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Free AccessStudium und Lehre

Gute wissenschaftliche Praxis „hands-on“

Ein Kerncurriculum für Empirische Praktika

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000590

Das „Experimentalpsychologische Praktikum“ oder „Empiriepraktikum“ (im Folgenden als „E-Pra“ abgekürzt) ist nicht erst seit der reformierten Approbationsordnung im Zuge der Psychotherapieausbildungsreform ein Pflichtmodul im Bachelorstudium Psychologie und für Studierende meist die erste Möglichkeit, theoretisch erworbenes Wissen über die Praxis der Forschung selbst anzuwenden. Es dient somit als Blaupause für nachfolgende empirischen Arbeiten. Gleichzeitig ist das E-Pra jedoch mit didaktischen und organisatorischen Herausforderungen verbunden, da die Veranstaltung aufgrund der Kleingruppenstruktur in der Regel in Parallelkursen von unterschiedlichen und über die Zeit wechselnden Dozierenden angeboten wird. Wie kann es gelingen, dennoch ein in sich stimmiges, über Kurse hinweg vergleichbares Lehrkonzept sicherzustellen?

Eine Möglichkeit stellt die Etablierung eines Kerncurriculums dar. In diesem sind Inhalte definiert, die von allen Dozierenden in ihren Kursen behandelt werden sollen. Bei aller wünschenswerter Heterogenität, etwa was die Inhalte oder Datenerhebungs- und Analysemethoden angeht, hat ein Kerncurriculum den Vorteil, ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen den Kursen zu ermöglichen und so zur Qualitätssicherung in der Lehre beizutragen.

Im Folgenden wollen wir aufzeigen, wie ein solches Kerncurriculum aussehen kann. Wir stützen uns dabei auf Erfahrungen, die wir mit einem solchen Kerncurriculum am Department Psychologie der LMU München gemacht haben. Die Kernkompetenzen, die hier im Vordergrund stehen, beziehen sich dabei auf methodische und forschungsethische Aspekte. Daneben gibt es natürlich noch viele weitere Kompetenzen, die es wert wären, im E-Pra behandelt, vertieft und eingeübt zu werden (Bröder, 2011).

Vorschlag für ein Kerncurriculum

Das Kerncurriculum für E-Pras sollte aus unserer Sicht zwei Aspekte umfassen. Erstens sollten gezielt jene Praktiken eingeübt werden, die dem aktuellen Verständnis von Forschungstransparenz, Reproduzierbarkeit und guter wissenschaftlicher Praxis entsprechen. Zweitens sollten die Studierenden für Fragen der Forschungsethik einschließlich eines verantwortungsvollen und rechtskonformen Umgangs mit Daten sensibilisiert werden. Dass die Vermittlung dieser Kompetenzen von den Studierenden auch aktiv eingefordert wird, zeigen die Empfehlungen der Open Science AG der Psychologie-Fachschaften-Konferenz, die sich dafür aussprechen, empirische Projekte als Lernort „einer offenen, reproduzierbaren Arbeitsweise“ zu begreifen (Brachem et al., 2022). Im Folgenden wollen wir fünf inhaltliche Bestandteile für ein E–Pra-Kerncurriculum vorschlagen.

(1) Stichprobenplanung

Eine Stichprobenplanung ist ein Kernelement eines guten Forschungsprozesses. Bei konfirmatorischer Forschung ist dies in der Regel eine a-priori Poweranalyse, welche die Anzahl der benötigten Versuchspersonen (und ggf. Trials) ermittelt, um einen angenommenen Effekt (dessen Festlegung natürlich seinerseits begründungspflichtig ist) mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit zu entdecken. Dabei sollte eine plausible Stichprobenplanung eingeübt werden, indem mit realistischen Effektstärken gearbeitet wird und nicht durch einen zu groß spezifizierten, unplausiblen Effekt das n bewusst auf ein E-Pra-taugliches Format kleingerechnet wird. Die Kernkompetenz beinhaltet (hier am Beispiel einer a-priori Poweranalyse), (a) begründet die erwartete oder minimal interessierende Effektstärke zu wählen, (b) die Stichprobenplanung praktisch durchzuführen und kritisch zu reflektieren und (c) diese reproduzierbar zu dokumentieren.

(2) Präregistrierung

Auch das Explizieren der zu testenden Hypothesen, der verwendeten Operationalisierungen, der anzuwendenden Ausschlusskriterien und der durchzuführenden statistischen Analysen stellt eine Kompetenz dar, die geübt werden muss. Durch eine Präregistrierung dieser Aspekte vor der Datenerhebung kann problematischen Forschungspraktiken (z. B. p-hacking, HARKing) entgegengewirkt werden. Die Kernkompetenz beinhaltet, (a) unabhängig von den Ergebnissen strukturiert über die zu treffenden Entscheidungen nachzudenken und (b) Argumente für die gewählten Alternativen in einem Präregistrierungsdokument festzuhalten. Die DGPs hat in Zusammenarbeit mit anderen Fachgesellschaften und dem ZPID eine Vorlage für Präregistrierungen erarbeitet, welche wir zur Anwendung im E-Pra empfehlen1. Zudem sollen Studierende (c) für die Notwendigkeit einer konzeptuellen Trennung zwischen konfirmatorischen und explorativen Analysen sensibilisiert werden. Im Sinne der Lernerfahrung ist es wünschenswert, wenn (d) im Rahmen des E–Pras die Dozierenden mindestens eine echte Präregistrierung auf einer öffentlichen Plattform anleiten und so der Arbeitsablauf für die Studierenden demonstriert wird.

(3) Offene Forschungsdaten mit Codebuch

Die Bereitstellung offener Forschungsdaten – immer unter Berücksichtigung und Abwägung des Datenschutzes, siehe Punkt 5 – ist als Merkmal vertrauenswürdiger Forschung anerkannt und wird zunehmend von Geldgebern und Zeitschriften eingefordert. Entsprechend sollen die Studierenden dafür sensibilisiert werden, dass die Bereitstellung von Forschungsdaten ein Element zur Reproduzierbarkeit von Analyseergebnissen darstellt. Als wichtige Kernkompetenz wird dabei vermittelt, (a) die Daten im Sinne der FAIR-Kriterien (findable, accessible, interoperable, reusable) und der Empfehlungen der DGPs zum Datenmanagement (Gollwitzer et al., 2021) aufzubereiten und (b) mit Codebuch und Metadaten so zu dokumentieren, dass eine Nachnutzung möglich ist. Im Rahmen des E-Pra-Abschlussberichts sollen (c) Daten und Dokumentation in einem geeigneten Repositorium bereitgestellt werden.

(4) Reproduzierbare Analyseskripte

Bereitgestellte Skripte (z. B. R-Skripte, SPSS-Syntax) ermöglichen es, gemeinsam mit den Forschungsdaten Analysen zu reproduzieren und die im Manuskript berichteten Ergebnisse auf ihre Reproduzierbarkeit hin zu überprüfen. In diesen Skripten sollte nachvollziehbar dokumentiert werden, was und wie tatsächlich gerechnet wurde. Die zu vermittelnde Kernkompetenz beinhaltet (a) den Umgang mit Skripten einzuüben und (b) eine nachvollziehbare Kommentierung im Code sowie (c) eine (Meta–)‌Dokumentation der Skripte in einer README-Datei vorzunehmen. Diese sollte alle Informationen bereitstellen, damit die Skripte reibungslos auf den bereitgestellten Daten durchlaufen (z. B. Information über Versionsnummer der eingesetzten R-Pakete). Bei entsprechenden zeitlichen Ressourcen können auch (d) weiterführende Tools für einen reproduzierbaren Ergebnisbericht demonstriert werden, wie zum Beispiel das Schreiben des Forschungsberichts mit RMarkdown.

(5) Datenschutz und Forschungsethik

Das E-Pra ist die erste Möglichkeit, forschungsethische Abwägungen zu treffen (z. B. ob eine Täuschung von Versuchspersonen wirklich erforderlich ist) und Entscheidungen zu begründen. Hierzu gehört (a) die aktive Auseinandersetzung mit den ethischen Richtlinien2 für die psychologische Forschung einschließlich der Klärung der Frage, ob für die Studie das Votum einer Ethikkommission einzuholen ist. Unabhängig davon sollten sich Studierende (b) mit den einschlägigen Vorlagen3 (z. B. datenschutzrelevante Einwilligungserklärungen) vertraut machen und für ihre Zwecke anpassen. Speziell bezüglich des Datenschutzes sollten Studierende (c) eine begründete Entscheidung darüber treffen, welche Daten in welcher Form verarbeitet und bereitgestellt werden (und im Zuge dessen auch mit dem Konzept der Zugriffsklassen vertraut gemacht werden; vgl. Gollwitzer et al., 2021); sie sollten (d) den Unterschied zwischen anonymen, pseudonymen und personenbezogenen Daten kennen und (e) grundlegende Techniken der Anonymisierung kennenlernen (Aust & Barth, 2020).

Schlussbemerkungen

Die Inhalte dieses Kerncurriculums lassen sich erfahrungsgemäß besonders gut im Rahmen direkter oder konzeptueller Replikationen früherer Studien vermitteln. Falls es sinnvoll und realistisch erscheint, die Daten eines E-Pra-Projekts selbst zu publizieren, sollten die Studierenden dieses Projekts an dieser Publikation beteiligt werden. Dies würde auch die Gelegenheit bieten, das schwierige Thema der „Autorenschaft“ bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen mit den Studierenden zu thematisieren.

Am Department Psychologie der LMU wird seit 2017 eine Variante dieses Kerncurriculums erfolgreich angewendet; das Vermitteln und Einüben benötigt erfahrungsgemäß 4 – 6 Sitzungen. In einem assoziierten OSF-Projekt4 stellen wir eine wachsende Sammlung von Open Educational Resources (OER) zu den einzelnen Kernkompetenzen bereit (z. B. Folien und Instruktionen für Hausaufgaben). Die Materialien können gerne von Kolleginnen und Kollegen an anderen Standorten genutzt und ergänzt werden, wobei natürlich an unterschiedlichen Standorten die verschiedenen Aspekte des Kerncurriculums unterschiedlich gewichtet werden können.

Literatur

  • Aust, F. & Barth, M. (2020). papaja: Prepare reproducible APA journal articles with R Markdown. R package version 0.1.0.9997, retrieved from https://github.com/crsh/papaja First citation in articleGoogle Scholar

  • Brachem, J., Frank, M., Kvetnaya, T., Schramm, L. F. F. & Volz, L. (2022). Replikationskrise, p-hacking und Open Science. Eine Umfrage zu fragwürdigen Forschungspraktiken in studentischen Projekten und Impulse für die Lehre. Psychologische Rundschau, 73, 1 – 17. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000562 First citation in articleLinkGoogle Scholar

  • Bröder, A. (2011). Versuchsplanung und experimentelles Praktikum. Hogrefe. First citation in articleGoogle Scholar

  • Gollwitzer, M., Abele-Brehm, A., Fiebach, C. J., Ramthun, R., Scheel, A., Schönbrodt, F. D. & Steinberg, U. (2021). Management und Bereitstellung von Forschungsdaten in der Psychologie: Überarbeitung der DGPs-Empfehlungen. Psychologische Rundschau, 72, 132 – 146. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000514 First citation in articleLinkGoogle Scholar