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Open AccessOriginalarbeit

Case Management mit älteren Opioidabhängigen

Ergebnisse einer Mixed-Methods-Studie

Published Online:https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000845

Abstract

Zusammenfassung:Zielsetzung: Von 2015 bis 2017 wurde in Deutschland in einer multizentrischen Studie ein auf die Zielgruppe der älteren Opioidabhängigen angepasstes manualisiertes Case Management-Verfahren erprobt. Ziel war, die Umsetzbarkeit des Verfahrens in den Strukturen der deutschen Sucht- und Drogenhilfe und in Abhängigkeit von verschiedenen Settings (niedrigschwellige Einrichtungen, psychosoziale Beratung, betreutes Wohnen) zu analysieren. Methodik: Dazu wurden im Prä-Post-Design vor Behandlungsbeginn und nach Abschluss der sechsmonatigen Intervention quantitative Daten zu 62 Klienten und Klientinnen erhoben. Mit den 21 Fachkräften wurden qualitative Interviews durchgeführt und zusätzliche quantitative Daten zur Durchführung des Case Managements erhoben. Ergebnisse: Die Ergebnisse zeigen, dass Case Management mit älteren Menschen mit Substanzkonsumproblemen umsetzbar ist, dass Veränderungen möglich sind und dass sowohl die Fachkräfte als auch die Klientinnen und Klienten mit dem Verfahren gut zurechtkommen. Dabei zeigen sich Unterschiede zwischen den jeweiligen Settings. Die Rollenvielfalt der Case Manager und doppelte Hilfeplanverfahren erschweren die Umsetzung. Schlussfolgerungen: Ein an die Zielgruppe angepasstes und mit kostenträgerseitigen Hilfeplanverfahren abgestimmtes Case Management könnte dazu beitragen, die Lebenssituation älterer Opioidabhängiger zu verbessern.

Case Management with Older Opioid Dependents: Results of a Mixed-Method Study

Abstract:Aims: From 2014 to 2017, a manualized case management program adapted to the target group of aging opioid users was tested in Germany in a multicenter study. The aim was to analyze the feasibility of the procedure in the structures of the German addiction and drug treatment system and in different settings (low-threshold facilities, psychosocial counseling centers, assisted living homes). Methods: Quantitative data on 62 clients were collected in a pre-post design before the start of treatment and after completion of the six-month intervention. Quantitative data were also collected from 21 professionals in addition to qualitative interviews. Results: The results show that case management with older opioid users can be implemented, that changes are possible, and that both professionals and clients cope well with the process. The implementation differs depending on the setting. Case manager role diversity and duplicative treatment planning procedures complicate the implementation. Conclusions: Case management adapted to the target group and coordinated with other planning procedures could contribute to improving the living situation of older opioid users.

Einführung

Als Opioidabhängige werden Menschen bezeichnet, die illegales Heroin konsumieren und eine Abhängigkeit davon entwickelt haben oder die im Rahmen einer opioidagonistischen Behandlung mit Medikamenten wie Methadon, Polamidon oder Buprenorphin behandelt werden. Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa 166 300 Menschen mit einer Opioidabhängigkeit (Kraus et al., 2019).

Die wichtigste Behandlungsform für Opioidabhängigkeit ist in Deutschland wie in vielen anderen Ländern die opioidagonistische Behandlung in Arztpraxen oder auf diese Behandlung spezialisierten Ambulanzen. Von den geschätzten 166 300 Menschen mit einer Opioidabhängigkeit haben im Jahr 2019 94 381 an einer opioidagonistischen Behandlung teilgenommen (Kraus et al., 2019). Neben der medikamentösen Behandlung steht Opioidabhängigen in Deutschland ein ausdifferenziertes Netz aus Einrichtungen wie Konsumräumen und Anlaufstellen, Beratungsstellen und abstinenzorientierten therapeutischen Einrichtungen zur Verfügung (Schwarzkopf, Künzel, Murawski & Specht, 2022). Die Auswertung von Klientendaten aus den Suchthilfesystemen einzelner Bundesländer zeigen, dass das Durchschnittsalter der Opioidabhängigen zwischen 40 und 50 Jahren liegt (z. B. Martens & Neumann-Runde, 2021) und über die letzten zehn Jahre angestiegen ist – in Hessen etwa von 39.4 Jahren im Jahr 2011 auf 46.3 Jahre im Jahre 2021 (Neumann-Runde, Kalke & Werse, 2022).

Opioidagonistische Behandlung und ein insgesamt gut ausgebautes medizinisches und psychosoziales Hilfesystem haben dazu beigetragen, dass Menschen mit einer Opioidabhängigkeit älter werden. Misst man den Erfolg der Behandlung hingegen an der Überwindung der Opioidabhängigkeit und anschließender Abstinenz zumindest von Opioiden, sind die Ergebnisse eher bescheiden: Nur bei einer Minderheit gelingt eine in diesem Sinn erfolgreiche Beendigung der opioidagonistischen Behandlung (Verthein, Götzke, Strada & Reimer, 2017). Vor allem langjährig opioidabhängige Menschen sind oft durch weitere Erkrankungen und psychosoziale Problemlagen belastet. Opioidabhängige sind wesentlich häufiger als der Durchschnitt der Wohnbevölkerung von somatischen und psychischen gesundheitlichen Störungen (vgl. z. B. RKI, 2016; Strada et al., 2019) und von sozialen Exklusionserfahrungen wie prekären Wohnverhältnissen, Arbeitslosigkeit oder Hafterfahrung betroffen (vgl. z. B. Martens & Neumann-Runde, 2021; Neumann-Runde et al., 2022; Groenemeyer, 2012). Oft erschweren komplexe Drogenkonsummuster, zu denen z. B. Alkohol, Benzodiazepine und Crack gehören, die Behandlung. Hinzu kommt, dass opioidabhängige Menschen immer wieder Vorurteile, Diskriminierung und Stigmatisierung erleben. Mit Bezug auf Menschen mit Drogenproblemen kulminiert das im Label „Junkie“, in dem sich die Abwertung zusammenzuballen scheint (Noller, 1989; Vogt, Fritz & Kuplewatzky, 2015). Auch die medizinischen und psychosozialen Hilfesysteme sind davon nicht frei, wodurch Behandlungen und die Interaktionen zwischen Fachkräften und Klientinnen und Klienten zusätzlich erschwert werden (vgl. Gilchrist et al., 2011; Kuitunen-Paul, Kilian, Binder & Reichl, 2021; Lloyd, 2013; Rütsch & Haldimann, 2020; Schomerus, 2011; Vogt, 2017, 2023).

Mit zunehmendem Alter stellen sich vermehrt alterstypische gesundheitliche und psychosoziale Probleme ein, die nicht selten mit Mobilitätseinbußen verbunden sind (Hälg, 2021; Schmid & Vogt, 2018; Vogt, 2011). Dadurch verschieben sich sowohl die Themen, die für die Beratung und Betreuung von älteren Menschen in opioidagonistischer Behandlung relevant sind, als auch die Kooperationspartner, die zur Bewältigung dieser Probleme erforderlich sind. Zunehmend werden ambulante und stationäre Pflege- und Altenhilfeeinrichtungen relevant für ältere Opioidabhängige.

Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, bei älter werdenden Klientinnen und Klienten mit Case Management zu arbeiten. Wendt definiert Case Management so: „Case Management ist eine Verfahrensweise in Sozial- und Gesundheitsdiensten, mit der im Einzelfall die nötige Unterstützung, Behandlung, Förderung und Versorgung von Menschen rational bewerkstelligt wird und nach der sich Versorgungsprozesse in vielen Fällen und über Sektorengrenzen und fachliche Zuständigkeiten hinweg organisieren lassen“ (Wendt, 2014, S. 17). Dazu stützt sich Case Management auf ein Phasenmodell, in dem auf das Intake Assessment, Zielvereinbarung, Hilfeplanung, Linking (mit anderen Einrichtungen), Monitoring und – bei Bedarf – Re-Assessments und erneute Hilfeplanungen sowie eine abschließende Evaluation folgen. Entlang eines solchen Phasenmodells sollen Case Manager ihre Klientinnen und Klienten dabei unterstützen, individuelle Problemlagen und Ressourcen zu analysieren, sich erreichbare Ziele zu setzen, die zum Erreichen dieser Ziele notwendigen Hilfen (aus den unterschiedlichen Segmenten der Hilfesysteme, aber auch z. B. aus informellen Netzwerken) zu planen und zu erschließen und den Hilfeprozess auch bei auftretenden Problemen erfolgreich zu steuern. Erforderlich und sinnvoll ist eine solche Verfahrensweise bei komplexen und länger andauernden Problemlagen, bei denen mehrere Fachkräfte aus unterschiedlichen Diensten und Sektoren der gesundheitlichen und psychosozialen Versorgungs- und Hilfesysteme für opioidabhängige Menschen involviert sind (Schmid, Schu & Vogt, 2012).

Aufwendige internationale Metaanalysen zum Case Management in der Drogen- und Suchthilfe konnten wiederholt zeigen, dass Case Management anderen Hilfeansätzen gegenüber Vorteile aufweist, die sich insbesondere in versorgungssystembezogenen Indikatoren wie erfolgreichen Vermittlungen oder der Haltedauer und weniger in direkt auf den Konsum oder die Gesundheit bezogenen Indikatoren zeigen (Rapp, Van den Noortgate, Broekaert & Vanderplasschen, 2014; Vanderplasschen, Rapp, De Maeyer & Van den Noortgate, 2019).

In der Sucht- und Drogenhilfe im deutschsprachigen Raum ist Case Management durchaus umstritten. Für Sommerfeld, Dällenbach, Rüegger & Hollenstein (2016) ist ein „sozialtherapeutisches Case Management“ eine „Kernmethodik klinischer Sozialer Arbeit“ (Sommerfeld et al., 2016, S. 217f) in der Suchthilfe. Im „Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und Suchtprävention“ der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS, 2016) hingegen kommt Case Management erst auf Seite 50 unter der Überschrift „Perspektiven für die Aus- und Fortbildung“ vor. Ein umfassendes Case Management ist bislang in der Drogen- und Suchthilfe in Deutschland eher Ausnahme als Regel. Andererseits gehören viele Einzelschritte aus dem Handlungskonzept Case Management wie etwa Beratung, psychosoziale Diagnostik und Vernetzung zum gängigen Handlungsrepertoire psychosozialer Fachkräfte in der Suchthilfe. Case Management wurde in Deutschland im Rahmen der sogenannten Heroinstudie in Kombination mit Motivational Interviewing (MI) erprobt (Kuhn et al., 2007). Dabei hat sich gezeigt, dass das Verfahren hohe Anforderungen an die Case Manager stellt und umso erfolgreicher ist, wenn es nicht nur punktuell, sondern umfassend umgesetzt wird. Aktuellere Studien zu Umsetzbarkeit und Ergebnissen von Case Management in der Suchthilfe in Deutschland liegen nicht vor.

Die Suchthilfe hat sich in Deutschland in unterschiedliche Arbeitsfelder mit ebenso unterschiedlichen Rahmenbedingungen ausdifferenziert. Die Aufgaben der psychosozialen Fachkräfte unterscheiden sich je nach Arbeitsbereich, aber in allen Arbeitsbereichen müssen die Fachkräfte gleichzeitig mehrere Rollen einnehmen, z. B. als „Anwalt/Anwältin“ der Interessen der Klienten und Klientinnen, als „Gate-keeper“ oder als Vermittelnde in spezifische Hilfeangebote und als kontrollierende Person, die darüber wacht, dass die Regeln in den jeweiligen Institutionen eingehalten werden. Insbesondere in dieser letzten Funktion verfügen die Fachkräfte der Sozialen Arbeit in allen Settings über Machtmittel, die sie zur Durchsetzung von Regeln und Hausordnungen einsetzen können (Kraus & Krieger, 2021; Staub-Bernasconi, 2021). Es ist naheliegend, dass es zu Konflikten kommt zwischen den Rollen von Beratenden und Case Managern, die sich für die Interessen der Klientel einsetzten, und von kontrollierenden Personen, die Fehlverhalten registrieren und sanktionieren.

Im Rahmen der hier vorgestellten Studie wurde Case Management mit älteren opioidabhängigen Menschen erprobt. Dabei wurde folgenden Fragestellungen nachgegangen:

  1. 1.
    Wie gut gelingt es, Case Management mit älteren opioidabhängigen Menschen im Rahmen der Drogenhilfe in Deutschland umzusetzen?
  2. 2.
    Welche Veränderungsmöglichkeiten zeichnen sich ab, wenn mit Case Management gearbeitet wird?
  3. 3.
    Welche Zusammenhänge ergeben sich zwischen den unterschiedlichen Settings, in denen Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe arbeiten, und ihren Beziehungen zu ihren Klientinnen und Klienten?

Methodik

Studiendesign und Teilnehmende

Die Studie zu Case Management für ältere Opioidabhängige war Teil eines umfassenderen Forschungsprojektes, an dem neben der Hochschule Koblenz auch die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln beteiligt war. Die Studie wurde 2015 bis 2017 als multizentrische prospektive Verlaufsstudie mit einem Prä-Post-Design und einem Mixed-Methods-Ansatz durchgeführt. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen bewilligt.

In vier Städten in drei westdeutschen Bundesländern beteiligten sich zehn Drogenhilfeeinrichtungen mit insgesamt 21 Fachkräften an der Studie. Auf die Auswahl der Fachkräfte hatte die Studienleitung keinen Einfluss. Als Anreiz, an der Studie teilzunehmen, konnten die Fachkräfte das Zertifikat „Case Manager (DGCC)“ erwerben. Die Fachkräfte arbeiteten in unterschiedlichen Settings, die sich in die Bereiche niedrigschwellige Angebote, Psychosoziale Beratung sowie Betreutes Einzelwohnen und Betreute Wohngemeinschaften untergliedern lassen. Drei Fachkräfte arbeiteten vorwiegend (aber nicht ausschließlich) in niedrigschwelligen Einrichtungen, acht vor allem in der Psychosozialen Beratung und zehn im Betreuten Wohnen. Die Fachkräfte waren zwischen 28 und 58 Jahren und im Durchschnitt rund 44 Jahre alt, hatten überwiegend ein Studium in Sozialer Arbeit oder Sozialpädagogik und in Einzelfällen in Pädagogik oder Soziologie abgeschlossen und waren im Durchschnitt seit zwölf Jahren (Minimum 3 Jahre, Maximum 23 Jahre) in verschiedenen Segmenten in der Suchthilfe beschäftigt.

Die 21 Fachkräfte wurden umfangreich im Verfahren Case Management geschult (s. u.) und sollten in ihren jeweiligen Einrichtungen ältere Opioidabhängige, die die Einschlusskriterien für die Studie erfüllten, über die Studie und die Möglichkeit der (freiwilligen) Aufnahme in das Case Management informieren. Zu den Einschlusskriterien in die Studie gehörte ein Mindestalter von 45 Jahren, eine ICD-diagnostizierte Opioidabhängikeit sowie ein mindestens zehn Jahre andauernder Konsum von Opioiden. Interessierte, die aktuell keine Opioide konsumierten und auch nicht an einer opioidagonistischen Behandlung teilnahmen, waren von der Teilnahme ausgeschlossen. Um die Umsetzbarkeit von Case Management sinnvoll überprüfen zu können, sollten Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Studie Interesse am Case Management haben, über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen und nicht durch Einschränkungen des Hörens und Sprechens oder schwere Erkrankungen an der aktiven Mitwirkung am Case Management gehindert sein. Die Ein- und Ausschlusskriterien wurden mit Hilfe eines Screeningbogens und umfangreicher Vorgespräche von den Fachkräften überprüft.

Insgesamt wurden 62 Klientinnen und Klienten in den zehn Einrichtungen in die Studie aufgenommen. Alle Teilnehmenden an der Studie waren zu Beginn und zum Abschluss des Case Managements in opioidagonistischer Behandlung. Die Daten der 62 Klientinnen und Klienten, die zu Beginn und nach Beendigung der Studienphase erhoben worden sind, sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Tabelle 1 Soziodemographische Daten der Klientinnen und Klienten (N=62)

Mit einem Durchschnittsalter von 51.3 Jahren (Standardabweichung 5.2 Jahre) konnte die angestrebte Zielgruppe älterer Opioidabhängiger erreicht werden. Obwohl mehr als die Hälfte der an der Studie Teilnehmenden Kinder hatten, lebten die allermeisten aktuell nicht mit Partner/Partnerin und/oder Kindern zusammen, sondern allein. Die meisten lebten von Arbeitslosengeld II oder von Grundsicherung im Alter, nur wenige von Erwerbsarbeit oder einer eigenen Rente oder Pension. Das wirkt sich auf die finanzielle Situation aus: Die weitaus meisten Teilnehmenden hatten weniger als 500 Euro im Monat zur Verfügung.

Die Intervention: Case Management für ältere Opioidabhängige

Das im Rahmen der Studie umgesetzte Case Management-Verfahren orientiert sich an den Leitlinien, Standards und Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC, 2020) und richtet diese auf die Zielgruppe – Menschen mit einer Opioidabhängigkeit ab 45 Jahren – aus. Hierzu wurde ein Manual erarbeitet (Arendt, Follmann-Muth, Schmid & Vogt, 2017), das wiederum auf dem Manual „Motivational Case Management“ aufbaut, welches für die Erprobung von Case Management im Rahmen der sogenannten „Heroinstudie“ entwickelt worden war (Schmid et al., 2012). Während des Intakes wurden die Studienteilnehmenden über die Rahmenbedingungen der Studie wie etwa die Freiwilligkeit der Teilnahme, die geplanten Datenerhebungen sowie die Möglichkeit, jederzeit die Teilnahme zu beenden, informiert. Das Assessment wurde aus Gründen der Praktikabilität verkürzt, da die meisten älteren Opioidabhängigen in den Einrichtungen der Drogenhilfe bekannt waren und dort schon mehrfach Daten zur Anamnese und zur psychosozialen Diagnostik erhoben wurden. Dafür sollte im Assessment eine stärkenorientierte Perspektive im Sinne eines Strength Based Case Managements (Ehlers, Müller & Schuster, 2017; Rapp & Goscha, 2012) eingenommen werden. Weil das klassische Hilfeplanverfahren bei Abhängigen von illegalen Drogen wegen wechselnder Motivationslage und vielfältiger Krisensituationen immer wieder als schwer umsetzbar kritisiert worden war, wurden die Hilfepläne durch kurzfristigere – bei Bedarf wöchentlich neu zu erstellende – Aktionspläne ersetzt, die die jeweiligen Zielvereinbarungen unterstützen sollten. Im Aktionsplan sollte festgelegt werden, welche Aufgaben und Verpflichtungen der Klient oder die Klientin eingeht und welche von den Fachkräften übernommen werden. Das Hilfeplanverfahren wurde zudem mit Elementen der Problem Solving Therapy (Nezu, Nezu & D’Zurilla, 2013; Rosen, Morse & Reynolds, 2011) verknüpft, um ganz reale Probleme anzugehen, deren Lösung die Lebensqualität von Menschen mit langjährigen Drogenkarrieren steigert. Für alle Phasen des Case Managements wurde eine schriftliche Dokumentationsvorlage sowie ergänzende Instrumente für die Durchführung wie z. B. ein Fragebogen zu Stärken der Klientinnen und Klienten vorbereitet.

Diese personenzentrierte und kleinteilige Art der Hilfeplanung unterscheidet sich von den inzwischen immer häufiger von Kostenträgern der Sucht- und Drogenhilfe wie etwa den überörtlichen Sozialämtern eingesetzten Hilfeplanverfahren, die oft bürokratisch aufgebaut sind, mit weit in die Zukunft weisenden Zielen arbeiten, und die für die Bewilligung von Hilfeleistungen erforderlich sind. Im Mittelpunkt des hier umgesetzten Case Managements und Hilfeplanverfahrens stand die Suche nach möglichst konkreten individuellen Zielen und kurzfristigen Umsetzungsschritten. Für die Umsetzung des Case Managements waren je Einzelfall sechs Monate vorgesehen.

Das Manual diente als Grundlage für die Schulung der 21 Case Manager. Das Schulungskonzept orientierte sich an den „Standards und Richtlinien für die Weiterbildung Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen und in der Beschäftigungsförderung“ der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management e. V. (DGCC); es kombinierte Präsenzphasen mit Onlinephasen, selbst organisierten Regionalgruppen, Supervisionseinheiten, Fallarbeit und Fallreflexion und wurde mit einer Abschlussarbeit beendet. Insgesamt umfasste die von der DGCC zertifizierte Weiterbildung 210 Unterrichtseinheiten. Alle 21 Fachkräfte beendeten die Schulungen erfolgreich und erhielten das Zertifikat der DGCC.

Erhebungsinstrumente

Zu den Klienten und Klientinnen, die in die Studie aufgenommen worden sind, wurden vor Beginn des Case Management-Verfahrens (Erstbefragung T0) und dann noch einmal nach sechs Monaten zum Abschluss des Verfahrens (Zweitbefragung T1) mit einem standardisierten Interviewfragebogen Daten erhoben. In beiden Befragungswellen wurden Daten zur Gesundheit (in Anlehnung an den EuropASI sowie mit dem HEALTH-49, vgl. Rabung, Harfst, Kawski & Koch, 2009), zum Drogenkonsum (in Anlehnung an den ASI-Lite) und zur Lebenszufriedenheit (in Anlehnung an die Fragen zur Lebenszufriedenheit aus dem Katamnesefragebogen des Deutschen Kerndatensatzes in der Version 2.0 [DHS, 2010]) erhoben. Die Befragungen wurden von externen Interviewern – Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Hochschulen – durchgeführt. Als Anreiz für die Klientinnen und Klienten, an den Interviews teilzunehmen, wurden pro Interview jeweils Incentives in Höhe von 25 Euro ausgezahlt.

Für die Case Manager wurde ein eigenes quantitatives und qualitatives Fragebogenset entwickelt. Dazu gehörte die Erhebung von soziodemographischen Daten einschließlich der Abfrage der Zufriedenheit mit der aktuellen Arbeitsstelle sowie nach den Arbeitsmethoden, die sie in der Arbeit anwenden. In einer Verlaufsdokumentation musste für jeden Fall angegeben werden, bis zu welcher Phase sie im Case Management gekommen waren und wie gut sie die einzelnen Phasen umsetzen konnten. Dazu wurde eine fünfstufige Likert-Skala eingesetzt, mit der die Umsetzungsqualität der einzelnen Phasen zwischen den Polen „sehr gut“ und „sehr schlecht“ eingeschätzt werden sollte. In einer qualitativen Nachbefragung durch methodisch geschulte externe Interviewer (Studierende in Masterstudiengängen) wurden Fragen zur Beziehungsebene, zur eigenen Rolle, zu Interventionen und Methoden, zum Case Management und zur Zufriedenheit mit der Schulung und dem Projekt gestellt. Die qualitativen Interviews wurden aufgezeichnet und verschriftlicht.

Alle quantitativen Daten wurden mit dem Programmpaket IBM SPSS Statistics in der Version 28 ausgewertet. Qualitative Daten wurden – soweit möglich – quantifiziert und in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) bearbeitet und ausgewertet. Ausschnitte aus diesen Interviews werden an entsprechender Stelle dargestellt.

Ergebnisse

Klientinnen und Klienten

In Tabelle 2 sind die gesundheitsbezogenen Daten der Klientel, die in Anlehnung an den EuropASI erhoben worden sind, zusammengefasst. Bei allen Daten handelt es sich um Selbstangaben.

Tabelle 2 Krankheiten und Beschwerden in den letzten 30 Tagen vor der Erst- und Zweitbefragung (N = 62)

Der Gesundheitszustand der Klientinnen und Klienten in der Studie war eher schlecht. Der Anteil derjenigen, die gesundheitliche Probleme wie hohen Blutdruck, Venenerkrankungen, Atemwegserkrankungen (COPD), Arthritis und ähnliche körperliche Erkrankungen angegeben haben, war für die Altersgruppe vergleichsweise hoch. Aus dieser Zusammenstellung geht zudem hervor, dass die Zahl derjenigen, die wegen Beschwerden oder Krankheiten in Behandlung waren, im Untersuchungszeitraum leicht angestiegen ist. Zusätzlich war der Anteil derjenigen mit Zahnerkrankungen und damit der Bedarf nach einer entsprechenden Behandlung sehr hoch. Zahnbeschwerden kommen bei Menschen, die Drogen wie Heroin, Kokain und andere Substanzen nehmen, häufig vor (vgl. Vogt, 2009). Dazu kamen psychische Belastungen durch Ängste und Panikattacken, Depressionen und weitere Anzeichen psychischer Störungen. An Ängsten und Depressionen litten zu Beginn des Case Managements jeweils über 40 % der Klientel. Darüber hinaus hatten 79 % der Teilnehmenden schon einmal eine Hepatitis-C-Infektion. 11.3 % berichteten von einem positiven HIV-Testergebnis. Bei 22 Personen (35.5 %) war von den zuständigen Ämtern ein Grad der Behinderung festgestellt worden, bei 20 davon eine Schwerbehinderung (Grad der Behinderung mindestens 50). Eine Pflegstufe hatten zum Zeitpunkt der Erstbefragung lediglich drei der Teilnehmenden.

Auf zusätzliche Fragen danach, wie die Klientel pauschal genommen ihre Beeinträchtigungen durch die körperlichen Krankheiten und psychische Störungen (Fünferskala von 1 = sehr wenig bis 5 = sehr stark) einschätzt, zeigten sich im Untersuchungszeitraum bei den körperlichen Krankheiten keine signifikanten Veränderungen. Im Unterschied dazu haben jedoch die Beeinträchtigungen durch psychische Störungen signifikant abgenommen (von 2.56 auf 2.18, p = 0.07, Wilcoxon-Test).

Mit dem Health-49 wurden ebenfalls Daten zur Gesundheit, aber auch zum Wohlbefinden, zur Selbstwirksamkeit sowie zum Ausmaß und Umfang der subjektiv erlebten Sozialen Unterstützung und sozialen Belastung erhoben. Die Ergebnisse der Erst- und Zweitbefragung sind in Tabelle 3 zusammengefasst.

Tabelle 3 Angaben zur Gesundheit und zum Wohlbefinden (Health-49 Fragebogen) (N = 62)

Im Health-49 Fragebogen spiegelt sich der schlechte körperliche Zustand der Klientinnen und Klienten wider, der sich auch nach diesem Erhebungsinstrument im Untersuchungszeitraum wenig ändert. Betrachtet man die Daten zu den psychischen Störungen, findet man wenig Änderungen bei den Ängsten (hier: phobische Ängste), wohl aber bei der Depressivität, die signifikant zurückging (p = 0.046, Wilcoxon-Test).

In der Erst- und Zweitbefragung wurde in Anlehnung an den EuropASI auch nach dem Konsum von psychoaktiven Substanzen gefragt. Erhoben wurde, ob die Klientel verschiedene Substanzen in den letzten 30 Tagen konsumiert hat und wenn ja, an wie vielen Tagen. Die Ergebnisse sind in Tabelle 4 zusammengestellt.

Tabelle 4 Konsum von Alkohol und anderen Drogen in den letzten 30 Tagen (N = 62)

Nikotin wurde von fast allen Klientinnen und Klienten nahezu täglich konsumiert; daran änderte sich im Untersuchungszeitraum auch nichts. An der zweiten und dritten Stelle folgte der Konsum von Alkohol und der von Cannabis. Es ist bemerkenswert, dass nur rund die Hälfte der Klienten und Klientinnen angaben, dass sie zusätzlich zur opioidagonistischen Therapie alkoholische Getränke und Cannabis konsumiert hatten, und zwar an vergleichsweise wenigen Tagen pro Monat. Insgesamt änderten sich die Konsummuster während des Untersuchungszeitraums kaum. Lediglich bei Crack zeigte sich ein signifikanter Rückgang bei den Konsumtagen von 17 auf 5.1 Tage (p = 0.028, Wilcoxon-Test).

Die Zufriedenheit mit einer Reihe von Lebensbereichen zum Zeitpunkt der Erst- und Zweitbefragung wurde in Anlehnung an die entsprechenden Items aus dem Katamnesefragebogen des Deutschen Kerndatensatz in der Version 2.0 auf einer Skala von 1 = sehr zufrieden bis 6 = sehr unzufrieden erhoben. Niedrigere Werte bedeuten also eine höhere Lebenszufriedenheit. Die Antworten lagen meist im mittleren Bereich und schwankten zwischen einem Durchschnittswert von 2.8 für die Wohnsituation und den Suchtmittelgebrauch und 3.7 für die körperliche Gesundheit und den Bereich Straftaten und Delikte. Am unzufriedensten waren die Teilnehmenden mit einem Durchschnittswert von 4.3 mit ihrer finanziellen Situation. Während der sechs Monate Case Management zeigte sich ein signifikanter Anstieg der Zufriedenheit für die Bereiche „Eltern, Geschwister, Kinder“ und „Straftaten/Delikte“.

Bei der Zweitbefragung wurde auch folgende Frage aufgenommen: „Würden Sie einem Freund oder einer Freundin die Teilnahme an diesem Case Management-Programm empfehlen?“ 60 von 62 Klientinnen und Klienten (96.8 %) bejahten diese Frage.

51 von 62 Klientinnen und Klienten nutzten die Möglichkeit, in der Zweitbefragung weitere Kommentare zum Case Management-Verfahren abzugeben. Mehrere von ihnen sagten, dass ihnen der strukturierte Ansatz und die Festlegung konkreter Ziele geholfen hat: „Es ist gut, dass man die Ziele macht und nicht nur redet, dass es strukturierter und fundierter ist“, „Case Management gibt mir Struktur“. Positiv wurde auch erwähnt, dass die Case Manager die Ziele und geplante Aktionen schriftlich festhalten: „Die schreiben alles auf. Das ist gut. Erst hatte ich Bedenken.“ Eine Klientin war „erstaunt darüber, wie viel wir geschafft haben. Ziele haben sich aufgrund einer Krise nochmal geändert, aber die haben wir auch erreicht. Viel gemacht, was ich mir gar nicht mehr zugetraut habe. Fand es gut, dass jeder, also auch der Case Manager, seine Aufgaben hat. So habe ich mich nicht so allein gefühlt.“ Einem anderen Gesprächspartner ist es wichtig, so behandelt zu werden: „wie ganz normale Leute, so habe ich mich auch im Case Management behandelt gefühlt“.

Umsetzung und Qualität des Case Managements

In der Verlaufsdokumentation haben die Case Manager für jeden Fall angegeben, welche Phasen aus dem Phasenmodell umgesetzt werden konnten. Das Intake konnte bei allen Klientinnen und Klienten umgesetzt werden und das Assessment bei fast allen. Zielvereinbarungen und Aktionspläne sind mit drei von vier Klientinnen bzw. Klienten ausgearbeitet worden, Linking (also Vernetzung mit anderen Diensten usw.) bei gut zwei Dritteln der Fälle. Immerhin konnte in gut der Hälfte der Fälle das Verfahren manualkonform beendet und eine Evaluation vorgenommen werden. Allerdings monierten viele Case Manager, dass sechs Monate zu kurz waren, um das Phasenmodell komplett umzusetzen.

In der Verlaufsdokumentation wurden die Case Manager dann nach der Qualität der Umsetzung der einzelnen Phasen des Case Managements gefragt. In Tabelle 5 ist der Anteil der Fälle dargestellt, bei denen die Umsetzung der jeweiligen Phase als „sehr gut“ oder „eher gut“ bewertet wurde.

Tabelle 5 Qualität der Umsetzung des Case Management-Verfahrens „sehr gut“ oder „gut“ nach Setting

Intake und Assessment wurden bei den meisten Klienten und Klientinnen als „sehr gut“ oder „gut“ umsetzbar eingeschätzt. Die Einschätzung darüber, wie gut die weiteren Phasen des Case Managements umgesetzt werden konnten, variierte mit den Settings. In niedrigschwelligen Einrichtungen scheint es schwieriger zu sein, Zielvereinbarungen, Aktionspläne und Vernetzungen durchzuführen. Und eine förmliche Fallbeendigung sowie eine Evaluation des Verfahrens funktioniert in diesem Setting im vorgegebenen Zeitraum gar nicht. Im Betreuten Wohnen und in der PSB lassen sich Zielvereinbarungen recht gut ausarbeiten. Bei den Aktionsplänen und allen weiteren Phasen zeigen sich jedoch einige Unterschiede zwischen diesen beiden Settings. In den qualitativen Interviews haben die Case Manager mehrfach darauf hingewiesen, dass es in Einrichtungen des betreuten Wohnens Überlappungen zwischen dem Case Management-Verfahren und dem durch die Kostenträger vorgegebenen Hilfeplanverfahren gab. Mehrere Case Manager haben berichtet, dass sie zwei getrennte Hilfeplanverfahren – eines für das Case Management, eines für die Kostenträger – durchführen mussten.

Die Fokussierung auf die Gegenwart und auf die Bedürfnisse der Klientel ging für beide Seiten mit neuen Erfahrungen einher, wie die folgenden Aussagen von Case Managern belegen. „Die Aktionspläne waren natürlich schon ganz hilfreich irgendwie […]. Die Zielvereinbarungen waren richtig überraschend für mich teilweise, weil die Klienten halt Ziele nannten, wo ich teilweise gar nicht dachte, dass die so Priorität hatten“ (w, 14; Zur Zuordnung der Zitatquellen sind in Klammern das Geschlecht der Person – w = weiblich, m = männlich – sowie die Nummer des Interviews angegeben). „Im Rahmen des Case Management konnte ich noch einmal einen Schritt zurück gehen, was ich oft genug nicht mache, und die Klienten tatsächlich zu fragen, was sind denn eure Ziele? Und dann kam wirklich nochmal was ganz Anderes raus. Obwohl ich die Leute seit [Jahren] betreue, wurden dann Ziele genannt, von denen ich nie ausgegangen wäre. Also das fand ich sehr gut beim Case Management und bei Aktionsplanung […]“ (w, 7).

Tatsächlich waren die Ziele der Klientinnen und Klienten oft sehr kleinteilig, wie in folgendem Fall. „Also ein Thema war jetzt z. B. während der Studie „Brille machen“. Brille, eine Brille machen beim Optiker. Ja und das war eine Zielvereinbarung mit einem Aktionsplan, wie machen wir das? Und dann hat das wunderbar geklappt […]“ (w, 6).

In dieser Studie wurde im Aktionsplan zudem festgelegt, welche Aufgaben und Verpflichtungen der Klient oder die Klientin eingeht und welche von den Fachkräften übernommen werden. Das scheint sich zu bewähren, denn die Case Manager sind ganz überwiegend der Meinung, dass diese Pläne schriftlich festgehalten werden sollen. Im Idealfall sollen die Klientinnen und Klienten die Aktionspläne auch unterschreiben und eine Kopie davon behalten. Einige Fachkräfte gehen davon aus, dass mit der Verschriftlichung einige Vorteile verbunden sind: „[…] also dieses Visualisieren, wenn man es dann auch wirklich einträgt, als eine Zielvereinbarung. Ich habe das eigentlich als hilfreich empfunden und als gut. Ich habe aber auch früher schon immer gerne in den Hilfeplänen mit den Klienten die Ziele so festgeschrieben und habe gesagt: Guck mal da steht es doch, das ist dein Ziel. Man kann es dann ja auch immer mal wieder hervorholen“ (w, 6).

Abgesehen von den Vorteilen, die mit dem Case Management in der Zusammenarbeit mit der Klientel verbunden sein können, gab es auch kritische Anmerkungen unter anderem zur Dokumentation und allgemein zum Einsatz von Methoden wie Fragebogen und Netzwerkkarten oder der Zusammenstellung von Gefahrensignalen wie in der Rückfallprävention. Moniert wurden die vielen Dokumentationsarbeiten in diesem Projekt, wie folgenden Aussagen belegen. „Es ist sehr viel Schreib-, Papierkram. Da hat mir manchmal die Zeit gefehlt das so genau zu dokumentieren […] und ich habe da manchmal ein bisschen geschludert. Das merke ich dann im Nachhinein […] dass ich da nicht immer auf dem neusten Stand war, dass ich da noch einmal nacharbeiten musste und das hat einfach viel Zeit gekostet“ (w, 17).

„Äh ja ich sehe es einerseits ein, dass viele Instrumente und Dokumentation sinnvoll [sind], aber sie gefällt mir natürlich nicht; den Sinn kann ich sehr wohl erkennen, ähm, den Aufwand dafür den zu betreiben, das mache ich nicht so gerne“ (m, 15).

Zwar wurde von vielen Case Managern anerkannt, dass die Dokumentation und der Einsatz von Instrumenten z. B. zur Erhebung von Stärken der Klientel oder von spezifischen Problemlagen sinnvoll sein können, aber aus Sicht mancher Fachkräfte überwiegen die Nachteile. Sie vermuteten, dass die Klientinnen und Klienten, die z. B. einen Stärkenfragebogen ausfüllen sollen, sich wie „beim Amt“ und bei einer Antragsstellung fühlen, was mit negativen Gefühlen assoziiert wird. Das gilt aus Sicht dieser Case Manager nicht für Gespräche, in denen keine Hilfsmittel eingesetzt werden. Es fällt auf, dass die Case Manager insgesamt genommen nur wenige Methoden benannten, mit denen sie gewöhnlich arbeiten. Dennoch war den meisten „methodisches Handeln“ wichtig. Sie verstehen darunter strukturiertes und reflektiertes Handeln, das allerdings nur sehr lose mit theoretischen Positionen, davon abgeleiteten Methoden und dem Einsatz von passenden Instrumenten verbunden zu sein scheint.

Zur Komplexität der Rollen der Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe

Wie eingangs dargestellt, müssen Case Manager in der Suchthilfe verschiedene Rollen einnehmen und miteinander in Übereinstimmung bringen. Im Sinne der Sozialgesetzbücher sowie der Träger der Einrichtungen geht es um die Rollen von Beratenden und von anwaltschaftlichen Vertretern der Interessen der Klientel sowie von „Gate-keepern“, also der Instanz, die – im besten Fall in Absprache mit den Klienten und Klientinnen – entscheidet, welche Hilfepakete zusammengestellt und in Gang gesetzt werden (z. B. Bingler & Engler, 2021). Dazu kommen Kontrollfunktionen. Als Kontrolleure verfügen sie über Macht (Kraus, 2021). Zu ihren Machtmitteln zählen neben vielen subtilen Formen der Diskriminierung eine Reihe von Sanktionen, die in der Regel in Hausordnungen kodifiziert sind. In den qualitativen Interviews mit den Case Managern finden sich vielfältige Hinweise auf Rollenkonflikte, die sich aus den unterschiedlichen Rollen und den damit verbundenen Erwartungen ergeben. Besonders scharfe Sanktionen sind z. B. (zeitlich befristete) Betretungsverbote von Anlaufstellen und die „disziplinarische Entlassung“ aus dem Betreuten Wohnen. In letzterem Fall finden sich Klientinnen und Klienten auf die Straße wieder; sie müssen dann sehen, wie sie als Obdachlose überleben.

Als Beratende und als Vertreter der Interessen der Klientel ist es wichtig, eine gute und vertrauensvolle Beziehung zu den Klientinnen und Klienten aufzubauen. Das war allen 21 Case Managern wichtig; sie betonten in diesem Zusammenhang soft skills wie empathische Zuwendung und das aktive Zuhören (im Sinne von Miller & Rollnick, 2015). Dazu kommt noch Zuverlässigkeit, das heißt, dass die Klienten und Klientinnen darauf vertrauen können, dass die Case Manager auch das tun, was sie versprochen haben, wie das folgende Zitat belegt: „Also ich glaube zum einen ist, äh, eine Zuverlässigkeit ist unbedingte Voraussetzung, also, dass die Klienten einfach wissen, dass ich zuverlässig bin in der Beziehung, in der Arbeit, ja dass wir irgendwas vereinbaren, was ich vielleicht erledige oder so, dass das dann auch wirklich, dass die wissen: Okay, das passiert […] und dadurch baut sich ja dann auch irgendwie Vertrauen auf, ne […]“ (w, 10).

Für die Klientel stellt sich allerdings immer die Frage, wieviel Vertrauen sie sich „leisten“ können, beziehungsweise was sie ihren Case Manger besser nicht sagen. Wenn etwa Cannabiskonsum im Betreuten Wohnen ein Entlassungsgrund ist, haben die Klientinnen und Klienten gute Gründe, den Konsum von Cannabis ebenso zu verschweigen wie den von anderen psychoaktiven Substanzen, die sie sich auf dem Schwarzmarkt besorgt haben. Wie schwierig es ist, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, wenn man gleichzeitig kontrollieren und sanktionieren muss, belegt folgende Aussage besonders gut: „Im betreuten Wohnen ist es manchmal auch ambivalent, weil man hat dieses vertrauensvolle Verhältnis und möchte das auch aufbauen, möchte das auch schützen. Nichtsdestotrotz weiß der Bewohner ganz genau, wenn ein Rückfall rauskommt ist er gefährdet ausziehen zu müssen. Also wie vertrauensvoll kann dann die Beziehung sein oder wie vertrauensvoll oder wie verantwortungsbewusst gehen wir mit dem Wissen um, dass jemand rückfällig ist? Das ist immer so die Krux bei dem vertrauensvollen Verhältnis im betreuten Wohnen […]“ (w, 7).

Neben Verstößen gegen Hausordnungen sind auch „Grenzüberschreitungen“ Anlass für Sanktionen. Dabei kann es um Streitereien und lautstarke Wortwechsel ebenso gehen wie um mangelhafte Hygiene oder unentschuldigte Terminausfälle. Das können sowohl in Anlaufstellen ebenso wie in Beratungsstellen Anlässe sein, um Sanktionen einzusetzen. Manche Einrichtungen haben elaborierte Sanktionssysteme ausgearbeitet, deren Umsetzung wiederum zu den Aufgaben der Case Manager gehört.

Die qualitativen Interviews zeigen, dass es ein enormes Spannungsverhältnis gibt zwischen den verschiedenen Rollen, die Case Manager gleichzeitig einnehmen sollen. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann auch viele Aussagen der Case Manager zur Charakterisierung der Klientinnen und Klienten einordnen. Diese sind einerseits ehrlich, offen und ungefiltert (im Sinne von gerade heraus und im Ton und in der Ausdrucksweise nicht selten auch direkt) und andererseits misstrauisch und verschlossen, sie sind aggressiv, grenzüberschreitend und fordernd, aber auch jammerich und resigniert, sie sind unzuverlässig, verlogen und ungeduldig und viele haben Probleme mit der Hygiene (sie stinken). Das Bild, das sich daraus ergibt, ist in gewisser Weise doppelbödig, wobei negative Charakteristika dominieren.

Eine Reihe dieser Aussagen und Einschätzungen sind der schwierigen Lage geschuldet, in der sich die Fachkräfte befinden, wenn sie einerseits die Interessen der Klienten und Klientinnen vertreten sollen, sie aber andererseits sanktionieren müssen. So kommt es, dass Fachkräfte mit dazu beitragen können, dass sich Stereotypen von Menschen mit Suchtproblemen verfestigen (vgl. Rütsch & Haldimann, 2020; Schomerus, 2011, 2017; Vogt, 2023).

Es gibt auch kritische Stimmen zu den in mancher Hinsicht vergleichsweise negativen Einschätzungen der Klientel. Das liegt nach Meinung einiger Fachkräfte daran, dass man zu oft auf die Defizite der Klientinnen und Klienten abhebt und zu wenig auf ihre Stärken, die sie ja auch haben. Sie sind eben nicht nur „Suchtkranke“ und „Junkies“, sondern Menschen mit vielen Facetten und Fähigkeiten, die jedoch in der Suchthilfe zu wenig beachtet und zu selten positiv genutzt werden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Case Manager in dieser Studie die Bedeutung der Beziehungsebene sehr gut kannten und dass sie sich pauschal genommen um gute Beziehungen zu ihren Klientinnen und Klienten bemühten. Quer dazu liegen die Beurteilungen der Klientel, in denen negative Eigenschaften dominieren und positive Eigenschaften vergleichsweise selten genannt werden. Das kann die Aufnahme und Aufrechterhaltung einer vertrauensvollen Beziehung erschweren.

Diskussion

Eine vollständige Umsetzung des Case Managements innerhalb der vorgesehenen sechs Monate ist bei etwa jedem zweiten Fall gelungen. Wie diese Studie zeigt, lässt sich Case Management in den Strukturen der deutschen Suchthilfe durchaus umsetzen (Frage 1). Die Ergebnisse weisen aber auch auf Probleme hin. Die Durchführung von zwei parallelen Hilfeplanverfahren – eines für den Kostenträger und eines für die konkrete Arbeit mit den Klientinnen und Klienten – kann nicht sinnvoll sein. Das Case Management-Verfahren, das in dieser Studie umgesetzt werden sollte, unterscheidet sich vor allem in zwei Punkten von anderen Verfahren: Es setzt zum einen im Kurzassessment darauf, die Stärken der Klientinnen und Klienten herauszuarbeiten, und es fokussiert zum anderen auf kurzfristige konkrete Ziele, die diesen wichtig sind und die in wenigen Monaten erreicht werden können. Das führt bei etlichen Klienten und Klientinnen zu einem Motivationsschub und dazu, dass die Ziele dann auch erreicht werden. Das sind Erfolgserlebnisse, die für beide Seiten förderlich sind.

Die Studie zeigt weiterhin, dass es Settings gibt, in denen sich Case Management nur schwer umsetzen lässt. Das belegen die Daten und Mitteilungen der Case Manager, die in niedrigschwelligen Kontaktstellen arbeiteten. Settings wie die Arbeit in Beratungsstellen und in Betreuten Wohnformen begünstigen den Aufbau von guten Beziehungen zwischen Fachkräften und der Klientel und die strukturierte Arbeitsweise im diesem Phasenmodell.

Es lag sowohl an den Case Managern als auch an den Klientinnen und Klienten, dass es zu Abbrüchen kam. In einigen Fällen führten äußere Faktoren (wie Haftbefehle oder Klinikaufenthalte) zur vorzeitigen Beendigung. In anderen Fällen brachen die Klienten und Klientinnen die Zusammenarbeit ab oder die Case Manager waren mit Arbeit so überlastet, dass sie keine Zeit mehr fanden für das vergleichsweise zeitaufwendigen Case Management-Verfahren. Fachkräfte wie Klientinnen und Klienten wiesen auf die strukturierende und motivierende Wirkung des Case Managements hin. Die Kommentare belegen, dass die Intervention mit Case Management bei der Klientel gut angekommen ist. Viele schätzen das besondere Engagement, das die Case Manager in den Prozess eingebracht haben. Die Fachkräfte erwähnten allerdings auch den zusätzlichen Aufwand, der mit dem Case Management verbunden ist.

Pauschal genommen ist die körperliche Gesundheit von älteren Opioidabhängigen nicht sonderlich gut und daran ändert eine sechs Monate dauernde Case Management-Intervention wenig. Auch die Belastungen durch Ängste und Panikattacken scheinen sich in diesen sechs Monaten wenig zu ändern. Anders sieht es bei den Depressionen aus: hier ist eine signifikante Verbesserung zu erkennen (Frage 2). Das wirkt sich auf die Einschätzung des psychischen Wohlbefindens aus, das sich ebenfalls verbessert. Dass sich die psychische Befindlichkeit im Laufe der Intervention mit Case Management insgesamt verbessert, passt zu den Erwartungen, zum einen, weil die Anliegen und Wünsche der Klientinnen und Klienten im Fokus der Beratungen und Unterstützungen stehen, und zum andern, weil die Klientinnen und Klienten in dieser Zeit mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung erhalten. Insgesamt genommen wird damit unsere Annahme, dass sich durch die Case Management-Intervention die psychische Befindlichkeit verbessert, unterstützt.

Hinsichtlich des Konsums von psychoaktiven Substanzen ergeben sich nur beim Crackkonsum signifikante Veränderungen. Auch die Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen verändert sich wenig. Lediglich bei den Beziehungen zu Familienmitgliedern und in Hinblick auf die Strafverfolgung verbessert sich die Zufriedenheit signifikant. Kurz, es gibt Erfolge, die zu der Case Management-Intervention passen. Wir können allerdings nicht nachweisen, dass das Case Management ursächlich für diese Verbesserungen ist.

Beim Case Management mit älteren Opioidabhängigen zeigen sich in den qualitativen Interviews mit den Case Managern Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Rollen, die die Case Manager übernehmen müssen (Frage 3). Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, zieloffene Beratung und anwaltschaftliche Vertretung gegenüber anderen Organisationen vertragen sich nur schlecht mit Kontrollfunktionen, wenn etwa die Case Manager darüber entscheiden, ob Klientinnen und Klienten in Anlaufstellen eingelassen werden, ob sie Beratung im Kontext der opioidagonistischen Behandlung weiter in Anspruch nehmen können oder ob sie ihren Platz in einer Betreuten Wohngemeinschaft behalten können. Wenn Case Manager stigmatisieren, werden die auf Empowerment zielenden Potenziale des Case Managements vergeben.

Weitere Studien sind erforderlich, um die Wirksamkeit von Case Management im Vergleich zu anderen Handlungskonzepten in der Sucht- und Drogenhilfe bei unterschiedlichen Zielgruppen herauszuarbeiten und – je nach Ergebnissen – zu bewerten. Dabei sollten die Potenziale quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden ausgeschöpft und kombiniert werden und die Perspektive sowohl von Fachkräften als auch der Klientel aufgenommen werden.

Limitationen und Stärken der Studie

Die Aussagekraft der quantitativen Daten ist begrenzt durch die niedrige Fallzahl. Ziel der Studie war es, die Umsetzbarkeit des skizzierten Manuals bei älteren Opioidabhängigen zu erproben und Hinweise auf Veränderungspotentiale zu untersuchen. Ein kausaler Zusammenhang kann aus den im Prä-Post-Design erhobenen Daten nicht abgeleitet werden. Hierzu wäre ein Kontrollgruppendesign erforderlich. Bei den gesundheitsbezogenen Daten handelt es sich um Selbstangaben und nicht um gesicherte Diagnosen.

Zu den Stärken der Studie gehört, dass die Schulungen der Case Manager nach den Weiterbildungsstandards der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC) erfolgt sind und von den Fachkräften gut aufgenommen und positiv bewertet worden sind. Weiterhin gehört es zu den Stärken der Studie, dass alle quantitativen und qualitativen Daten von externen Interviewern erhoben wurden. So konnten Bias, die mit der Datenerhebung zusammenhängen können, weitgehend vermieden werden.

Schlussfolgerungen Für die Praxis

  • Psychosoziale Fachkräfte übernehmen in der Sucht- und Drogenhilfe unterschiedliche Rollen. Eine sanktionierende Rolle steht im Widerspruch zur unterstützenden Rolle im Case Management. Stigmatisierungen verhindern Veränderungsprozesse und sollten unterbleiben.
  • Doppelte Hilfeplanverfahren sollten vermieden werden. Wenn Kostenträger Vorgaben für die Hilfeplanung machen, sollten diese mit dem Case Management abgestimmt werden.
  • Einzelne Elemente des Case Managements wie Beratung, psychosoziale Diagnostik, Zieldiskussionen und Hilfeplanung werden in der Praxis der Drogenhilfe seit Jahren routiniert angewandt. Die Kombination dieser einzelnen Methoden zu einem umfassenden Case Management kann gerade ältere Drogenabhängige dabei unterstützen, Ziele und Veränderungswünsche zu formulieren und auch umzusetzen.
  • Das stärkenorientierte Kurzassessment, die Suche nach kurzfristig umsetzbaren Zielen, die den Klientinnen und Klienten wichtig sind, und die Aktionspläne zur Erreichung dieser Ziele haben sich bewährt. Damit ist eine spürbare Verbesserung der Lebenssituation schneller erreichbar als mit langfristigen und oft vage formulierten Hilfeplänen.

Wir bedanken uns bei den Suchthilfeeinrichtungen, die bereit waren, Fachpersonal für die Studie abzustellen. Unser besonderer Dank geht an die 21 Case Manager, die das Verfahren vor Ort angestoßen und durchgeführt haben, sowie an die 62 Klientinnen und Klienten, die bei dem Case Management-Verfahren mitgemacht haben. Die Studie wurde finanziell gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (FKZ: 13FH005SA4).

Literatur