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Open AccessForum – Diskussionsbeitrag

Partizipation von Studierenden mit neurokognitiven Beeinträchtigungen am Beispiel von ADHS und spezifischen Lernstörungen

Published Online:https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000364

Abstract

Zusammenfassung: Das Hauptziel des vorliegenden Beitrags ist eine kritische Reflexion der Situation von Studierenden mit neurokognitiven Beeinträchtigungen in Hinblick auf deren Partizipation im universitären Setting. Nach einer kurzen Erläuterung der aktuellen universitätsrechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden (i) am Beispiel von Aufmerksamkeitsstörungen und spezifischen Lernstörungen charakteristische Schwierigkeiten von betroffenen Studierenden beim Studium anhand von Fallvignetten dargestellt und (ii) Ziele in Hinblick auf eine gelingende Partizipation und Chancengleichheit für Studierende mit Beeinträchtigungen skizziert. Anhand eines tentativen Rahmenmodells zur Förderung der Partizipation diskutieren wir die Notwendigkeit differenzierter universitätsinterner und -externer struktureller Rahmenbedingungen, die zusätzlich zu den bereits bestehenden – aber nicht ausreichenden – universitätsinternen Maßnahmen wie dem Nachteilsausgleich implementiert werden sollten.

Participation of University Students with Neurocognitive Deficiencies: Evidence from ADHD and Specific Learning Disorders

Abstract: This paper critically reflects on the current situation of students with neurocognitive deficiencies regarding their participation in the academic setting. After providing a brief summary of the relevant judicial frameworks implemented at universities in Germany, Austria, and Switzerland, we (1) present single-case histories to delineate characteristic difficulties encountered by students with attention and/or specific learning disorders; and (2) formulate a desirable target state regarding successful participation and equal opportunities for students with neurocognitive deficiencies. We suggest a tentative model targeted at fostering students’ participation and discuss the necessity to provide effective basic parameters at different levels both within and outside the academic setting which go beyond the currently offered disadvantage compensation.

Einleitung

Individuelle Bildung und Weiterbildung sind zentrale gesellschaftliche Anliegen, die auch eine wichtige Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes darstellen und damit dessen Prosperität mitbestimmen. Die individuelle Entwicklung ist eng an den Wissenserwerb in Bildungseinrichtungen geknüpft. Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf den universitären Bildungseinrichtungen und hier insbesondere auf den Studierenden, die aufgrund von individuellen Beeinträchtigungen mehr oder minder ausgeprägte Schwierigkeiten haben können, sich im akademischen Lehrbetrieb zurechtzufinden. Welche Möglichkeiten und Unterstützungsmaßnahmen gibt es für Studierende mit Beeinträchtigungen, das gewählte Studium erfolgreich zu absolvieren?

Gemäß der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK; siehe https://www.behindertenrechts​konvention.info) haben alle Menschen mit Behinderung ein Recht auf Bildung (Art. 24 Abs. 1). Im entsprechenden Absatz heißt es wie folgt: „Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen (…).“ Des Weiteren fordert die UN-BRK, dass die Vertragsstaaten – zu denen auch Deutschland, Österreich und die Schweiz gehören – sicherstellen, dass „Menschen mit Behinderung ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben“ (Art. 24 Abs. 5).

Laut Universitätsgesetz (UG) haben Studierende mit Behinderung Anspruch auf einen sogenannten Nachteilsausgleich bzw. auf modifizierte Prüfungsmodalitäten. Entsprechende Regelungen finden sich in nahezu allen Hochschulgesetzen der Länder in Deutschland (vgl. bspw. § 25 Abs. 3 HessHG [Hessisches Hochschulgesetz]), in Österreich (siehe § 59 Abs. 1) und in der Schweiz (Art. 8 Abs. 1, 2, 4 der Schweizerischen Bundesverfassung). Das bedeutet, dass der Anspruch auf Nachteilsausgleich durch das UG gesetzlich verankert und somit für die öffentlichen und privaten Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbindlich ist. Hervorzuheben ist jedoch folgende Feststellung: Ein Nachteilsausgleich ist keine individuelle Bevorzugung, sondern schafft eine notwendige Voraussetzung für die von der Universität angestrebte Chancengleichheit als Ausdruck des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Prüfungsrecht.

Definition des Nachteilsausgleichs gemäß UG

Der Nachteilsausgleich ist gemäß UG in allen drei deutschsprachigen Ländern ausschließlich definiert als Anpassung bezüglich der Prüfungsform (z. B. mündlich anstatt schriftlich) und der Rahmenbedingungen bei der Durchführung von Prüfungen (z. B. Zeitverlängerung bei schriftlichen Prüfungen), nicht jedoch als Anpassung der Lernziele oder des Beurteilungsmaßstabes. Das heißt, bei einem Nachteilsausgleich werden die Lernziele nicht reduziert, da die betroffenen Studierenden durch den Nachteilsausgleich nicht bevorteilt werden sollen. Andererseits darf der Nachteilsausgleich nicht zur Diskriminierung der betroffenen Studierenden führen, weswegen die Inanspruchnahme eines Nachteilsausgleichs in der Leistungsbeurteilung nicht ersichtlich sein soll. Zur Prüfung der Anspruchsberechtigung auf einen Nachteilsausgleich können die in Tabelle 1 angeführten Kriterien herangezogen werden (siehe Bildungsdirektion Zürich, überarbeitete Auflage 2022).

Tabelle 1 Kriterien für die Prüfung der Berechtigung eines Nachteilsausgleichs

Studieren mit Behinderung

Der Begriff der Behinderung ist im UG sehr weit gefasst und inkludiert neben körperlichen Erkrankungen auch neurokognitive Beeinträchtigungen wie beispielsweise Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), spezifische Lernstörungen sowie psychische Störungen wie Depression oder Angststörung. Voraussetzung für die Gewährung dieses universitären Nachteilsausgleichs ist das Vorliegen eines Attests, das bestätigt, dass eine spezifische Beeinträchtigung laut medizinisch-diagnostischen Klassifikationssystemen vorliegt (je nach universitätsspezifischer Regelung kann das ein fachärztliches, klinisch-psychologisches oder psychotherapeutisches Attest sein). Die Bearbeitung des Ansuchens um einen Nachteilsausgleich wird von universitären Einrichtungen abgewickelt (in Österreich z. B. die „Abteilung Disability & Diversity“ der Universität Salzburg oder das „Büro der Behindertenbeauftragten“ der Universität Innsbruck; in Deutschland z. B. die „Servicestelle für behinderte Studierende“ der Universität Marburg oder die Organisationseinheit „Beratung für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen“ der Freien Universität Berlin; und in der Schweiz z. B. die „Fachstelle Studium und Behinderung“ der Universität Zürich oder die „Beratungsstelle Studium & Behinderung“ der Eidgenössisch Technischen Hochschule [ETH] Zürich). Diese Einrichtungen prüfen den Antrag sowie das zugehörige Attest und kontaktieren in Abhängigkeit von den jeweiligen universitätsspezifischen Regelungen (z. B. nach Abstimmung mit dem Prüfungsamt oder dem Vizerektorat für Lehre) die betreffenden Lehrveranstaltungsleiter_innen bzw. das Prüfungsamt oder -dekanat, um die Durchsetzung des gewährten individuellen Nachteilsausgleichs zu organisieren.

Parallel zur Entwicklung der oben beschriebenen Servicestellen für Studierende mit Behinderung an den jeweiligen Universitäten entstanden universitätsübergreifende länderspezifische Arbeitsgemeinschaften und Netzwerke, die sich dem Thema „Studieren mit Behinderung“ widmen (Schweiz: https://www.swissuniability.ch; Österreich: https://www.uniability.org). Während der Fokus der Uniability-Netzwerke in der Schweiz und Österreich primär auf den Studierenden mit Behinderung liegt, ist das entsprechende Netzwerk in Deutschland (https://www.studentenwerke.de) inhaltlich breiter angelegt und vertritt auch die Anliegen von sozial oder ökonomisch benachteiligten Studierenden. In allen drei Ländern befassen sich die angeführten Netzwerke jedoch auch mit der Verbesserung der (universitäts-)politischen und rechtlichen Situation von Studierenden mit Behinderung, vor allem in Hinblick auf eine Optimierung der Partizipation und Inklusion.

Welche Voraussetzungen müssen für einen Nachteilsausgleich erfüllt sein?

Eine klinische Diagnose zu erhalten, kann für die betroffene Person stigmatisierend sein, da diese damit „etikettiert“ wird (und im modernen Gesundheitssystem jede Diagnose elektronisch gespeichert und daher auch abrufbar ist). Andererseits kann eine klinische Diagnose für die betroffene Person auch positiv wirksam werden, wenn mithilfe dieser Diagnose die subjektiv erlebten Beeinträchtigungen (also die Symptome) nicht nur als solche erkannt und benannt werden, sondern diese Beeinträchtigungen auch krankheitsspezifischen Verursachungsmechanismen zugeordnet werden können. In diesem Falle kann eine Diagnose entlastend wirken, da sie Schuldzuschreibungen relativieren kann (z. B. sind Betroffene häufig der Überzeugung, das universitäre Versagen selbst zu verursachen, da sie zu wenig Fleiß, Fähigkeiten etc. aufbringen) und zudem Ansatzpunkte für Interventionsmöglichkeiten aufdeckt.

In Bezug auf das Ansuchen um Nachteilsausgleich im universitären Setting ist eine diagnostische Abklärung inklusive Diagnosefindung notwendig, um eine offizielle Anerkennung einer krankheitswertigen Funktionsbeeinträchtigung zu erhalten. Wie bereits weiter oben erläutert, bescheinigt das Vorliegen eines fachärztlichen oder anderweitig anerkannten – z. B. klinisch-psychologischen oder psychotherapeutischen – Attests laut UG die Notwendigkeit eines Nachteilsausgleichs im Sinne der Chancengleichheit. Der Erhalt eines Nachteilsausgleichs, wie beispielsweise modifizierte Prüfungsmodalitäten, ist für die Betroffenen insofern relevant, als sie aufgrund ihrer krankheitsbedingten Funktionsminderungen (wie z. B. Unaufmerksamkeit, erhöhte Ablenkbarkeit, mangelndes Zeitmanagement bei Diagnose einer ADHS) unter regulären Prüfungsbedingungen ihre optimale Performanz nicht zeigen und im schlimmsten Fall nicht einmal die Mindestanforderungen erfüllen können.

Auch neuropsychologische Beeinträchtigungen wie beispielsweise ADHS oder spezifische Lernstörungen (mit Lesebeeinträchtigung oder Beeinträchtigung in Mathematik) können gemäß den aktuellen Versionen der internationalen diagnostischen Klassifikationssysteme ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems; World Health Organization, 2019) und DSM-5 (Dignaostic and Statistical Manual of Mental Disorders; American Psychiatric Association, 2013) bei Erwachsenen diagnostiziert werden und sind nicht mehr auf das Kindesalter beschränkt. Dieser konzeptuelle Wandel, nämlich die Ausdehnung des Krankheitsbegriffs auf das Erwachsenenalter, ist noch jung (ICD-11 seit 2019 bzw. seit 2022 in der klinischen Anwendung und DSM-5 seit 2013 bzw. 2015 für die deutsche Version), weswegen die diagnostischen Angebote für Erwachsene allgemein und insbesondere für Studierende vielerorts den entsprechenden Nachfragen hinterherhinken. Diese Situation resultiert aktuell in einer suboptimalen Versorgung der betroffenen Studierenden, sowohl in Hinblick auf spezifische diagnostische und therapeutische Angebote als auch bezüglich der Differenzierung von Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit (die über einen reinen Nachteilsausgleich hinausgehen müssen, um effektiv zu werden).

Partizipation und Teilhabe im universitären Setting

Im Folgenden legen wir den Fokus auf die Situation von Studierenden mit neurokognitiven Beeinträchtigungen, da diese gemäß den Erfahrungen der Autor_innen des vorliegenden Beitrags im universitären Setting meist nicht die entsprechenden Rahmenbedingungen finden, die sie benötigen und die ihnen laut dem im UG proklamierten Recht auf Chancengleichheit zustehen. Aktuell im UG (Deutschland: vgl. bspw. § 25 Abs. 3 HessHG; Schweiz: Art. 8 Abs. 1, 2, 4 der Schweizerischen Bundesverfassung; Österreich: § 59 Abs. 1) verankert ist lediglich der Anspruch auf Nachteilsausgleich bzw. modifizierte Prüfungsmodalitäten, der bei Weitem nicht die potenziellen Unterstützungsmöglichkeiten sowie die notwendigen Rahmenbedingungen abdeckt, von denen Studierende mit neurokognitiven Beeinträchtigungen profitieren und mithilfe derer sie ihr optimales Leistungspotenzial entwickeln könnten.

Hauptziele des Beitrags

Hauptziele des Beitrags sind die exemplarische Darstellung des Ist-Zustands anhand von Kasuistiken von Studierenden mit ADHS und spezifischen Lernstörungen (mit Lesebeeinträchtigung und Beeinträchtigung in Mathematik) sowie die Skizzierung eines aus neuropsychologischer und klinisch-psychologischer Sicht anzustrebenden Soll-Zustandes in Hinblick auf die bestmögliche Partizipation von Studierenden mit neurokognitiven Beeinträchtigungen. Dementsprechend sollen zusätzlich zur Berücksichtigung individueller Merkmale (der betroffenen Studierenden) und den bereits bestehenden – aber bei weitem nicht ausreichenden – universitätsinternen strukturellen Rahmenbedingungen wie dem Nachteilsausgleich weitere, und unserer Meinung nach notwendige, universitätsinterne und -externe strukturelle Rahmenbedingungen zur Förderung der Partizipation im Bereich der Universitäten diskutiert werden.

Drei Kasuistiken

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

ADHS ist gekennzeichnet durch ein durchgängiges und beeinträchtigendes Muster geringer Aufmerksamkeit sowie erhöhter Impulsivität und Hyperaktivität, die altersunangemessen und situationsübergreifend auftreten müssen. Nach den beiden großen Klassifikationssystemen müssen die Symptome erstmals vor dem 12. Lebensjahr (DSM-5 sowie ICD-11) aufgetreten sein und eine negative Auswirkung auf die Qualität des sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsniveaus haben. Das DSM-5 (American Psychiatric Association, 2015) unterscheidet drei Erscheinungsformen, die von der ICD-11 (World Health Organization, 2019) übernommen wurden: (a) das vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsbild, bei dem von neun Kriterien mindestens sechs oder mehr aus dem Bereich der Unaufmerksamkeit (UA) erfüllt sein müssen und weniger als sechs (von neun) Kriterien aus dem Bereich Hyperaktivität/Impulsivität (H/I); (b) das vorwiegend hyperaktiv-impulsive Erscheinungsbild mit mindestens sechs oder mehr erfüllten Kriterien aus dem Bereich H/I und weniger als sechs Kriterien aus dem Bereich UA; (c) das kombinierte Erscheinungsbild mit sechs oder mehr erfüllten Kriterien aus den Bereichen UA und H/I.

Ab dem Jugendalter reichen fünf erfüllte Kriterien aus einem der Bereiche, um die entsprechende Diagnose zu vergeben. Zudem wurden die Kriterien für Jugendliche und Erwachsene im DSM-5 und in der ICD-11 so angepasst, dass sie für die Lebensumstände dieser Altersgruppen besser passen. Weiterhin kann der Schweregrad (leicht, moderat, schwer) kodiert werden. Die ICD-11 spezifiziert Störungsbilder mit angrenzender Symptomatologie, wie z. B. Intelligenzminderungen, Autismus-Spektrum-Störungen, Lernstörungen, motorische Koordinationsstörung, Angststörungen, expansive Störungen und Störungen des Sozialverhaltens, Persönlichkeitsstörungen, Substanzgebrauchsstörungen. Diese sind kein Ausschlusskriterium, aber die Kernsymptome der ADHS müssen unabhängig vom Vorliegen dieser Störungen zu klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen führen.

Die Lebenszeitprävalenz von ADHS in der erwachsenen Bevölkerung beträgt weltweit circa 2.5 % (Faraone & Tsuang, 2001). Obschon sich die Symptomatik im Erwachsenenalter verändert und insbesondere die beobachtbare motorische Unruhe eher einem inneren Unruhegefühl weicht, persistieren bedeutsame Beeinträchtigungen bei ca. 20 bis 80 % der Betroffenen (Fischer & Barkley, 2007).

ADHS tritt familiär gehäuft auf und in verschiedenen Studien zeigen sich kleine polygenetische Effekte, die in Interaktion mit der Umwelt eine relevante Rolle spielen (Homberg et al., 2016). ADHS ist durch eine heterogene phänotypische Symptomatik charakterisiert (z. B. die bereits weiter oben erwähnten unterschiedlichen Erscheinungsbilder) und ist häufig assoziiert mit Defiziten der Selbstregulation (Inzlicht, Werner, Briskin & Roberts, 2021) und der Emotionsregulation (Christiansen, Hirsch, Albrecht & Chavanon, 2019; Faraone & Larsson, 2019).

Im Folgenden stellen wir am Beispiel einer Studierenden mit Diagnose ADHS vor, welche Auswirkungen die ADHS-Symptomatik auf das Lernen im universitären Setting haben kann.

Fallvignette Frau S.

Frau S. ist 21 Jahre alt, Studierende der Jurisprudenz an der Universität Marburg. Frau S. wandte sich an uns wegen Problemen in Beziehungen und sozialen Kontakten, unter anderem aufgrund von

  • Konflikten durch impulsives Streiten,
  • Unpünktlichkeit/Unzuverlässigkeit,
  • Chaos/Unordnung (nicht nur im eigenen WG-Zimmer, sondern auch in den Gemeinschaftsräumen Küche, Bad und Wohnzimmer),
  • Nicht-zuhören-Können,
  • Schwierigkeiten, Kontakte aufrechtzuerhalten/sich bei Freund_innen und Kommiliton_innen zu melden,
  • Vergessen wichtiger Ereignisse wie bspw. Geburtstage, Referatsgruppen, Prüfungsanmeldezeiten,
  • Leidensdruck wegen Unruhe, „Gedankenchaos“, erhöhter Emotionalität.

Im Studium würden sich diese Probleme unter anderem in der Schwierigkeit äußern, die Aufmerksamkeit in Vorlesungen und Seminaren aufrechtzuerhalten, bei der Vor- und Nachbereitung von Veranstaltungen, Prokrastination bei Prüfungsvorbereitungen, den selbst zu organisierenden und strukturierenden Haus- und Abschlussarbeiten (siehe Abbildung 1). Frau S. berichtet, dass ihr dabei viele Flüchtigkeitsfehler und Ungenauigkeiten unterlaufen würden, z. B. lese sie wenig genau, vergesse Quellenangaben oder zitiere nicht korrekt, wodurch es zu einem Punktabzug und damit Zurückbleiben hinter ihrem Leistungsniveau komme. Auch aufgrund mangelnder bzw. zu später Vorbereitung auf Klausuren und Hausarbeiten komme es zu schlechteren Leistungen und in der Folge zu einem Nichtbestehen von Modulen und Prüfungen.

Abbildung 1 ADHS-charakteristische Merkmale und deren Auswirkungen auf das Studium und das Lernen im universitären Setting. Die dunkelgrau unterlegten Begriffe betreffen ADHS-charakteristische Merkmale bei Erwachsenen, die hellgrau unterlegten Begriffe zeigen beispielhaft (Funktions-)Bereiche auf, die von den ADHS-charakteristischen Merkmalen negativ beeinflusst werden.

Da Frau S. aufgrund dieser Schwierigkeiten bereits ein Studium der Wirtschaftswissenschaften abgebrochen habe, stehe sie unter einem hohen Druck („Diesmal soll es aber klappen!“). Sie habe Angst, dass sie einfach „zu dumm“ für ein Studium sei. In ihrer Kindheit sei der Verdacht einer ADHS geäußert worden, aber sie habe nie die Diagnose einer ADHS bekommen und auch keine Behandlung. Aufgrund ihrer schnellen Auffassungsgabe sei sie in der Schulzeit gut zurechtgekommen. Sie habe nicht so lange gebraucht, Dinge zu verstehen, und hätte schriftliche Leistungen durch eine sehr gute mündliche Mitarbeit ausgleichen können. Hausaufgaben habe sie in der Schule oft bei Mitschüler_innen abgeschrieben und aufgrund ihres einnehmenden Wesens sei sie bei Lehrkräften beliebt gewesen, sodass ihr „Durchmogeln“ nicht weiter aufgefallen sei.

Das Studium sei aber sehr viel komplexer und Inhalte würden in viel kürzerer Zeit vermittelt und die Aufbereitung erfordere eine hohe Eigenstrukturierung. Ihre bisherigen Kompensationsmöglichkeiten würden nicht mehr funktionieren und sie bleibe trotz großer Anstrengungen hinter den Anforderungen zurück. Dies frustriere sie sehr und emotional schwanke sie zwischen tiefer Verzweiflung und Optimismus, wenn ihr doch etwas gelänge. Insgesamt mache ihr der hohe Leistungsdruck allerdings sehr zu schaffen. Im Vergleich mit ihren Kommiliton_innen seien ihre Leistungen sehr viel schlechter, was ihren Selbstwert beeinträchtige. Auch habe sie aufgrund der dargestellten Probleme nicht alle geforderten Leistungen zeitgerecht abschließen können, wodurch es zu einer Studienzeitverlängerung und Streichung der Leistungen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) gekommen sei. Da sie nun arbeiten müsse, um ihr Studium zu finanzieren, habe sie noch weniger Zeit für ihr Studium. Allerdings mache ihr die abwechslungsreiche Arbeit in einem Café sehr viel Spaß und beim Team und den Kund_innen sei sie sehr beliebt. Durch ihren WG-Mitbewohner, der Psychologie studiert, sei sie auf ADHS aufmerksam geworden und wolle dies nun abklären lassen. Sie habe sich vor dem diagnostischen Termin informiert, u. a. in sozialen Medien, und gemerkt, dass Vieles von dem dort Beschriebenen auf sie zutreffe. Sie komme zur Diagnostik, um Lösungen zu finden, um das Studium zu schaffen und den erlebten Druck und die beschriebenen Beeinträchtigungen zu mindern.

Nach umfangreicher Diagnostik inklusive neuropsychologischer Abklärung wurde die Diagnose einer adulten ADHS gestellt. Frau S. berichtet, dass sie diese Diagnose als sehr entlastend erlebe („Ich bin also doch nicht einfach nur dumm …“) sowie als Erklärung für viele Steine in ihrem Lebensweg und erlebtes Scheitern. Für sie sei die Diagnose ein konkreter Ansatzpunkt, woran jetzt gearbeitet werden könne. Von der Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs habe sie noch nie gehört. Auch bezweifle sie, dass z. B. eine Schreibzeitverlängerung für sie sinnvoll sei, da sie ihre Konzentration nicht lange aufrechterhalten könne, besser sei für sie eine reizarme Umgebung und die Möglichkeit, Klausuren in einem ruhigen Raum schreiben zu können, mit weniger Ablenkung durch andere und der Möglichkeit, zwischendurch Kniebeugen machen zu können.

Die Fallvignette von Frau S. zeigt sehr anschaulich, dass Erwachsene mit ADHS nicht nur beim Studium (und der Arbeit) Schwierigkeiten aufgrund ihrer ADHS-charakteristischen Symptome haben können, sondern dass sich diese Schwierigkeiten und die damit assoziierten Funktionsbeeinträchtigungen auch auf den Alltag erstrecken und teilweise gravierende negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen haben können. Diese persistierenden und mehrere Lebensbereiche tangierenden Beeinträchtigungen stellen auch einen Risikofaktor für die Entwicklung von Komorbiditäten dar (wie bspw. Schlafstörungen, Depressionen und Angststörungen; z. B. Hirsch, Chavanon, Riechmann & Christiansen, 2018; Katzman, Bilkey, Chokka, Fallu & Klassen, 2017).

Frau S. ist auch in Hinblick auf den späten Zeitpunkt der Erstdiagnose kein Einzelfall. Obwohl ADHS eine entwicklungsneurologische Erkrankung ist und ADHS-charakteristische Symptome per Definition bereits vor dem 12. Lebensjahr vorhanden sein müssen (DSM-5: American Psychiatric Association, 2015; ICD-11: World Health Organization, 2019), kommt es nicht selten vor, dass eine klinische Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wird (Caye, Sibley, Swanson & Rohde, 2017; Solanto, 2019). Vor allem das Vorliegen einer ADHS mit vorwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild begünstigt eine späte Diagnosestellung, da die Betroffenen weniger externalisierende Verhaltensmerkmale zeigen und andere ADHS-charakteristische Merkmale wie Unaufmerksamkeit, Ablenkbarkeit oder Tagträumerei eher „übersehen“ werden können (Mowlem et al., 2019). Interessanterweise scheint ADHS mit unaufmerksamem Erscheinungsbild häufiger bei Mädchen als bei Jungen vorzukommen, was die in der Literatur durchgängig berichteten höheren Prävalenzraten bei Jungen zumindest miterklären könnte (Tapar & Cooper, 2016).

Spezifische Lernstörungen

Spezifische Lernstörungen sind gemäß DSM-5 und ICD-11 definiert als entwicklungsneurologische Störungen („neurodevelopmental disorders“) und können weiter differenziert werden in Spezifische Lernstörungen mit Lesebeeinträchtigung (auch Dyslexie genannt), mit Beeinträchtigung im schriftlichen Ausdruck oder mit Beeinträchtigung in Mathematik (auch Dyskalkulie genannt). Gemäß DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) müssen für die Diagnosestellung vier Kriterien erfüllt sein: (a) mindestens eines von sechs Symptomen der betreffenden Lernstörung muss über mindestens 6 Monate vorliegen, trotz adäquater Interventionsmaßnahmen oder spezifischer Lerntherapie; (b) die Diagnose einer spezifischen Lernstörung muss auf einem standardisierten psychometrischen Testverfahren sowie einer ausführlichen klinischen Untersuchung basieren, wobei die erfasste Leistung signifikant unter dem für das Alter erwartbaren Wert liegen muss und die Lernstörung das schulische oder berufliche Fortkommen sowie die Alltagsaktivitäten beeinträchtigt; (c) das Alter der Erstmanifestation ist üblicherweise in der Schulzeit (obwohl sich in Einzelfällen die Krankheitssymptome erst im jungen Erwachsenenalter manifestieren können); und (d) als Ausschlusskriterien von spezifischen Lernstörungen werden folgende benannt: Intelligenzminderungen, sensorische Beeinträchtigungen (z. B. unkorrigierte Seh- oder Hörminderungen), psychische oder neurologische Störungen sowie soziale Benachteiligung, unzureichende Beschulung, mangelnde Beherrschung der Sprache der Instruktion.

Die Prävalenzraten für spezifische Lernstörungen im Kindesalter betragen zwischen 3 und 7 %, und zwar in etwa vergleichbar für Dyslexie und Dyskalkulie (Kaufmann & von Aster, 2020). Bis dato gibt es jedoch keine (nationalen oder internationalen) Prävalenzdaten von spezifischen Lernstörungen wie Dyslexie und Dyskalkulie im Erwachsenenalter. Spezifische Lernstörungen persistieren unbehandelt ins Erwachsenenalter (Kemp, Parrila & Kirby, 2009; siehe auch American Psychiatric Association, 2013; World Health Organization, 2019) und haben negative Auswirkungen auf die Berufswahl sowie auf den sozio-ökonomischen Status (inkl. des Gehalts) der Betroffenen (Bynner & Parsons, 2006). Daher ist eine differenzierte und möglichst frühzeitige Diagnose von spezifischen Lernstörungen wichtig, um die Betroffenen einer effektiven und maßgeschneiderten Intervention zuführen zu können.

Im Folgenden stellen wir kurze Fallvignetten von Studierenden mit spezifischen Lernstörungen mit Lesebeeinträchtigung bzw. Dyslexie (Herr H.) sowie mit Beeinträchtigung in Mathematik bzw. Dyskalkulie (Frau T.) vor.

Fallvignette Herr H. (Dyslexie)

Herr H. studiert Geologie und suchte die Lehr- und Forschungsambulanz des Instituts für Psychologie der Universität Innsbruck auf, da er im Masterstudium Probleme beim Rezipieren und Verstehen von englischen Texten habe. Er berichtet, dass er als Kind aufgrund gravierender Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen die Diagnose Lese-/Rechtschreibstörung (bzw. Dyslexie) bekam. Er habe mit Beginn in der Grundschule über mehrere Jahre ein intensives Lese- und Rechtschreibtraining erhalten. Diese Intervention sei effektiv gewesen, er könne mittlerweile deutschsprachige Texte flüssig und relativ rasch so lesen, dass er auch die Inhalte verstehe. Mit Ausnahme des Schriftspracherwerbs habe er gern und relativ leicht gelernt. Er habe beispielsweise ein sehr gutes Gedächtnis und habe sich beim Lese-/Rechtschreibtraining die Merkwörter sowie die grammatikalischen Regeln gut und rasch einprägen können.

Im Rahmen des Masterstudiums müsse er jedoch viele englischsprachige Texte lesen, was ihm sowohl in Bezug auf die Aussprache und die Lesegeschwindigkeit als auch in Hinblick auf das Textverständnis große Schwierigkeiten bereite. Auch in Bezug auf die englische Orthografie sei er sehr unsicher und es unterliefen ihm viele Rechtschreibfehler.

Der Grund der Konsultation unserer Ambulanz war nicht der Erhalt einer Diagnose (sowie eines entsprechenden Attests), die notwendig wäre, um einen Nachteilsausgleich zu beantragen. Vielmehr wünschte sich Herr H. von uns eine Beratung sowie Hinweise für effektive Übungen oder Interventionsprogramme zur Überwindung der Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten in der Fremdsprache Englisch.

Herr H. ist kein Einzelfall. Viele Betroffene, die eine spezifische Lernstörung mit Lesebeeinträchtigung (mit oder ohne Beeinträchtigung im schriftlichen Ausdruck) beim Schriftspracherwerb in der Muttersprache haben, haben ähnliche Probleme auch beim Erlernen der Fremdsprache (Crombie, 2000; Helland & Kaasa, 2005). Interessant ist zudem, dass ein erfolgreiches Lesetraining in der Muttersprache meist keine Transfereffekte auf den Fremdspracherwerb hat (Downey, Snyder & Hill, 2000; Toffalini, Losito, Zamperlin & Cornoldi, 2019).

Diagnostik und Intervention von Dyslexie bei Erwachsenen

Die Diagnostik von Dyslexie (sowie auch Dyskalkulie) bei Erwachsenen (DSM-5; American Psychiatric Association, 2013) ist im deutschsprachigen Raum Terra Nova. Es gibt derzeit keine standardisierten Testverfahren, die spezifisch für Erwachsene konzeptualisiert und normiert wurden (siehe die S3-Leitlinien für Lese-/Rechtschreibstörung: https://www.awmf.org). Aktuell gibt es vereinzelt Lese- und Rechtschreibtests für Kinder und Jugendliche, bei denen zwar Teilbereiche der Diagnostik auch an Erwachsenen normiert wurden, die jedoch weder umfassende noch differenzielle diagnostische Aussagen über die Lese- und Rechtschreibkompetenzen von Erwachsenen ermöglichen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags gibt es auch kein standardisiertes Diagnostikverfahren zur Erfassung von Dyslexie in der Fremdsprache Englisch (weder für Kinder noch für Erwachsene).

Interventionsmaterialien oder gar Interventionsprogramme für Erwachsene mit Dyslexie für die Fremdsprache Englisch gibt es bis dato ebenfalls nicht. Die auf dem Markt erhältlichen empirisch evaluierten Trainingsprogramme sind maximal für Schüler_innen bis zur Sekundarstufe entwickelt und normiert worden. Für den Einsatz bei Erwachsenen – inklusive der Studierenden – müssten diese Programme umfänglich angepasst werden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass diagnostische Angebote und Interventionen für Dyslexie (ähnlich wie für Dyskalkulie) bei Erwachsenen aktuell noch Mangelware sind. Die Entwicklung von theoretisch fundierten und empirisch evaluierten Testverfahren und Interventionsprogrammen für Dyslexie (und Dyskalkulie) im Erwachsenenalter ist eine dringliche Aufgabe für zukünftige Forschungsbemühungen.

Fallvignette Frau T. (Dyskalkulie)

Im Folgenden stellen wir Frau T. (18 Jahre) vor, die am Universitäts-Kinderspital Zürich für eine Dyskalkulie-Abklärung vorstellig wurde. Frau T. berichtet, dass sie seit der Primarschule im Unterrichtsfach Mathematik große Schwierigkeiten hatte. Allerdings habe sie durch Auswendiglernen in der Schule mithalten können, hätte in den anderen Fächern sehr gute Leistungen gezeigt und verfüge im Allgemeinen über sehr gute kognitive Fähigkeiten. In der Sekundarschule seien ihre Mathematikprobleme mit zunehmender inhaltlicher Komplexität deutlich zum Vorschein gekommen. Aufgrund der schlechten Mathematikleistungen habe sie die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium erst beim zweiten Mal und nur dank ihrer hohen Leistungsbereitschaft bestanden. Im Gymnasium habe sie den Anforderungen in Mathematik und Physik trotz wöchentlicher Nachhilfe und einem enormen Lernaufwand nicht mehr entsprechen können. Frau T. beschrieb die Situation folgendermaßen: „Nachdem sich meine Mathe- und Physiknoten trotz regelmäßiger intensiver Nachhilfestunden (vier pro Woche) nicht verbesserten, sondern ich im Gegenteil mit sehr schlechten Noten ins nächste Schuljahr startete, besorgte mich das unglaublich. Ich war ratlos und verzweifelt, denn trotz des vielen Lernens, fleißigen Arbeitens und dem damit verbundenen Aufwand konnte ich keine besseren Noten erzielen. Einmal mehr zweifelte und verzweifelte ich grundlegend an mir und stellte meine eigenen Fähigkeiten sehr infrage. Dies alles setzte mir stark zu, machte mich unglaublich traurig und müde, schwächte und zermürbte mich zusehends.

Ein spezifisches Förderangebot sei nicht zur Verfügung gestanden. Frau T. lerne bis zur Erschöpfung und verzichte auf sämtliche Hobbys und sozialen Kontakte. Sie habe in Folge auch eine Mathematikangst sowie depressive Episoden mit assoziierten Schlafstörungen und Panikattacken entwickelt. Sie müsse psychotherapeutisch behandelt werden und könne die Schule nicht mehr besuchen. Das Bestehen der Maturaprüfung (Anm.: Abitur) im Folgejahr sei aufgrund der schlechten Mathematik- und Physiknoten infrage gestellt, obwohl Frau T. in den anderen Fächern sehr gute Leistungen zeige. Ihr behandelnder Arzt habe den Verdacht auf Dyskalkulie geäußert, woraufhin Frau T. eine spezifische diagnostische Abklärung gemacht habe. Frau T. berichtet: „Einige Wochen später wurde mir eine eindeutige Dyskalkulie diagnostiziert und auch, dass ich überhaupt nicht ‚zu dumm‘, sondern am Gymnasium mit meiner Intelligenz und meinen kognitiven Ressourcen definitiv am richtigen Ort bin. Es hätte mir das Herz gebrochen, wenn herausgekommen wäre, dass ich für das Gymnasium zu dumm wäre, da ich noch immer so glücklich und gerne am Gymnasium bin, all das Interessante und Spannende lernen will, was da unterrichtet wird und mich so interessiert. Doch hätte ich dies dann wohl akzeptieren müssen. Zum Glück ist es aber nicht so. Wie Sie sich bestimmt vorstellen können, war diese Diagnose zwar nicht ganz einfach, und trotzdem eine riesige Erleichterung und Entlastung und auch endlich eine Erklärung, warum mir all mein Arbeiten und Lernen nicht wirklich auch nur annähernd den dazu passenden Erfolg bringt!

Frau T. berichtet, dass sie ihre Matura nur dank ihrer überaus hohen intrinsischen Motivation und Leistungsbereitschaft geschafft habe. Frau T.: „Dank der intensiven Nachhilfe (4 Stunden pro Woche), der Unterstützung meines Mathelehrers sowie sehr viel Fleiß und Ausdauer schaffte ich es in Mathe sogar auf eine aufgerundete 3.5.“ Das Wissen über ihre Lernstörung erleichtere ihr den Umgang mit Zahlen und Rechnen, so beschreibt Frau T.: „Zu wissen, dass ich unter Dyskalkulie leide, half mir, den enormen Druck und die Vorwürfe, welche ich mir all die Jahre über selbst machte, etwas zu nehmen. Der Druck, die damit verbundene Angst und der allgegenwärtige Stress ließen auch in anderen Lebensbereichen nach und ich fühle mich immer mehr angekommen. Nun (dank der Abklärung/Diagnose) weiß ich, dass ich nie dumm oder faul war, und habe dadurch wieder viel mehr an Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Lebensqualität gewonnen. Auch wenn ich merke, dass ich das Gestresst-Sein und die Angst, nicht genug zu tun und gut genug zu sein, sowie das selbstkritische Denken noch immer in mir habe. Ich arbeite jedoch auch mithilfe meiner langjährigen Psychotherapie mit stetigen kleinen Erfolgen daran, immer mehr davon loszulassen.“ Sie lerne immer besser, mit ihrer Dyskalkulie umzugehen und ihre Energie besser einzuteilen und vermehrt in ihre Stärken fließen zu lassen. So sei auch ihre Maturaarbeit entstanden (Anm.: Abitur), welche sie von der „ausgezeichneten, besten Maturaarbeit ihres Gymnasiums“ zum „Kantonalen Wettbewerb ausgezeichneter Maturitätsarbeiten“ bis hin zum Finale von „Schweizer Jugend forscht“ gebracht habe. Dort sei ihre Arbeit mit dem Prädikat „ausgezeichnet“ plus Sonderpreis gewürdigt worden. Frau T. habe nun ebenfalls das Aufnahmeverfahren des Studiengangs „Industrial Design“ der Universität Basel bestanden und erfülle sich so einen ihrer größten Wünsche: studieren zu können.

Vielen Jugendlichen mit einer mathematischen Lernstörung bleibt dieser Weg trotz der sonst guten Noten verwehrt. Auch Frau T.s schulische Karriere hätte sich mit gezielten und früher angebotenen Fördermaßnahmen sicherlich einfacher gestaltet. Als Studierende ist Frau T. auch heute noch auf die Akzeptanz und Unterstützung der Universität angewiesen, um eine ihren Fähigkeiten angemessene Leistung erbringen zu können. Da in fast allen Studienfächern der Geistes-, Natur- und Wirtschaftswissenschaften Statistikkurse und das Verstehen von Statistiken eine wichtige Rolle spielen, kann das Vorliegen einer Dyskalkulie besondere Hürden für die betroffenen Studierenden darstellen.

Auch die häufig mit Dyskalkulie assoziierten visuell-räumlichen Verarbeitungsschwierigkeiten (Kinder: Kaufmann & von Aster, 2020; von Aster, Kaufmann, McCaskey & Kucian, 2021; Erwachsene: Kaufmann, von Aster, Göbel, Marksteiner & Klein, 2020) können ein gravierendes Hindernis für die Ausbildung sein und somit auch die individuelle Berufswahl einschränken. Eine junge Frau mit Dyskalkulie, die ebenfalls am Universitäts-Kinderspital Zürich für eine Dyskalkulie-Abklärung vorstellig war und unbedingt Medizin studieren möchte, steht bereits beim Schweizer Aufnahmetest für Medizinstudierende vor einer schier unüberwindlichen Hürde, da dieser zu einem beträchtlichen Teil auch aus visuell-räumlichen Aufgaben besteht. Ohne die entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen und die notwendigen universitätsinternen und rechtlichen Rahmenbedingungen (siehe unten für eine detaillierte Ausführung) wird diese junge Frau, die sehr gute intellektuelle Fähigkeiten, eine hohe Sozialkompetenz sowie eine enorme intrinsische Motivation mitbringt, nicht die Chance bekommen, sich ihren größten Wunsch zu erfüllen: nämlich Medizin zu studieren, um eine gute Ärztin zu werden.

Diskussion

Basierend auf der oben dargestellten Situation von Studierenden mit neurokognitiven Beeinträchtigungen wie ADHS und spezifischen Lernstörungen möchten wir im Folgenden skizzieren, welche Bedingungsfaktoren aus unserer Sicht für eine reelle Partizipation und Inklusion von Studierenden mit Behinderung im universitären Setting notwendig wären. Die folgenden Ausführungen sind weder umfassend noch vollständig, sondern reflektieren ausschließlich die Meinung der Autor_innen und basieren auf deren beruflichen Hintergründen und persönlichen Erfahrungen als Neuropsycholog_innen, Klinischen Psycholog_innen, Neurowissenschafter_innen, Pädagog_innen oder Fachärzt_innen für Psychiatrie. Partizipation und Inklusion werden im universitären Setting von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die sich wechselseitig beeinflussen. Eine differenzierte Erfassung der individuellen Merkmale ist erforderlich, um einschätzen zu können, welche der in Abbildung 2 dargestellten extrapersonalen Faktoren in welchem Ausmaß (nämlich die universitätsinternen und sozialpolitischen Maßnahmen sowie die rechtlichen Grundlagen) Berücksichtigung finden sollten, um tatsächlich die laut UG angestrebte Chancengleichheit für die betroffenen Studierenden (und damit deren Partizipation im universitären Setting) gewährleisten zu können. Da in diesem Beitrag der Fokus auf Studierenden mit neurokognitiven Beeinträchtigungen (wie z. B. Aufmerksamkeits- und Lernstörungen) liegt, beschränken wir uns hier auf die spezifischen Anforderungen dieser Gruppe.

Abbildung 2 Tentatives Rahmenmodell zur Förderung der Partizipation von Studierenden mit Behinderung unter besonderer Berücksichtigung von neurokognitiven Beeinträchtigungen.

Individuelle Merkmale

Einen wichtigen Einflussfaktor stellen die individuellen Merkmale der betroffenen Studierenden mit neuropsychologischen Beeinträchtigungen dar. Die Erfassung dieser individuellen Merkmale geht jedoch weit über die oben beschriebene Diagnosestellung hinaus, die als Primärziel ein fachärztliches (bzw. klinisch-psychologisches oder psychotherapeutisches) Attest hat, anhand dessen das Vorliegen eines bestimmten Störungsbildes (z. B. ADHS) bestätigt wird und mit dem die/der Betroffene um einen Nachteilsausgleich ansuchen kann. Viel aufschlussreicher zur Beschreibung der individuellen Personenmerkmale sind zum einen eine differenzierte Erfassung der neuropsychologischen Leistungsprofile (Defizite und Ressourcen) und zum anderen die Erhebung von personenbezogenen Faktoren (wie z. B. Resilienz, Leistungsmotivation, besondere Begabungen). Letztere personenbezogene Merkmale haben einen wesentlichen Einfluss auf die Adhärenz der betroffenen Studierenden (Wu, Lowry, Zhang & Parks, 2021) und somit auch auf die Effektivität der in Abbildung 2 skizzierten extrapersonellen Maßnahmen.

Universitätsinterne Maßnahmen

Neben dem bereits im UG verankerten gesetzlichen Anspruch auf Nachteilsausgleich sollten die Universitäten weitere Maßnahmen zur Sicherstellung der Chancengleichheit aller Studierenden verbindlich implementieren (d. h. nicht nur bei Vorliegen einer Behinderung oder chronischen Erkrankung). Dazu zählen unter anderem das Angebot alternativer Lehrkonzepte (partizipative Lehre), flexibler Prüfungsmodalitäten (als Standard) sowie eine persönliche Leistungsbeurteilung, bei der anstatt der herkömmlichen Notengebung die Beurteilung qualitativer Leistungsmerkmale wie Engagement, intrinsische (!) Motivation, Problemlösekompetenzen etc. im Vordergrund stehen. Wir sind uns bewusst, dass die hier angeführten Maßnahmen einen Soll-Zustand darstellen, dessen Berücksichtigung oder gar Implementierung im universitären Alltag noch vor vielen Hürden steht. Nichtsdestotrotz sind wir überzeugt, dass in Hinblick auf die anzustrebende Chancengleichheit die universitäre Lehre und Leistungsbeurteilung kritisch zu betrachten ist und in großen Teilen einer grundlegenden Revision bedarf, die sich an der intellektuellen Vielfalt und Diversität der Studierenden orientieren sollte (und diese als Potenzial für die Entwicklung einer prosperierenden Bildungs- und Forschungseinrichtung anerkennen).

Letztere Anforderungen an ein effizientes Bildungssystem, das junge Menschen dazu befähigen sollte, Lernen zu lernen, wurde bereits im 19. Jahrhundert von Wilhelm von Humboldt formuliert (von Humboldt, 1959[1860]) und vom zeitgenössischen Philosophen Richard D. Precht nicht nur an die aktuelle Bildungslandschaft angepasst, sondern auch in Hinblick auf die zukünftige Arbeitsgesellschaft diskutiert (Precht, 2022; siehe auch Precht, 2013). Wie Precht (2022) korrekterweise konstatiert, sollten die Ziele von Bildungssystemen über die reine Wissensvermittlung hinausgehen und auch die Charakterbildung sowie eine vorurteilsfreie Kommunikation und den Umgang mit dem Scheitern schulen. Diese Kompetenzen sind zentrale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Lebensbewältigung. Universitätsinterne Angebote wie Buddy- und Mentoringprogramme könnten wesentlich dazu beitragen, diese bis dato noch extracurricularen Kompetenzen zu fördern. Unter der Annahme, dass bei Vorliegen von neuropsychologischen Beeinträchtigungen ein Teil der vorhandenen Ressourcen zur Kompensation der bestehenden Defizite benötigt werden (Livingston & Happé, 2017; siehe auch Castagna, Roye & Calarnia, 2019), sollten auch die fächerübergreifenden sozialen und persönlichkeitsbildenden Eigenschaften auf universitärer Ebene beachtet und gefördert werden.

Sozialpolitische Maßnahmen

Sollen Partizipation und Chancengleichheit von Studierenden tatsächlich gelingen, müssen zusätzlich zu den oben skizzierten universitätsinternen Maßnahmen auch die sozialpolitischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die den Transfer der Partizipation „in den Alltag“ anbahnen und fördern. Oder anders formuliert: Die Partizipation der Studierenden soll nach Beendigung der universitären Ausbildung auch in das Berufsleben (und die Berufsmöglichkeiten) „mitgenommen“ und übertragen werden.

Grundlage für einen solchen Transfer ist die gesellschaftliche Entstigmatisierung von Behinderung (inkl. von neuropsychologischen Beeinträchtigungen wie ADHS und spezifischen Lernstörungen sowie psychischen Erkrankungen wie Depression und Angststörungen), und zwar sowohl seitens der Arbeitgeber als auch seitens der Sozialgesellschaft (inkl. der Print und Social Media). Eng an die Entstigmatisierung gekoppelt sind die Akzeptanz und Toleranz von „Vielfalt“. Letztere wird von vielen Universitäten explizit angestrebt. Der Begriff der Vielfalt wird dabei teilweise unterschiedlich konzeptualisiert, was diesbezüglich einen direkten Vergleich zwischen den Universitäten erschwert. Und obwohl Themen wie Teilhabe, Vielfalt und Diversität in Hinblick auf Chancengleichheit auch im universitären Setting durchaus aktuell sind (wie exemplarisch an den Universitäten Marburg, Innsbruck und Zürich dargestellt, siehe Abbildung 3), ist die Implementierung differenzierter und effizienter Maßnahmen zur Förderung derselben noch lange nicht abgeschlossen.

Abbildung 3 Exemplarische Darstellung der Relevanz von Themen wie Teilhabe, Vielfalt und Diversität im universitären Setting.

Wünschenswert wäre auch die Schaffung von angemessenen Behandlungsangeboten für Studierende mit neurokognitiven Beeinträchtigungen. Dazu zählen beispielsweise neuropsychologische Interventionsverfahren (inkl. Neurofeedback), klinisch-psychologische Behandlungen (für die kognitiven und/oder assoziierten psychischen Probleme sowie zum Erlernen von Kompensations- und Bewältigungsstrategien; siehe z. B. Castagna et al., 2019), spezifische Lerntherapie, Psycho- und Verhaltenstherapie u. a. m.

Rechtliche Grundlagen

Im Idealfall sollten die im oberen Absatz erwähnten Behandlungsangebote für Studierende niederschwellig und kostengünstig (wenn möglich kostenfrei) angeboten werden. Auch die Zuständigkeiten in Bezug auf Diagnosestellung und die Verordnung von spezifischen Behandlungsangeboten sollten geklärt werden. Am Beispiel von ADHS wird deutlich, dass es noch vielerorts Unsicherheiten in Bezug auf die Zuständigkeiten für ADHS im Erwachsenenalter gibt. Wie oben erläutert, war eine ADHS-Diagnose bis 2013 auf das Kindesalter beschränkt, daher wurde die Diagnose und Behandlung von ADHS von den Kinder- und Jugendpsychiater_innen abgedeckt. Nun wenden sich die betroffenen Erwachsenen an die Fachärzt_innen für Psychiatrie bzw. an Psychotherapeut_innen, von denen ein Teil mit der „neuen Diagnose“ überfordert ist bzw. kaum praktische Erfahrungen hat. Ähnlich ist die Sachlage bei spezifischen Lernstörungen (Dyslexie, Dyskalkulie) im Erwachsenenalter.

Sowohl zur Überprüfung der Effektivität dieser Interventionen als auch zur Erhebung eines funktionellen Leistungsprofils (das bei Menschen mit und ohne Behinderung charakterisiert ist durch individuelle Ressourcen und Defizite) ist die Verwendung von medizinischen Diagnosesystemen wie der ICF (World Health Organization, 2001; siehe auch https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icf/icfhtml2005/) sehr empfehlenswert. Der Fokus der ICF liegt – im Gegensatz zur defizitorientierten ICD (aktuell in der 11. Version verfügbar; World Health Organization, 2019) – auf den individuellen Ressourcen und der damit assoziierten Teilhabe der Betroffenen.

Zu guter Letzt möchten wir noch festhalten, dass die gesetzliche Verankerung von Begriffen wie „Partizipation“, „Vielfalt“ und „Diversität“ ein erster wichtiger Schritt in Richtung Chancengleichheit ist, aber ohne die entsprechende Umsetzung (und Schaffung der Voraussetzungen für eine solche Umsetzung) nur eine verbale Floskel bleiben kann.

Synopsis

Diese Arbeit hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das primäre Ziel dieses Beitrags ist es, konzeptuelle und strukturelle Rahmenbedingungen aufzuzeigen, die Studierenden mit Behinderung (inkl. neurokognitiver Beeinträchtigungen) zu mehr Chancengleichheit verhelfen. Behinderung soll in diesem Zusammenhang nicht als statisch gegebenes, sondern als dynamisch veränderliches Merkmal und somit als Entwicklungsaufgabe angesehen werden. Aktuell wird die Chancengleichheit im UG zwar angestrebt, aber die Schaffung der dafür notwendigen Rahmenbedingungen steckt noch in den Kinderschuhen. Die Förderung von Vielfalt (z. B. von Studierenden ohne und mit Behinderung, von denen jede/jeder Einzelne über besondere Begabungen verfügt und Leistungsmotivation für das gewählte Studienfach mitbringt) kann nur dann gelingen, wenn das öffentliche Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Verbesserung der Situation der Studierenden mit Behinderung geschaffen wird. Erst dann wird es möglich sein, die notwendigen universitätsinternen und gesellschaftlich-rechtlichen strukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die intellektuelle Vielfalt aller leistungswilligen jungen Menschen (mit und ohne Behinderung) auf akademischem Niveau zu fördern und somit die Grundlage für eine prosperierende Gesellschaft zu sichern.

Literatur