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Free AccessEditorial

Elterliche Faktoren kindlicher Psychopathologie

Published Online:https://doi.org/10.1026/1616-3443/a000390

Psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters sind mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen für die betroffenen Kinder und deren Familien verbunden. Dies gilt auch bereits für psychische Auffälligkeiten im subklinischen Bereich (Hölling, Schlack, Petermann, Ravens-Sieberer & Mauz, 2014). Zudem sind psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter weit verbreitet: So liegt die Prävalenzrate zu einem gegebenen Zeitpunkt in Deutschland im Mittel bei 10 bis 20 % der Allgemeinbevölkerung (Barkmann & Schulte-Markwort, 2004; Petermann, 2005), weltweit liegt die Prävalenz bei 13.4 % (Polanczyk, Salum, Sugaya, Caye & Rohde, 2015). Etwa 20 % der Kinder und Jugendlichen, die an einer psychischen Störung erkrankt sind, berichten über schwere Beeinträchtigungen (Merikangas et al., 2010), wobei einzelne Störungsbilder insbesondere eine schwere Beeinträchtigung mit sich bringen (Affektive Störungen 11.2 %, Angststörungen 8.3 %, Verhaltensauffälligkeiten 9.6 %).

Ausgehend von einem biopsychosozialen Ätiologiemodell wird neben temperamentsbezogenen und Persönlichkeitsfaktoren auch der Einfluss des sozialen Umfeldes auf die Entwicklung kindlicher Psychopathologie diskutiert (z. B. Phares, 2003). Durch die enge Verbindung von Kind und Familie wird hierbei immer wieder die Relevanz der Eltern deutlich (Mash & Dozois, 2003). Diese Zusammenhänge stellen sich jedoch alles andere als einfach dar, da sowohl ein Einfluss des Kindes auf die Eltern, der Einfluss der Eltern auf das Kind sowie ein gänzlich reziproker Zusammenhang als Wirkmechanismus denkbar ist (Mash & Dozois, 2003). Zugleich scheint dieser Zusammenhang stark vom Störungsbild des Kindes abhängig zu sein, da z. B. bei Angststörungen häufiger intrusives Elternverhalten, während bei Aufmerksamkeitsstörungen häufiger kritisches Elternverhalten gezeigt wird (für einen Überblick siehe Asbrand, Lerach & Tuschen-Caffier, 2015). Neben Elternfaktoren als Risikofaktoren sind vermutlich auch Schutzfaktoren durch Eltern und Familie von Bedeutung, z. B. im Sinne einer positiven Eltern-Kind-Bindung (z. B. Bögels & Phares, 2008). Insbesondere im Bereich der Angststörungen deuteten Studien (z. B. Nauta, Scholing, Emmelkamp & Minderaa, 2003) wie auch Überblicksarbeiten (z. B. In-Albon & Schneider, 2007; Manassis et al., 2014) der letzten Jahre vermehrt darauf hin, dass der Einbezug der Eltern in die Psychotherapie ihres ängstlichen Kindes keine Verbesserung der Therapieeffekte erzielt. Dieses für Therapeutinnen und Therapeuten überraschende Ergebnis wirft Fragen auf und widerspricht meist dem klinischen Eindruck der behandelnden Fachkräfte. Kritik an diesen Ergebnissen wird laut bei Betrachtung der Vielfalt des Einbezugs der Eltern von aktiver Teilnahme der Eltern an den Sitzungen, Beobachtung des Therapeuten etc. (z. B. Manassis et al., 2014). Bevor jedoch direkt von einer fehlenden Relevanz der Eltern in der Therapie gesprochen werden kann, stellt sich u. a. die Frage, ob und wie Eltern die Entstehung und Aufrechterhaltung psychopathologischer Symptome ihrer Kinder mitbeeinflussen. Nur mit einem Verständnis der zugrundeliegenden störungsaufrechterhaltenden Mechanismen ist eine passende Integration der Eltern in die Psychotherapie denkbar.

Dieses Schwerpunktheft zielt auf verschiedene elterliche Faktoren ab, die potentiell Einfluss auf die kindliche Psychopathologie nehmen können: So geht es in dem Beitrag von Margarete Bolten und Kollegen (Bolten, Goergen, Schöder, Schmid & Stadler) um den Einfluss eigener Psychopathologie der Eltern auf die Psychopathologie der Kinder. Ein ähnliches Thema, aber ergänzt um den Faktor familiäres Klima wird von Julia Asbrand und Kollegen aufgegriffen (Asbrand, Heinrichs & Tuschen-Caffier). Des Weiteren werfen Judith Blatter-Meunier und Kollegen (Blatter-Meunier, Kreißl & Schneider) die Frage auf, inwiefern dysfunktionale Familienstrukturen zur Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der Trennungsangst bei Kindern beitragen. In dem Beitrag von Ann-Katrin Job und Kollegen (Job, Lohaus, Konrad, Scharke, Reindl & Heinrichs) wird die Entwicklung adaptiver bzw. maladaptiver Strategien der Emotionsregulation in Pflegefamilien im Vergleich zu Familien mit biologischen Eltern verglichen.

Margarete Bolten und Kollegen zeigen im ersten Beitrag bereits im Vorschulalter die Bedeutung der psychopathologischen Belastung der Mütter für die Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten der Kinder: In einer Interaktionsaufgabe zeigen sich belastete Mütter weniger feinfühlig gegenüber den Signalen ihres Kindes, sodass sie eine potentielle Überforderung ihres Kindes nicht bemerken. Die Feinfühligkeit der Mutter stellt ein wichtiges Instrument der Mutter-Kind-Beziehung dar, welches voraussetzt, dass das Kind Signale sendet, welche von der Mutter empathisch aufgefasst und beantwortet werden. In diesem Sinne ist dann z. B. eine Co-Regulation von Emotionen und Bedürfnissen möglich, welche die weitere Entwicklung positiv beeinflussen. In der kurzen Interaktion zeigte sich darüber hinaus insbesondere für internalisierende Symptome des Kindes das Interaktionsverhalten der Mutter bzw. die Qualität der Interaktion als zentral.

In dem Beitrag von Julia Asbrand und Kollegen werden Berichte von Müttern von Kindern mit sozialer Angststörung häufiger als negativ eingeschätzt im Sinne des Konzepts High Expressed Emotion (Magaña et al., 1986). Darüber hinaus stellt die erhöhte Angst vor negativer Bewertung des Kindes einen potentiellen Mechanismus dar, wie mütterliche, aber nicht väterliche soziale Angst an das Kind vermittelt werden kann. Neben anderen möglichen Risikofaktoren wird hier die Frage zentral, inwiefern elterliche Faktoren auch als Schutzfaktoren betrachtet werden können. Die Studie zeigt darüber hinaus erste Implikationen, dass gezielt Eltern in der Therapie angesprochen werden können, bei welchen sich zu Beginn Schwierigkeiten in den genannten Bereichen wie z. B. hohe Kritik gegenüber dem Kind oder eigene Ängste zeigen, um den Erfolg der Behandlung zu stabilisieren.

Judith Blatter-Meunier und Kollegen stellen in einem familienbezogenen Verfahren dar, dass Familien von Kindern mit Trennungsangst bzw. auch anderen Angststörungen keine andere Sicht auf die Familienstrukturen im Sinne von Kohäsion und Hierarchie berichten als Familien von Kindern ohne psychische Störungen. Anhand einer Familienaufstellung in verschiedenen Situationen werden Distanzen zwischen Familienmitgliedern exakt bemessen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass vielleicht nicht die Gesamtfamilienstruktur, sondern einzelne Beziehungen relevante Aspekte für die Entstehung der Trennungsangst darstellen könnten.

Der letzte Beitrag des Schwerpunkthefts von Ann-Katrin Job und Kollegen deutet an, dass der Einfluss auf die Entwicklung der Emotionsregulation des Kindes durchaus auf einer langfristigen gemeinsamen Entwicklung zwischen Eltern und Kind fußt, wobei auch der biologische Einfluss zu berücksichtigen ist. In sehr jungen Kindern finden die Autoren keine Zusammenhänge zwischen elterlichem Erziehungsverhalten und kindlicher Emotionsregulation bzw. Psychopathologie in Pflegefamilien im Vergleich zu Herkunftsfamilien. Das Erziehungsverhalten sowie die kindliche maladaptive Emotionsregulation werden jedoch unabhängig von der Familienzusammensetzung mit externalisierendem Problemverhalten in Verbindung gebracht, sodass eine gezielte Unterstützung von Eltern von Kindern mit externalisierender Symptomatik ratsam scheint.

Zusammenfassend zeigt das Schwerpunktheft sehr vielschichtige Ergebnisse je nach Perspektive auf Alter, Störungsbild oder Herkunft der betroffenen Kinder. Globale Aussagen über Einflüsse der Eltern auf die Entstehung und Aufrechterhaltung, aber auch auf die Relevanz des Einbezugs in die Therapie greifen zu kurz, sodass weitere störungsbezogene Forschung sowohl im Bereich der Grundlagenforschung wie auch der Therapieforschung notwendig erscheint.

Dr. Julia Asbrand

Literatur

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Dr. Julia Asbrand, Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Institut für Psychologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Engelbergstr. 41, 79106 Freiburg, E-Mail