F. & Giese, F. (Hrsg.). (1950). Dorsch-Giese Psychologisches Wörterbuch (begründet von Dr. Fritz Giese, neubearbeitet von Dr. Friedrich Dorsch). Halle: Carl Marhold. Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgemeinschaft e.V. Tübingen im Verlag Dr. M. Matthiesen & Co. KG., Tübingen. Google Scholar

  • Giese, F. (1921). Psychologisches Wörterbuch. Leipzig / Berlin: B. G. Teubner. Google Scholar

  • Häcker, H. O. & Stapf, K.-H. (2013). Zur Geschichte des Dorsch. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch Lexikon der Psychologie (unter Mitarbeit v. J. Strohmer, 16. Aufl., S. 13 – 16). Bern: Hans Huber. Google Scholar

  • Wirtz, M. A. (Hrsg.). (2013). Dorsch Lexikon der Psychologie (unter Mitarbeit v. J. Strohmer, 16. Aufl.). Bern: Hans Huber. CrossrefGoogle Scholar