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Free AccessEditorial

Psyche und Bewegung

Mind and movement

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000970

Ungefähr bei Kilometer 30 des Berlin-Marathons in diesem Jahr hielten Zuschauer_innen ein Schild hoch mit der Aufschrift: „Hurry up. Kipchoge is already drinking beer!“ Und die 47 999 Teilnehmenden, die nicht Kipchoge hießen, lächelten und bissen sich weiter durch die letzten 12 195 km. Einigen von Ihnen kommt das bekannt vor, andere werden Begriffe wie Anankasmus oder Sportsucht assoziieren. Und schon sind wir mitten im Thema. Der Stoiker Epiktet erklärt in seinem Handbüchlein der Moral: „Es verrät geistige Armut, sich dauernd mit dem Körper zu beschäftigen, zum Beispiel zu viel Sport zu treiben …“ (Schmidt, 1966). Sein Zeitgenosse Juvenal prägte dagegen die bis heute viel zitierte Redewendung: „Mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“. Emminghaus setzte Ende des 19. Jahrhunderts kalte Abwaschungen, feuchte Einpackungen und warme Vollbäder zur Behandlung der kindlichen Melancholie oder der Hypochondrie ein (Emminghaus, 1887). Sport und Bewegung finden sich eher als präventive Maßnahmen. Etwa ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wird körperlicher Betätigung auch ein therapeutischer Nutzen zugeschrieben (Asperger, 1968).

Moderne bewegungstherapeutische Konzepte fokussieren den Zugang zu Kindern und Jugendlichen über Bewegung und bieten eine Ausdrucksmöglichkeit oder ein Ventil für seelische Zustände. Sport und Bewegung im Kindes- und Jugendalter sind präventiv bezüglich des Auftretens psychischer (White et al., 2017) und kardiometabolischer (Mead et al., 2017) Erkrankungen und führen zu besseren kognitiven und schulischen Leistungen (Lees & Hopkins, 2013). Regelmäßige Teilhabe an sportlicher Aktivität verbessert zudem die Selbstwahrnehmung, Lebensqualität, das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeit (Eime, Young, Harvey, Charity & Payne, 2013).

Die öffentliche Wahrnehmung von Sport und Gesundheitsthemen hat sich, möglicherweise auch in diesem Zusammenhang, dahingehend gewandelt, dass hohe körperliche Aktivität gleichgesetzt wird mit Attraktivität, persönlichem und beruflichem Erfolg und einem längeren Leben. Influencerinnen wie Pamela Reif sind „super happy to be your online training buddy“. Rund 9.75 Millionen Abonent_innen auf Youtube und 9.3 Millionen Follower auf Instagram können mit ihr beispielsweise die „Good mood High Intensity Choreo – 10 Min Sweaty Endorphins“ absolvieren oder sich über Ernährung und Mode informieren. „Fitness“ bedeutet dabei nicht mehr nur Sport und körperliche Gesundheit, sondern wird zur Jugendkultur, zum sinnstiftenden Lifestyle (Bindel & Theis, 2020).

Den entgegengesetzten Pol bilden Kinder und Jugendliche mit Sport- und Bewegungsarmut, hoher Mediennutzung, kardiovaskulären Risikofaktoren und psychosomatischen Erkrankungen. Laut KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts (Welle 2) sind annähernd 75 % der Kinder und Jugendlichen sportlich aktiv und mehr als die Hälfte betreibt Sport im Verein. Es erstaunt in diesem Zusammenhang vielleicht, dass trotzdem weniger als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen das von der World Health Organization (WHO) vorgeschlagene Pensum von 60 Minuten moderater Bewegung pro Tag und drei Sporteinheiten pro Woche mit starker Intensität (World Health Organization, 2010) erreichen (Finger, Varnaccia, Borrmann, Lange & Mensink, 2018). Bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen, aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau und geringem Haushaltseinkommen sowie Migrations- oder Fluchtgeschichte ist die Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an organisiertem Sport geringer (Manz, Krug, Schienkiewitz & Finger, 2016). Sowohl krankheits- als auch systemimmanent ist der Zugang zu Sport- und Bewegungsangeboten mit erheblichen Hürden versehen. Eine Auseinandersetzung mit der Thematik scheint daher gerade an der Schnittstelle Helfersystem und Familie sinnvoll und wichtig.

Kinder- und Jugendpsychiater_innen, Psychotherapeut_innen, Fachtherapeut_innen und Mitarbeitenden im Pflege- und Erziehungsdienst begegnen Sport und Bewegung also auf ganz verschiedenen Ebenen – in der Beratung und Prävention, der Therapie, als Symptom oder Ressource.

Das vorliegende Themenheft nähert sich dem Zusammenhang von Psyche und Bewegung aus verschiedenen Perspektiven. Die Arbeit von Kauczor-Rieck, Allroggen und Gradl-Dietsch (2024) gibt einen Überblick über den Einsatz von Sport und Bewegung in der Therapie häufiger kinder- und jugendpsychiatrischer Störungsbilder. Neben Wirkmechanismen werden die Effekte verschiedener sport- und bewegungstherapeutischer Verfahren auf Symptomatik und Verlauf beschrieben. Darüber hinaus wird die AG Sportpsychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP) vorgestellt, die sich mit den Auswirkungen von Sport und psychischer Gesundheit in der klinischen Versorgung von Patient_innen befasst und gleichzeitig die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sportpsychiatrischen Fragestellungen zum Gegenstand hat.

Donath et al. (2024) zeigen in ihrer systematischen Übersichtsarbeit, die 17 aktuelle Studien einschließen konnte, die Auswirkungen sporttherapeutischer Interventionen auf verschiedene Zielvariablen wie Aufmerksamkeit und affektive Symptomatik, aber auch auf intra- und interpsychische Faktoren wie Lebensqualität oder soziale Kompetenz. In der zweiten Hälfte wird ein integratives gruppentherapeutisches Konzept vorgestellt, das sportliche Aktivität (Bouldern) mit psychotherapeutischer Arbeit bei Menschen mit Depression einsetzt. Die Autor_innen berichten erste Praxiserfahrungen der Methode für den Einsatz bei Jugendlichen.

Die dritte Arbeit (Mehren & Philipsen, 2024) fasst als narrativer Übersichtsartikel den Stand der Forschung zu Effekten von Sport und Bewegung bei Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen mit ADHS zusammen. Kurzfristig verbessern sportliche Einheiten die Aufmerksamkeit und Inhibitionsfähigkeit. Heterogenität bezüglich Intensität und Dauer der körperlichen Aktivität und Sportart erschweren die Beurteilung langfristiger Auswirkungen. Die Autorinnen stellen den Bedarf kontrolliert-randomisierter Studien, insbesondere an Erwachsenen, und zu neurophysiologischen Mechanismen der beschriebenen Effekte fest.

In der vierten Arbeit beschreiben Wunram, Kasparbauer, Oberste und Bender (2024) die Auswirkung von Bewegung auf neurophysiologische Aspekte der Depression im Jugendalter. Sporttherapie wirkt dabei nicht sequenziell, sondern gleichzeitig an verschiedenen Stellen pathophysiologischer Prozesse. Regelmäßige sportliche Aktivität führt zu einer negativen Rückkopplung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und zu einer Senkung von Entzündungsmarkern wie IL-6 und TNF-α. Neben der Konzeption des Trainings sind die subjektive Situation und die spezifischen psychosozialen Aspekte der Jugendlichen zu berücksichtigen.

Expert_innen auf dem Gebiet der Sport- und Bewegungstherapie kann das vorliegende Heft als Anregung für die eigene Praxis dienen. Wer sich eher in Jan Böhmermanns wunderbarem Bonmot: „Fußball ist wie Schach – nur ohne Würfel“, wiederfindet, wird der Thematik nach der Lektüre hoffentlich mehr abgewinnen können und sich trauen, sport- und bewegungstherapeutische Elemente in die Behandlung einfließen zu lassen.

Literatur

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  • Wunram, H. L., Kasparbauer, A.-M., Oberste, M. & Bender, S. (2024). Bewegung als Neuromodulator: Wie körperliche Aktivität die Physiologie der adoleszenten Depression reguliert. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 52, 77–93. First citation in articleLinkGoogle Scholar