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Open AccessStandpunkt

Diagnostik und Didaktik für den Handschriftunterricht in heterogenen Grundschulklassen

Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000444

Abstract

Zusammenfassung:Hintergrund: Mit der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention stehen viele Schulen vor der Herausforderung, inklusive Unterrichtsformen zu entwickeln. Die Vielfalt in Klassen wird durch die Inklusion gefördert, was von Lehrkräften vorab als Herausforderung wahrgenommen wird. In diesem Artikel wird erörtert, wie durch den vermehrten Einbezug der Fachkräfte aus der Sonderpädagogik und hier spezifisch aus der Psychomotorik (Psychomotoriktherapie ist in der Schweiz ein sonderpädagogisches Angebot), Fachwissen zur Unterstützung von Kindern mit grafomotorischen Schwierigkeiten mit dem fachdidaktischen Wissen der Lehrkräfte verbunden und so der Unterricht weiterentwickelt werden kann. Die Fachkraft für Psychomotorik bringt beispielsweise diagnostische Kompetenzen in die Zusammenarbeit ein, was für die Ermittlung des Förderbedarfs einzelner Kinder zentral ist. Daraus resultierende variantenreiche Lerngelegenheiten unterstützen die grafomotorische Entwicklung aller Kinder. Diskussion: Um den Einbezug des Fachwissens unterschiedlicher Professionen zu ermöglichen, braucht es entsprechende Voraussetzungen, welche sich in spezifischen Strukturen zeigen. Dies hängt insbesondere von (lokal-)politischen Entscheidungen ab. Ferner müssen spezifische Wirkungen unterschiedlicher Formen multiprofessioneller Zusammenarbeit im Handschriftunterricht noch erforscht werden.

Diagnostics and Didactics for Teaching Handwriting in Heterogeneous Primary School Classes

Abstract:Background: With the ratification of the UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, many schools face the challenge of developing more inclusive forms of education. The diversity in classrooms is promoted through inclusion, which is initially perceived as a challenge by teachers. This article discusses how increased involvement of specialists in special education, specifically psychomotor therapists (psychomotor therapy is a special education service in Switzerland), can be combined with the pedagogical knowledge of teachers to further develop instruction, especially in supporting children with graphomotor difficulties. For instance, a psychomotor therapist contributes with diagnostic expertise, which is crucial for determining the specific needs of individual children. Through multi-professional collaboration, these competencies can be integrated into the teaching process. Diverse learning opportunities support the graphomotor development of all children. Discussion: To facilitate the incorporation of expertise from different professions, specific structures and conditions are required, which meaningfully depend on (local) political decisions. Furthermore, the specific effects of different forms of multiprofessional collaboration in handwriting instruction need further investigation.

Einleitung

In jeder Schulklasse treffen Schüler_innen aufeinander, welche sich in zahlreichen Dimensionen der Vielfalt wie Herkunft, Geschlecht, Schulleistung, Intelligenz, Motivation, Motorik und Alter unterscheiden (Prengel, 2019). Diese Vielfalt kann von Lehrkräften als hinderlich erlebt werden, da nicht alle Kinder zur gleichen Zeit mit den gleichen Aufgaben die gleichen Ziele erreichen. Wird das didaktische Vorgehen allerdings an die vorhandene Vielfalt angepasst (z.B. Sägesser Wyss, Sahli Lozano & Simovic, 2021), kann die Heterogenität auch als Bereicherung und Chance genutzt werden (Prengel, 2019). In einer solchen inklusiven Pädagogik werden Schüler_innen als „gleich“ in Bezug auf grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung, zwischenmenschliche Beziehungen und geistige Anregung sowie in Bezug auf ihre Rechte, einschließlich Partizipation, Selbstbestimmung und Bildung, betrachtet. Gleichzeitig werden sie als „einzigartig“ anerkannt, wodurch individuell angepasste schulische Angebote erforderlich sind (Prengel 2019). Das Zusammenführen von Egalität und Differenz im Unterricht bedeutet z.B. konkret, dass die Schüler_innen mit ihrer Individualität auch das Gefühl der Gemeinschaft erleben (Eckhart, 2010; Prengel, 2019). In dieser „Schule für alle“ steht eine respektvolle und bejahende Haltung gegenüber Vielfalt und Gemeinsamkeit im Mittelpunkt (Achermann, 2009). Diese Haltung bildet die Grundlage für die folgenden Überlegungen.

Schreibanfänger_innen stehen vor der Herausforderung, nicht nur auf sprachlicher Ebene das Verfassen von Texten zu erlernen, sondern gleichzeitig auch die Prozesse der „Transkription“, also das Schreiben von Hand oder mit der Tastatur und die Rechtschreibung (Berninger & Winn, 2006) sowie die „Exekutiven Funktionen“ zu entwickeln (Labrecque, Morin & Montésinons-Gelet, 2013; Speck-Hamdan, Falmann, Hess, Odersky & Rüb, 2016). Die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der Kinder zum Erlernen grafomotorischer Kompetenzen sind dabei sehr unterschiedlich (Sägesser Wyss & Eckhart, 2016). Im vorliegenden Beitrag wird aufgezeigt, wie die Heterogenität der Lernenden im Fachbereich der Grafomotorik durch den Einsatz des Diagnostikinstruments GRAFOS-2 aufgegriffen und diagnostische Prozesse in multiprofessioneller Zusammenarbeit dazu genutzt werden können, Schwerpunkte für die Förderung einzelner Kinder im Rahmen des Unterrichts mit allen Kindern zu setzen. Es wird das Ziel verfolgt, möglichst viele Kinder auf dem Weg zu einer geläufigen und leserlichen Schrift angepasst zu unterstützen, damit sie Freude am schriftlichen Ausdruck aufbauen (Sägesser Wyss et al. 2021). Leider verlieren Kinder mit grafomotorischen Schwierigkeiten häufig allzu früh die Motivation zu Schreiben und die damit verbundene Selbstwirksamkeitserwartung, was sich negativ auf schulische Leistungen auswirken kann (z.B. Connelly, Dockrell & Barnett, 2005; Guay, Ratelle, Roy & Litalien, 2010; Sägesser Wyss & Eckhart, 2016).

Die inklusionsorientierte Diagnostik und Didaktik sowie die multiprofessionelle Zusammenarbeit sollen möglichen negativen Auswirkungen grafomotorischer Schwierigkeiten entgegenwirken und ein gleichberechtigtes Miteinander im schulischen Lernen fördern.

Diagnostik und Multiprofessionalität im inklusionsorientierten (Handschrift-)Unterricht

Soll die Heterogenität der Kinder auf didaktischer Ebene genutzt werden, erweist sich die diagnostische Kompetenz der Fach- und Lehrkräfte als entscheidender Schlüssel (Weinert, 2000). Die diagnostische Herangehensweise in einem inklusiven Umfeld ist dabei stets vielschichtig und erfordert deshalb die enge Zusammenarbeit von Fachkräften aus verschiedenen Professionen (Schäfer & Rittmeyer, 2021). Die Fachkräfte der Sonderpädagogik (in der Schweiz z.B. Fachkräfte für Schulische Heilpädagogik, Psychomotorik oder Logopädie) bringen ihr fachspezifisches und diagnostisches Wissen ein, während die Lehrkräfte Spezialist_innen für (fach-)didaktische Fragen sind. Konkret bringt die Fachkraft für Psychomotorik im Fall der grafomotorischen Förderung das differenzierte diagnostische Wissen mit und kann somit den Entwicklungsstand eines Kindes mit Schwierigkeiten analysieren und individuelle Förderansätze entwickeln. Gemeinsam mit der Lehrkraft kann sie den Unterricht für alle Kinder vorbereiten und bringt die erarbeiteten Förderansätze mit ein. In Abbildung 1 wird diese personale Dimension in der vertikalen Achse aufgezeigt. Die Evidenz einer solch multiprofessionellen Kooperation ist aus langjähriger Forschung bekannt: Die Zusammenarbeit verschiedener Akteur_innen im schulischen Umfeld zeigt nachweislich positive Auswirkungen auf die schulischen Leistungen aller Schüler_innen (z.B. Scheerens, 2000), fördert eine differenzierte Lernkultur (z.B. Holtappels, 2008), ermöglicht individuelle Förderung (Scruggs, Mastroipieri & McDuffie, 2007) und unterstützt die innovative Schulentwicklung (z.B. Bergmann & Rollett, 2008).

Abbildung 1 Synopse der vertikalen (personalen) und horizontalen (diagnostischen) Dimension inklusiver Diagnostik (24-4Schäfer & Rittmeyer, 2021, S. 120).

Wie in Abbildung 1 auf der horizontalen Achse dargestellt, ist in der inklusiven Diagnostik die Anwendung vielfältiger Methoden zentral (Schäfer & Rittmeyer, 2021). Es sollen sowohl quantitative als auch qualitative diagnostische Instrumente eingesetzt werden, was das Dilemma mit der De-Kategorisierung, welche lange Zeit als Mittel gegen Stigmatisierungen betrachtet wurde, neu lanciert (Eggert, 2007; Mayer, Sperschneider & Wittig, 2024; Wocken, 2015). Entscheidend ist, dass Kategorien in einer inklusionsorientierten Diagnostik nicht einen „Status“ definieren, sondern entwicklungsorientiert konstruiert werden, um die „Zone der aktuellen und nächsten Entwicklung“ bei einem Kind zu identifizieren (Vygotski, 1987). Es handelt sich also um eine entwicklungslogisch ausgerichtete, kategoriale Einordnung der Ergebnisse mit ausschliesslichem Fokus auf die Förderplanung (Schäfer & Rittmeyer, 2021) und zwar sowohl in Bezug auf formale, funktionsbezogene, als auch auf materiale, inhaltsbezogene Aspekte. In Bezug auf die Grafomotorik heisst das, dass die Diagnostik im inklusiven Kontext nicht primär darauf abzielt festzustellen, wer im Bereich der Psychomotorik oder Grafomotorik „Probleme“ hat, sondern der Entwicklung angepasster Fördermaßnahmen und Unterrichtsformen dient, damit alle Kinder entsprechend ihrer Voraussetzungen Fortschritte erzielen können.

Das diagnostische Instrument GRAFOS-2 und Ansätze fachdidaktischen Handelns

Das diagnostische Instrument GRAFOS-2 (Sägesser Wyss, Maurer & Eckhart, im Druck) ist ein Verfahren zur Erfassung der grafomotorischen Entwicklung von Kindern zwischen 4 und 9 Jahren. Darüber hinaus unterstützt GRAFOS-2 die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen.

Das Instrument ist eingebettet in eine kindgerechte Rahmengeschichte und besteht aus drei Teilen: Ein Screening für das Erkennen von Kindern mit grafomotorischen Schwierigkeiten im Klassenkontext (quantitatives Verfahren), ein Beobachtungsbogen für die qualitative Analyse des Schreibprozesses im Schulalltag und die Differentialdiagnostik für die qualitative, differenzierte Erfassung der Entwicklungsbereiche der Grafomotorik bei Kindern mit Schwierigkeiten. Auf diese Weise kann die komplexe Entwicklung eines Kindes vielfältig erfasst werden, was die Konstruktion angepasster Förderangebote möglich macht. Die Verbindung quantitativer und qualitativer Verfahren, wie sie im diagnostischen Instrument GRAFOS-2 (Sägesser Wyss et al., im Druck) erfolgt, bedeutet damit nicht nur ein Methodenpluralismus, sondern bildet die Grundlage einer ganzheitlichen Förderung.

Das Instrument erlaubt eine weitgehend sprachunabhängige Analyse grafomotorischer Vorläuferfertigkeiten und Grundlagen für das Schreiben von Hand. Die Sprachunabhängigkeit ist aufgrund der Komplexität des Handschrifterwerbs besonders wichtig. So wird es möglich, die Grafomotorik als automatisierbaren, „hierarchieniedrigen“ Subprozess der Textproduktion (Sturm, Nänni & Wyss, 2017) unabhängig des Einflusses sprachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten zu analysieren und gezielt in die Förderung einzubeziehen.

Die Screeningbogen sind entlang der Entwicklung des Zeichnens geometrischer Formen aufgebaut. Bei Screeningbogen 1 zeichnen alle Kinder kleine Grundelemente der Schrift, (Abb. 2a) während Schüler_innen aus der ersten und zweiten Klasse auf dem Screeningbogen 2 (Abb. 2b) etwas komplexere geometrische Formen zeichnen. Im Unterschied zum Visuomotor Integration Test (Beery, Buktenica & Beery, 2010) werden die Formen hier bewusst klein gezeichnet, damit die beiden wichtigsten Vorläuferfertigkeiten für das Schreiben von Hand, die Feinmotorik und die visuomotorische Integration (Cameron et al., 2015), gleichzeitig erfasst werden können. Die beiden Bereiche spielen auch im Hinblick auf das Erlangen allgemein sprachlicher und mathematischer Fertigkeiten eine grundlegende Rolle (Maurer, Truxius, Sägesser & Eckhart, 2023; McClelland & Cameron, 2019; Suggate, Pufke & Stoeger, 2019).

Abbildung 2 2a) GRAFOS-2, Screeningbogen 1, 2b) GRAFOS-2, Screeningbogen 2.

Die Durchführung, Auswertung und Interpretation des Screenings erfolgen standardisiert, damit die grafomotorischen Leistungen der Kinder verglichen und anhand der Normtabelle in den grafomotorischen Entwicklungsverlauf eingeordnet werden können. Diese Einordnung in den Entwicklungsverlauf bildet die Grundlage für die Entwicklung von Förderangeboten. Ergänzt wird das Screening durch einen Beobachtungsbogen, welcher das gezielte Beobachten des Schreib- und Zeichenprozesses unterstützt, was für die Generierung von Förderangeboten ebenfalls zentral ist. Die Beobachtung von Haltung und Bewegung beim GRAFOS-2 liefert relevante Hinweise, wo ein Kind in Bezug auf das Bewegungslernen und im Aufbau der grafomotorischen Koordinationsleistung steht, ohne dass sprachliche Aspekte den Prozess beeinflussen (Odersky, 2018). Mit dem Beobachtungsbogen wird der Fokus im Rahmen des Unterrichts auf die Haltung, die Bewegungsfähigkeit aber auch auf die Motivation, mit welcher Kinder zeichnen oder schreiben, gelegt. Beispielsweise werden folgende Aspekte beobachtet (Sägesser Wyss et. al., im Druck):

  • Sitzhaltung: Eine stabile Haltung bildet die Grundlage für das Ausführen fein- und grafomotorischer Bewegungen (Bertenthal & von Hofsten, 1998). Instabilität könnte darauf hinweisen, dass mit einem Kind, neben der altersgemässen grafomotorischen Förderung, auch am Aufbau grobmotorischer Stabilität gearbeitet werden muss.
  • Stifthaltung und Fingerbewegungen: Eine Stifthaltung, welche sowohl das Bewegen der Finger beim Schreiben oder Zeichnen kleiner Formen, als auch eine Steuerung des Stifts primär durch Fingerbewegungen erlaubt (reife Stifthaltung), sind ideal (Rolff, 2013). Diese Fertigkeit beinhaltet die Anpassung der Muskelspannung und Koordination der Bewegung in Schulter, Arm, Hand und Fingern beim Schreiben. Oftmals werden Kinder beobachtet, welche die Finger noch nicht bewegen und mit viel Druck schreiben, was zu rascher Ermüdung führen kann.

Die Beobachtung erfolgt qualitativ anhand theoriegeleiteter Kriterien.

Es ist in jedem Fall wichtig, Screening und Beobachtungsbogen gemeinsam einzusetzen, damit im Rahmen des Schulalltags ein vollständiges Bild des zeichnerischen Resultats (Screeningbogen) und des Zeichenprozesses (Beobachtungsbogen) ermittelt werden kann. So gibt es Kinder, welche alle Zeichen der Screeningbogen altersentsprechend einwandfrei zeichnen, während der Zeichenprozess mit sehr starkem Druck, einer noch nicht reifen Stifthaltung und sehr viel Anstrengung verbunden ist, was ebenfalls einen Förderbedarf indiziert.

Mit Kindern, welche grosse Schwierigkeiten zeigen, kann die Fachkraft für Psychomotorik die Differentialdiagnostik durchführen. Dieses Instrument erlaubt eine vertiefte Analyse der komplexen grafomotorischen Entwicklung (Sägesser Wyss et al., im Druck).

Ferner kommen, grundlegende, fachspezifische Analysen dazu, wie beispielsweise:

  • Augenbewegungen: Die Augenbewegungen sind für die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung bedeutsam (Case-Smith & Clifford O›Brien, 2010).
  • Koordinierte Kopfbewegungen, welche unabhängig von der Bewegung des Schultergürtels oder des Rumpfes ausgeführt werden können: Sie sind von zentraler Bedeutung für das Erlernen manueller Tätigkeiten und für das angepasste Einstellen des Kopfes beim Bewegen und Handeln im Raum (Bertenthal & von Hofsten, 1998).
  • Ausgewählte Wahrnehmungsaspekte: Die basale taktil-kinästhetische Wahrnehmung als Grundlage der feinmotorischen Entwicklung und die basale visuelle Wahrnehmung als zentrale Grundlage der visuomotorischen Integration (Sägesser Wyss & Eckhart, 2016).

Die Ergebnisse der Differentialdiagnostik ermöglichen differenzierte Einblicke in die kindliche Entwicklung in Entwicklungsbereichen, die für den Aufbau grafomotorischer Fertigkeiten zentral sind. Dies ermöglicht es Psychomotoriktherapeut_innen in Zusammenarbeit mit Lehrkräften, gezielte Schwerpunkte für die integrierte Förderung zu setzen.

Aus fachdidaktischer Sicht gilt es, empirische Erkenntnisse in der Gestaltung des Handschriftunterrichts für alle Kinder zu berücksichtigen (z.B. Santangelo & Graham, 2016). Dies beinhaltet beispielsweise das Lernen am Modell (vorzeigen-nachahmen), das Zeichnen von Formen aus dem Gedächtnis (z.B. eine Form/einen Buchstaben anschauen – abdecken – aufschreiben), die individuellen Instruktionen durch die Lehrkraft und die Selbstevaluationen der Kinder (selbst erkennen, was ich gelernt habe), welche eine Grundlage für längerfristiges, motiviertes Üben ist (Santangelo & Graham, 2016). Dies wiederum bedingt eine Variation der Lernangebote, sodass für jedes Kind Aufgaben vorliegen, die es erfolgreich und selbstständig lösen kann (Sägesser Wyss, et al., 2021). Genau hier sind die fachspezifischen Kompetenzen aus der Psychomotorik hilfreich. Vielfältige sensomotorische Zugänge und individuell angepasste Instruktionen ermöglichen unterschiedlichen Kindern den Zugang zu Form, Buchstabe und Schrift (Santangelo & Graham, 2016). Buchstaben und Formen können visuell, taktil-kinästhetisch oder auditiv (hier ist das Zeichnen der Form auf einen Resonanzkörper gemeint) wahrgenommen, erkannt und allenfalls ins Zeichnen oder Schreiben umgesetzt werden. Dabei kann die Schwierigkeit der Aufgaben differenziert werden, so dass beispielsweise eine Gruppe Kinder mit runden Formen, eine andere Gruppe mit Buchstaben mit Rundungen und eine weitere Gruppe mit Worten und Sätzen arbeiten, welche Buchstaben mit Rundungen enthalten. Die runden Buchstaben und Formen sind dabei das klassenübergreifende Thema der Unterrichtseinheit (Santangelo & Graham, 2021). Der diagnostische Prozess ist nach der Durchführung des GRAFOS-2 nicht abgeschlossen und muss durch Beobachtungen im Unterricht fortgesetzt werden. Die Verbindung der Fachkenntnisse der Fachkraft für Psychomotorik und der Lehrkraft ermöglicht eine fortlaufende Weiterentwicklung des Unterrichts für alle Kinder.

Diskussion

Im vorliegenden Beitrag wurden die Chancen einer multiprofessionellen Kooperation zwischen Fachkräften für Psychomotorik und Lehrkräften für die Entwicklung eines Handschriftunterrichts für alle Kinder skizziert. Inwiefern entsprechende Kollaborationen möglich sind, hängt sehr stark von bildungspolitischen Entscheiden ab. Durch die Ratifizierung der UNO Behindertenrechtskonvention (United Nations Organization [UNO], 2006) haben sich viele Länder verpflichtet, substantielle Schritte in Richtung Inklusion zu gehen. Sind die Gelder für die Finanzierung spezifischer Förder- und Therapieangebote allerdings ausschliesslich an die Diagnose eines Kindes und ein in diesem Zusammenhang verfasstes Gutachten gebunden, wird die multiprofessionelle Zusammenarbeit im Rahmen des Unterrichts möglicherweise erschwert oder verunmöglicht. Eine vermehrt inklusionsorientierte Zusammenarbeit zwischen sonderpädagogischen Fachkräften und Lehrkräften muss entsprechend auch auf dieser Ebene mitgetragen werden, was ein grundlegendes Umdenken erfordert.

Limitationen

Die Wirkung unterschiedlicher Formen der Zusammenarbeit zwischen sonderpädagogischen Fachkräften und Lehrkräften auf der Ebene des Handschriftunterrichts wurden bis anhin noch kaum empirisch untersucht. Die Erkenntnisse zur multiprofessionellen Zusammenarbeit stützen sich auf Ergebnisse aus anderen Fachbereichen.

Relevanz für die Praxis

Der Fokus dieses Beitrags liegt auf den Chancen multiprofessioneller Zusammenarbeit für die Entwicklung eines Unterrichts, in welchem die Ressourcen aus verschiedenen Fachdisziplinen und somit beispielsweise auch diagnostische Kompetenzen aus der Psychomotorik in den Unterricht einfliessen. Da die Schulen aufgrund der Ratifizierung der UNO-BRK (UNO, 2006) aufgefordert sind, inklusiven Unterricht anzubieten, sind die Ergebnisse dieses Standpunktes für die Praxis relevant.

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