Skip to main content
Open AccessPositionspapier

Empfehlungen zum Umgang mit Alkohol

Published Online:https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000868

Abstract

Zusammenfassung:Ziele: Die bisherigen Empfehlungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zum Umgang mit Alkohol gingen von einem Grenzwert für risikoarmen Konsum aus. Ziel dieser Stellungnahme ist, diese Empfehlung zu aktualisieren. Methode: Es erfolgte eine narrative Sichtung der aktuellen Literatur hinsichtlich des Zusammenhangs von Alkoholkonsum und der Entwicklung von Morbidität und Mortalität durch eine Arbeitsgruppe des Wissenschaftlichen Kuratoriums der DHS. Die Zusammenfassung der Evidenz und die daraus abgeleiteten Empfehlungen wurden innerhalb des gesamten Kuratoriums konsentiert und vom Vorstand der DHS modifiziert beschlossen. Ergebnisse: Ein positiver Zusammenhang von Alkoholkonsum und Gesundheit, wie er in früheren Studien gefunden wurde, ist auf methodische Mängel zurückzuführen. Somit kann nicht von einer gesundheitsförderlichen Wirkung von Alkohol ausgegangen werden. Der Stand der Literatur belegt einen linearen Zusammenhang von Alkoholkonsum und der Entwicklung von Erkrankungen sowie dem vorzeitigen Versterben. Die linearen Beziehungen von Alkoholkonsummengen mit Erkrankungs- oder Sterbewahrscheinlichkeiten betreffen verbreitete Erkrankungen. Schlussfolgerung: Empfehlungen auf der Basis von risikoarmen Trinkmengen lassen sich nicht mehr aufrechterhalten. Stattdessen wird empfohlen, den Alkoholkonsum – unabhängig von der Alkoholtrinkmenge – zu reduzieren. Für die körperliche Gesundheit ist es am besten keinen Alkohol zu trinken.

Recommendations How to Deal with Alcohol

Abstract:Aims: The previous recommendations of the German Centre for Addiction Issues (DHS) how to deal with alcohol were based on low-risk drinking limits. The aim of this statement was to update this recommendation. Methods: A narrative review of the current literature on the relationship between alcohol consumption and the development of morbidity and mortality was carried out by a sub-working group of the Scientific Board of Trustees of the DHS. The summary of the evidence and the recommendations derived from it were agreed upon by the entire Board of Trustees and adopted by the DHS Board. Results: A positive relation between alcohol consumption and health, as found in earlier studies, is due to methodological shortcomings. It cannot be concluded from the evidence that alcohol has a health-promoting effect. In addition, available data reveal a linear relationship between alcohol consumption and the development of diseases and premature death. The linear associations between the amount of alcohol consumed and the probability of falling ill or dying apply to common diseases in both men and women. Conclusion: Recommendations based on low-risk drinking quantities can no longer be upheld. Instead, it is recommended to reduce alcohol consumption – regardless of the amount of alcohol drunk. For physical health it is best not to drink alcohol at all.

Der Text wurde von einer Arbeitsgruppe des Kuratoriums erarbeitet, im gesamten Kuratorium beschlossen und vom Vorstand der DHS am 21. September 2023 mit Änderungen verabschiedet.

Einleitung

In bisherigen Empfehlungen hinsichtlich körperlicher Gesundheit im Umgang mit Alkohol stand risikoarmer Konsum im Fokus (Seitz, Bühringer & Mann, 2008). Er umfasste für gesunde Menschen ohne zusätzliches genetisches oder erworbenes Risiko unter anderem eine maximale Trinkmenge von 24 Gramm Reinalkohol pro Trinktag bei Männern und 12 Gramm bei Frauen. Aufgrund des Standes der Wissenschaft sowie aufgrund von Prinzipien der Förderung von physischer Gesundheit aktualisiert das Kuratorium einzelne Aspekte einer früheren Stellungnahme der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, 2019) und kommt zum Schluss, dass Empfehlungen zum Umgang mit Alkohol neu formuliert werden müssen. Das Kuratorium stellt fest:

  • Alkoholkonsum sollte von jeder Person reduziert werden, unabhängig davon, wie viel sie trinkt. Am besten ist es, keinen Alkohol zu sich zu nehmen. Alkoholische Getränke bergen Risiken, wenn es um die physische Gesundheit der Menschen geht.

In diesem Papier sind Ausschnitte aus dem Stand der Wissenschaft und aus Prinzipien der Förderung von Gesundheit in Bezug auf den generellen Umgang mit Alkohol bei gesunden Menschen zusammengefasst. Zu Situationen und Personengruppen mit besonders hohen Risiken des Konsums, zum Beispiel schwangere Frauen, wird auf einen Überblick verwiesen (John & Seitz, 2018).

Stand der Wissenschaft

Fortschritte der Wissenschaft auf zwei Gebieten haben zu neuen Erkenntnissen geführt. Erstens verstehen wir heute besser als früher, worin Grenzen älterer Studien lagen. Zweitens kann die Wissenschaft Erkrankungswahrscheinlichkeiten in Bevölkerungen immer zuverlässiger bestimmen. Diese Entwicklung führte dazu, dass Risiken für die körperliche und psychische Unversehrtheit sowie die Überlebenszeit von Menschen feiner differenziert werden konnten. Heute zeigen Studien für einzelne Erkrankungen eine lineare Beziehung zwischen dem Ausmaß von Alkoholkonsum und Sterbewahrscheinlichkeiten. Sie sind am geringsten, wenn kein Alkohol getrunken wird. Sie sind umso höher, je mehr Alkohol Menschen trinken. Zudem entstanden wissenschaftliche Ergebnisse, die gegen die Annahme sprechen, geringer oder moderater Alkoholkonsum fördere die Aussicht auf langes Leben. Arbeiten aus beiden Forschungsgebieten trugen zu dem Ergebnis bei, dass auch bei geringen Trinkmengen erhöhte Wahrscheinlichkeiten für Krankheiten und vorzeitigen Tod bestehen im Vergleich zu Menschen, die ohne Alkohol leben (John & Seitz, 2018).

Grenzen vergangener Forschung

Methodisch unzureichende Studien haben dazu beigetragen, dass Alkoholabstinenz mit einem erhöhten Erkrankungs- und Sterberisiko verknüpft und geringer oder moderater Alkoholkonsum als potenziell gesundheitsfördernd bezeichnet wurde (Stockwell et al., 2016). Als Erklärung wurden Polyphenole herangezogen (Weiskirchen & Weiskirchen, 2016). Diese Stoffe sind in alkoholischen Getränken enthalten, unter ihnen das Resveratrol. Es hat eine vergleichsweise hohe Konzentration in Rotwein. Eine Empfehlung zum Konsum von Rotwein oder anderen alkoholischen Getränken ist jedoch ungerechtfertigt (Santos-Buelga, Gonzalez-Manzano & Gonzalez-Paramas, 2021). Ein erwachsener Mensch müsste mehrere Liter Wein pro Tag trinken, um gesundheitliche Wirkungen durch Resveratrol zu erzielen (Chudzinska et al., 2021). Die Schäden durch den Alkohol überwiegen dabei eindeutig. Zudem bleibt die Möglichkeit, Resveratrol auch ohne Alkohol aufzunehmen (Weaver, Rendeiro, McGettrick, Philp & Lucas, 2021). Rotwein wird allgemein zur mediterranen Ernährung gezählt, die als gesundheitsförderlich gilt. Er ist aber kein erforderlicher Bestandteil. Den Ernährungsleitlinien der Gesellschaft für Ernährung der Bevölkerung Spaniens zufolge sollen alkoholische Getränke gemieden werden (Aranceta-Bartrina et al., 2019). Eine optimale Ernährung könne auch ohne Alkoholkonsum ihre Wirkung entfalten.

Entscheidend sind zwei Mängel früherer Forschung, die zu falschen Schlüssen führten: erstens invalide Angaben befragter Personen zu ihrem Alkoholkonsum, zweitens fehlende Beschreibung der Merkmale von Menschen, die sich als alkoholabstinent lebend bezeichnen, aber Risikofaktoren tragen, die Erkrankungen oder vorzeitiges Versterben erklären können (Stockwell et al., 2016). So belegt eine Bevölkerungsstichprobe, die im Alter von 18 bis 64 Jahren zum ersten Mal kontaktiert und bei der über zwanzig Jahre hinweg die Todesfälle registriert wurden: Unter den Studienteilnehmer_innen, die Abstinenz in den letzten 12 Monaten angegeben hatten, waren 90.6 % frühere Alkoholkonsument_innen, und 72.0 % hatten in ihrer Vorgeschichte mindestens einen Risikofaktor, der dem Stand des Wissens zufolge ein erhöhtes Mortalitätsrisiko mit sich bringt, zum Beispiel eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit (John, Rumpf, Hanke & Meyer, 2021). Von den Risikofaktorenträger_innen waren je nach Merkmal 20.5 bis 42.9 % verstorben im Vergleich zu 11.2 % unter den Alkoholabstinenten ohne einen dieser Risikofaktoren. Von den Personen, die lebenslange Alkoholabstinenz angegeben hatten, waren nach statistischer Prüfung nicht mehr verstorben als von den gering oder moderat Alkohol konsumierenden Personen. Insgesamt zeigen die wissenschaftlichen Ergebnisse, dass Alkoholabstinenz als Ursachenfaktor für vorzeitiges Versterben nicht in Frage kommt. Die Befunde sprechen gegen ein reduziertes Sterberisiko unter gering bis moderat Alkohol konsumierenden im Vergleich zu alkoholabstinent leben Menschen. Die Befunde sprechen ebenso gegen eine gesundheitsförderliche Wirkung geringen oder moderaten Alkoholkonsums.

Lineare Beziehungen zwischen dem Ausmaß an Alkoholkonsum und Erkrankungs- oder Sterbewahrscheinlichkeiten

Lineare Beziehungen wurden unter anderem gezeigt für Bluthochdruck, insbesondere bei Männern, (Liu et al., 2020; Aladin, Chevli, Ahmad, Rasool & Herrington, 2021; Fuchs & Fuchs, 2021; Vallee, 2023) und für Brustkrebs bei Frauen (Global Burden of Disease 2016 Alcohol Collaborators, 2018; Seitz & Homann, 2019). Für beide Störungen sind mögliche biologische Wege der Wirkung von Alkohol auf ihre Entstehung beschrieben (Husain, Ansari & Ferder, 2014; Seitz & Homann, 2019). Die linearen Beziehungen von Alkoholkonsummengen mit Erkrankungs- oder Sterbewahrscheinlichkeiten betreffen sowohl bei Männern als auch bei Frauen verbreitete Erkrankungen. Bluthochdruck wurde bei mehr als jeder dritten Person der 45- bis 79-jährigen Bevölkerung in Deutschland festgestellt (Neuhauser, Adler, Rosario, Diederichs & Ellert, 2015). Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung der Frauen in Deutschland (Robert Koch-Institut, 2021). Über Krankheiten hinaus fanden sich in Tieruntersuchungen Zusammenhänge geringer Alkoholzufuhr mit neuronalen Erregbarkeiten in Gebieten des Gehirns, die für Angsterleben, Motorik und Aufmerksamkeit bedeutsam sind (Harrison et al., 2017).

Eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation wertete Daten von 592 Studien zu alkoholbezogenen Krankheiten oder Verletzungen als Todesursachen im Jahr 2016 aus. Sie umfassten alkoholbezogene Todesursachen, unter ihnen bluthochdruckbedingte Herzerkrankungen, Herz-Rhythmusstörungen, Schlaganfall sowie sieben Krebserkrankungen, unter anderem der oberen Atem- und Verdauungswege, der weiblichen Brust und der Leber (Global Burden of Disease 2016 Alcohol Collaborators, 2018). In Deutschland trafen die untersuchten Diagnosen für 15.9 % der Todesfälle im Jahr 2016 zu (Statistisches Bundesamt, 2023). Die Arbeitsgruppe berücksichtigte die Qualität von Studien, etwa ob für Menschen, die sich als alkoholabstinent bezeichneten, Informationen über früheren Alkoholkonsum vorlagen. Die Ergebnisse zeigen eine lineare Beziehung zwischen der Höhe des Alkoholkonsums und der Wahrscheinlichkeit, an einer der alkoholbezogenen Krankheiten zu versterben (Global Burden of Disease 2016 Alcohol Collaborators, 2018). Abstinent lebende Menschen hatten das geringste Sterberisiko. Es war umso höher, je mehr Alkoholkonsum die Menschen angegeben hatten (Global Burden of Disease 2016 Alcohol Collaborators, 2018). Das gilt auch für niedrige oder moderaten Trinkmengen. Die Autorengruppe schließt aus ihren Befunden, der sicherste Umgang mit Alkohol sei, abstinent zu leben. Trinken von Alkohol führe in jeglicher Menge zu Verlust von Gesundheit. Eine weitere Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation wertete Daten zu vier der Erkrankungen aus, die besonders stark mit Verlust an Lebenszeit und -qualität zusammenhängen, aber in der zuvor genannten Analyse keine lineare Beziehung zeigten (Global Burden of Disease 2020 Alcohol Collaborators, 2022). Die Arbeitsgruppe bestätigte einzelne Befunde zuvor und kam zusätzlich zum Schluss, das geringste Sterberisiko bei 15- bis 39-jährigen Menschen liege bei 0 bis 6 Gramm Reinalkohol pro Tag (Global Burden of Disease 2020 Alcohol Collaborators, 2022). Diese Menge ist jedoch so gering, dass in der Praxis die Empfehlung der Alkoholabstinenz als optimales Verhalten bleibt.

Prinzipien der Förderung von Gesundheit

Klarheit der Empfehlung

Quantifizierungen von Risiken sind schwer vorstellbar. Zwar wurde versucht, sie zu veranschaulichen (Gigerenzer & Rebitschek, 2016). Aber psychologische Forschung zeigt, dass unsere Gedanken- und Empfindungswelt Risiken „ausblenden“ kann, wenn diese bedrohlich wirken. Wir können Wahrscheinlichkeiten in gewünschte Richtungen interpretieren. So kann Sucht zur Einschätzung durch eine Person beitragen, die Krankheit werde sie nicht treffen. Ein „Je weniger desto besser“ kann zwar ebenfalls wenig verbindlich wirken, ist aber als Handlungsempfehlung leicht vorstell- und merkbar und verringert möglicherweise „Ausflüchte“.

Berücksichtigung individueller Unterschiede

Jeder Mensch hat auf der Basis der bisherigen Ausführungen zusätzlich ein individuelles Risiko, auch bei kleinen Mengen Alkohol. Zu nennen sind drei Merkmalsgruppen, die Erkrankungsrisiken auch bei geringen Konsummengen steigern können: 1. weitere gesundheitsriskante Verhaltensweisen, 2. bestimmte genetische Faktoren, 3. bestimmte bestehende Erkrankungen, 4. bestimmte medikamentöse Therapien. Alkoholkonsum trägt zu weiteren gesundheitsriskanten Verhaltensweisen bei, deren Summe besonders stark Krankheitswahrscheinlichkeiten erhöht. Die Empfehlung einer Konsumreduktion unabhängig von der Menge reiht sich ein in Empfehlungen zu weiteren gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen. So ist es am besten nicht zu rauchen, körperliche Bewegung zu fördern sowie Übergewicht zu reduzieren. Alkoholkonsum interagiert mit Tabakrauchen und Übergewicht. Genetische Faktoren sind von Bedeutung, unter ihnen solche, die zum Beispiel mit Lebererkrankungen in Zusammenhang stehen. Medikamente können selber psychotrop wirken oder eine besondere Toxizität für die Leber haben (Paracetamol, Isoniacid, Methotrexat).

Empfehlungen anderer Institutionen

Für die bisherige Praxis der Prävention sind aktuelle Handlungsleitlinien bedeutsam. In ihnen ist das Wissen um die Bedeutung geringen bis moderaten Alkoholkonsums zum Teil bereits berücksichtigt. In der Leitlinie zur Prävention von Herz-Kreislauf-Krankheiten, entwickelt von der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft, wurde das Risiko durch geringen bis moderaten Alkoholkonsum für die Mortalität zwar anerkannt, aber noch nicht in eine konkrete Empfehlung umgesetzt (Visseren et al., 2021). Die Weltgesundheitsorganisation betont, dass jeglicher Alkoholkonsum riskant sei (World Health Organization, 2023). Der Empfehlung des World Cancer Research Fund zufolge ist es am besten keinen Alkohol zu trinken, um Krebs vorzubeugen (World Cancer Research Fund, 2023). Im Europäischen Kodex gegen den Krebs fand unter den Empfehlungen zur Vorbeugung von Krebserkrankungen die Reduktion von Alkoholkonsum unter allen Menschen, die Alkohol trinken, bereits im Jahr 2015 eine eindeutige Formulierung: Jeder Mensch, der Alkohol trinkt, sollte seinen Konsum reduzieren, um Krebs zu vermeiden. Am besten sei es, keinen Alkohol zu trinken (Scoccianti et al., 2015).

Fazit

  1. 1.
    Ergebnisse der Wissenschaft zeigen zunehmend, dass es keinen potenziell gesundheitsförderlichen und keinen sicheren Alkoholkonsum gibt.
  2. 2.
    Auch geringe Trinkmengen können zur Verursachung von körperlichen Krankheiten beitragen.
  3. 3.
    Eine neue Leitlinie für den Umgang mit Alkohol sollte in Übereinstimmung mit anderen internationalen Empfehlungen an folgenden Aussagen ausgerichtet sein: Zur Verbesserung der physischen Gesundheit sollte der Alkoholkonsum reduziert werden, unabhängig davon wie hoch die Trinkmenge ist. Für die körperliche Gesundheit ist es am besten keinen Alkohol zu trinken.

Literatur