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Open AccessForum – Diskussionsbeitrag

Zehn Argumente für dialogische Interaktion und kognitive Modelle als Grundlage neuropsychologischer Rehabilitation

Published Online:https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000337

Abstract

Zusammenfassung. Rehabilitation wird neben der Diagnostik zunehmend zu einem wesentlichen Standbein neuropsychologischer Tätigkeit. Versuche, den Inhalt und Prozess neuropsychologischer Rehabilitation theoretisch zu beschreiben, sind selten. In diesem Papier wird eine Interaktionstheorie zwischen neuropsychologischer Therapeutin bzw. neuropsychologischem Therapeut und Patient_in entwickelt. Im Zentrum dieses Vorschlags stehen die Thesen, dass neuropsychologische Therapie (aber auch Diagnostik) a) eine kognitive Umgebung konstruiert, in der Patient_innen die Erfahrung machen können, welche Funktionen durch die erlittene Läsion verändert wurden, b) darauf aufbauend eine geschützte kognitive Umgebung simuliert, die in der Komplexität den vorhandenen Fähigkeiten der Patient_innen gerade noch entspricht, c) eine Hierarchie von therapeutischen Cues anwendet, um den Patient_innen die geforderte Leistung des nächsten Schwierigkeitsgrades zu ermöglichen, d) diese Cues im wachsenden Maße ausschleicht, um den Patient_innen die Handlung selbstständigkeit zu ermöglichen. Ziel der Therapie ist damit ein dialogischer Prozess, der von zwei Polen ausgeht: dem Wunsch beider Parteien (Patient_in und Therapeut_in), Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit zu erreichen, und der realistischen Wahrnehmung, auf welcher Stufe kognitiver Komplexität mit wie viel Anstrengung und therapeutischer Unterstützung maximale Selbstständigkeit möglich sein könnte. Zwischen diesen beiden Polen vermittelt die Prognose der Schädigung und diese muss durch das aktuelle Wissen um die Leistungsfähigkeit und Grenzen der bestmöglichen neuropsychologischen Therapie, also ihrer Evidenzbasierung, abgesichert sein. Die Prognose stellt sich gemäß den vulnerablen Phasen der Erholung (akute, subakute, chronische Phase) unterschiedlich und wird gleichzeitig durch die Interaktion zwischen Therapeut_in und Patient_in beeinflusst. Sie kann damit nicht allgemein gestellt werden, sondern nur entwickelt. Die Verpflichtung zur bestmöglichen Therapie impliziert, dass technische Neuerungen der Neurowissenschaften bekannt sein und potenziell angewandt werden müssen. Die Sichtweise der neuropsychologischen Therapie als Interaktion und Simulation einer geschützten kognitiven Umgebung stellt damit nicht nur den Gedanken der therapeutischen Kooperation in den Mittelpunkt, sie eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit einer Wiederannäherung von klinischer Neuropsychologie und neurowissenschaftlicher Forschung.

Dialogische Diagnostik und das Recht auf Unawareness

Neuropsychologische Rehabilitation fußt auf einer dialogischen Diagnostik zwischen den Patient_innen und den Therapeut_innen. Sie wird gesteuert durch die Annahmen der Neuropsycholog_innen über die Störung der Patient_innen, durch die Annahmen der Patient_innen über ihren Zustand und die Ergebnisse der vor diesem Hintergrund durchgeführten Tests. Sie ist damit zu einem erheblichen Ausmaß Selbstaufklärung der Patient_innen über ihren Zustand, da das Gehirn keinen Selbstkontrollmechanismus über ihre jeweilige Intaktheit besitzt, sondern Veränderungen in ihrer Leistungsfähigkeit nur über die Auseinandersetzung mit der Umwelt bemerkt werden. Unawareness ist damit der Grundzustand der Patient_innen nach einer Hirnschädigung. Motorische Einschränkungen werden nur deshalb so früh bewusst, weil ein Problem in der Ausübung von Bewegung sofortige Veränderungen der Umwelt gegenüber der Erwartung erzeugt. Gleichzeitig gilt, dass die Umgebung der Patient_innen speziell im subakuten Zustand meist nur eingeschränkt komplex ist, da die noch deutlichen motorischen Einschränkungen die Interaktion mit der Umgebung limitieren und die Therapie zumeist in Reha-Zentren verläuft. Zudem gibt es eine natürliche Tendenz, sich auf eine Komplexität der Umwelt zu reduzieren, die persönliche Kontrolle und Handlungsfähigkeit zulässt. Die Tatsache der prinzipiellen Unawareness, d. h. der fehlenden Selbstprüfungsfähigkeit des Gehirns, lässt sich am einfachsten anhand von visuellen Gesichtsfeldausfällen deutlich machen. Diese werden von den Patient_innen nicht als solche phänomenologisch erlebt (z. B. als schwarzer, fehlender Bereich), sondern sie werden ihnen durch entsprechende Erfahrung mit der Umgebung kognitiv bewusst (Townend et al., 2007). Neuropsychologische Diagnostik dient diesem Prozess der Bewusstwerdung durch die Simulation einer entsprechenden Umwelt, in der die betroffenen Funktionen ausgeübt werden müssten, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Jede Vorgabe eines neuropsychologischen Tests ist die Simulation einer Umwelt, relativ zu der die Probleme, die durch die Hirnschädigung hervorgerufen wurden, erfahrbar gemacht werden. Am einfachsten lässt sich das wiederum anhand eines einfachen Gesichtsfeldtests demonstrieren: Die Aufrechterhaltung der Fixation ermöglicht eine Sehumwelt, die die Lage und Ausdehnung des Gesichtsfeldausfalls deutlich werden lässt. Wer oft genug einen solchen Test mit Patient_innen gemacht hat, weiß, dass diese Ergebnisse häufig nicht mit deren Erwartung übereinstimmt, speziell wenn es die erste Untersuchung ist. Gesichtsfeldausfälle, z. B. nach Posteriorinfarkt, sind sensorische Defizite, sodass die Simulation einer entsprechenden Umwelt einigermaßen einfach ist. Kognitive Defizite können in ihrer Qualität nur durch die Simulation einer kognitiven Umwelt erfahrbar gemacht werden. Für kognitive Umwelten gilt zu einem gewissen Maße Ähnliches wie für sensorisch erfahrbare: Wenn bestimmte Prozesse nicht fix gehalten werden (wie bei der Perimetrie die Blickrichtung der Augen), dann sind die anderen beteiligten Prozesse nicht systematisch überprüfbar. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Gedächtnisdiagnostik. Eine Aussage über die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Konsolidierung von Information basiert auf dem Vergleich von Lernleistung und unter verschiedenen Bedingungen erreichter Abrufleistung (als freier Abruf, semantisch unterstützter Abruf oder Rekognition).

Die Simulation kognitiver Umgebungen basiert auf theoretischen Modellen kognitiver Prozesse. Das Ergebnis des Handelns der Patient_innen in diesen simulierten Umgebungen ist für ihre Selbstaufklärung, für die Wahl der Therapie und für die Prognose definitiv nicht bedeutungslos. So sind Gesichtsfeldausfälle, die auf eine Variation der Prägnanz des Sehobjekts, mit dem getestet wird, nicht durch eine Vergrößerung oder Verkleinerung reagieren, vermutlich für eine Restitutionstherapie ungeeignet (Kasten et al., 1999; Kasten, Wuest & Sabel, 1998). Bei einem Gedächtnisdefizit, das auch die Wiedererkennung in einem erheblichen Maße einschränkt, ist ein Strategietraining mit hoher Wahrscheinlichkeit nur begrenzt erfolgreich. Diese prognostisch negativen Befunde sind umso schwerwiegender, wenn sich in einem Verlauf von mehreren Wochen eine Befundkonstanz darstellt. Gleichzeitig gilt aber, dass die Befunderhebung von der Konstruktion der simulierten kognitiven Umgebung abhängt. Selbst bei der Ausmessung eines Gesichtsfeldausfalls ist es nicht trivial, ob man als Ziel schwarze Reize auf hellem Hintergrund oder umgekehrt nimmt oder bewegte vs. statische Reize, die womöglich nicht plötzlich, sondern langsam erscheinen. Das kognitiv-neurowissenschaftliche Wissen über den Aufbau des Sehsystems sagt unterschiedliche Effekte solcher Umgebungen auf die Größe der Gesichtsfelddefekte voraus (teilweise sogar auf seine behaviorale Existenz, siehe das Phänomen des blind-sight; Chokron, Dubourg, Garric, Martinelli & Perez, 2020). Wie stark kognitive Modelle die Simulation der kognitiven Umgebung und damit die Analyse kognitiver Defizite beeinflussen, kann auch am Beispiel der Gedächtnisdiagnostik demonstriert werden. Früher galt eine intakte Rekognitionsleistung definiert durch die Zahl der richtigen Nennungen als Maßstab für eine subkortikale Gedächtnisstörung. Heute wird jede konkrete Rekognitionsleistung als Ergebnis zweier unabhängiger Prozesse gesehen (recollection und familiarity; Yonelinas, Aly, Wang & Koen, 2010). Da beide auf kortikale Prozesse zurückgreifen, ist die alte Einteilung inzwischen einigermaßen obsolet geworden.

Bloßes neuropsychologisches Testen nach einer akut erlittenen Hirnschädigung macht, ohne den Aspekt der Selbstaufklärung der Patient_innen in den Mittelpunkt zu stellen, wenig Sinn. Neuropsychologisch diagnostisches Wissen im Kontext der Rehabilitation hat meist keine direkte Relevanz für die medizinisch-somatische Behandlung und erbringt mit wenigen Ausnahmen (wie z. B. bei der Fahreignungsdiagnostik) auch kein relevantes Wissen für die Umwelt. Als Mittel der „Selbstaufklärung“ ist sie dagegen von unverzichtbarer Bedeutung, weil Unawareness erstens eine biologische Grundtatsache ist, zweitens einen gewissen organismisch-psychologischen Schutzmechanismus darstellt und drittens eine rationale Umgangsweise bildet, solange nicht eigene Ziele bzw. die Freiheiten und Möglichkeiten anderer (z. B. der Verwandten) eingeschränkt werden. Insofern ist professionelle neuropsychologische Diagnostik während der Rehabilitation immer schon neuropsychologische Therapie und mögliche Krankheitsbewältigung. Zudem hätte, ohne eine entsprechende Einsicht in den Ausfall zu erreichen, jeder Behandlungsversuch nur eine geringe Aussicht auf Erfolg, da Einsicht die Voraussetzung für Motivation und Handlungsbereitschaft ist. In der neuropsychologischen Leitlinie zur Behandlung von Exekutivfunktionsstörungen z. B. wird sie geradezu als Voraussetzung für Therapie genannt (Müller, 2020). Es ist vermutlich kein Zufall, dass in einem genuin kognitiven Bereich Einsicht in das Vorhandensein einer Störung schwerer erreicht wird als bei motorischen Störungen, eben weil das Gehirn keinen Selbstprüfungsmechanismus besitzt. Erreicht wird sie durch die Simulation einer kognitiven Umgebung, die sich auf eine kognitive Theorie der betroffenen Funktionen stützt und eine entsprechende Erfahrung ermöglicht. Als Mittel für die Selbstaufklärung der Patient_innen müssen dabei die Stadien der psychisch erreichten Anpassung an den veränderten Zustand durch die Wahl der Untersuchungsverfahren mitbedacht werden.

Kognitive Theorie des Defizits als Basis der Intervention

In mehreren Anläufen hat Barbara Wilson die Aufgabe der neuropsychologischen Therapie folgendermaßen beschrieben: „Die neuropsychologische Rehabilitation beschäftigt sich mit der Verbesserung kognitiver, emotionaler, psychosozialer und Verhaltensdefizite, die durch eine Beteiligung des Gehirns verursacht werden [… Sie] konzentriert sich heute hauptsächlich auf einen Zielplanungsansatz in einer Partnerschaft von Überlebenden von Hirnverletzungen, deren Familien und professionellen Mitarbeitern, die Ziele aushandeln und auswählen, die erreicht werden sollen. Es wird allgemein anerkannt, dass Kognition, Emotion und psychosoziales Funktionieren miteinander verknüpft sind, und alle sollten auf die Rehabilitation ausgerichtet sein. Dies ist die Grundlage des ganzheitlichen Ansatzes“ (Wilson, 2008, S. 141).

Was die Beschreibung des Ziels der neuropsychologischen Rehabilitation angeht, der häufig auch als ganzheitlicher Ansatz oder kontextsensitive Therapie beschrieben wird (Wilson, Gracey, Evans & Bateman, 2010), so besteht weitgehend Konsens mit dem hier entwickelten Ansatz. Allerdings reduziert die Definition neuropsychologische Rehabilitation offensichtlich auf chronische Patient_innen und auf die Lösung von wenigen Verhaltensproblemen, die in einer mehr oder weniger statischen Umgebung bereits vielfach erfahren wurden. Akute und postakute Phasen bleiben in ihr ausgespart, die Frage einer möglichen deutlichen Verbesserung oder Ausgleichung eines Funktionsdefizits wird nicht angesprochen. Zudem bleibt die Art, wie die Verhaltensprobleme gelöst werden, eher zufällig, pragmatisch. Die notwendige Selbstaufklärung der Patient_innen im akuten und subakuten Zustand wird also ebenso ausgeklammert wie der spezifische neuropsychologische Beitrag zur Therapie: die Simulation kognitiver Umwelten zur Diagnose und Behandlung ausgefallener kognitiver Subprozesse. Ohne entsprechendes Wissen über die Feinstruktur der kognitiven Prozesse, die an kognitiven Leistungen beteiligt sind, wäre die Untersuchungsaufgabe unendlich und die neuropsychologische Therapie blind bzw. im besten Fall hyperspezifisch und so bei mangelnder Umgebungskonstanz nicht nachhaltig.

Nehmen wir das Beispiel der Behandlung von Wortfindungsproblemen bei aphasischen Patient_innen. Wortfindungsprobleme sind ein allgemeines Kennzeichen jeder Form der Aphasie und schon deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit Konsequenz unterschiedlicher Ursachen. Traditionelle Theorien gehen davon aus, dass sie entweder durch eine Störung des Zugriffs auf den semantischen Speicher verursacht werden oder durch einen Fehler im Abruf des phonologischen Codes für das zu Bezeichnende (Meteyard & Bose, 2018). Die Theorie der Sprachproduktion nach Levelt (1999; Levelt, 2001; Levelt, Roelofs & Meyer, 1999) sieht die Möglichkeit der Verursachung von Wortfindungsproblemen auf folgenden Ebenen: (1) durch fehlende Repräsentation des konzeptuellen Rahmens der Mitteilung und damit einen kommunikativen Fadenverlust bzw. einen fehlerhaften Abgleich zwischen dem präsenten Wort und der intellektuellen Ebene, auf der etwas kommuniziert werden soll; (2) durch eine unzureichende Spezifizierung der Lemmata, die Platzhalter für die Gruppe der Wörter darstellen, die in dem gewählten Satzzusammenhang gesprochen werden könnten. Eine solche Störung könnte man als Defizit in der spezifischen Ausgestaltung eines Suchabrufs aus dem semantischen Speicher interpretieren; (3) durch eine fehlende und damit blockierende grammatische und morphometrische Ausgestaltung des zu sprechenden Wortes, was einem Problem im Abruf des phonologischen Codes gleichkommt; (4) durch einen sprechapraktisch verursachten fehlenden Zugriff auf die Wortform. Das Verständnis und die Therapie der Wortfindungsstörung ist wenigstens teilweise abhängig von dem Grunddefizit (Abel, Weiller, Huber & Willmes, 2014): Liegt dieses in dem gestörten Zugriff auf das Lexikon semantischer Alternativen für das Einsetzen des konkreten Wortes in den Satzzusammenhang entlang des semantischen Lexikons oder in der Aktivierung der phonologischen Codes? Je nach Analyse der Störung sollte dann eher mit semantischer Bahnung (per Skripteinführung, durch Bilder, bildliche oder praktische Darstellung der Handlung, durch Satzergänzung usw.) oder phonologischer Bahnung gearbeitet werden. Im Falle des phonologischen Zugriffs bedarf es dementsprechend anderer Cues wie Imitation, Anlauthilfe, Vorsprechen oder Reihensprechen. Ohne kognitive Theorie der Aphasie gibt es also keine gezielte Behandlung der Sprachstörung.

Für die Therapie der Wortfindungsstörung im Rahmen einer Globalaphasie oder schweren Broca-Aphasie ist das Schema von Levelt nicht hinreichend. Bei solchen Patient_innen sind ausschließlich semantische oder phonologische Cues unzureichend, um ihnen bei der Wortproduktion zu helfen. Wortproduktion kann aber auch durch das Auslösen von Automatismen oder hoch bekannten Situationen erreicht werden. Wenn also semantisches, phonologisches usw. Cueing nicht effizient sind, kann die Äußerung des Wortes womöglich durch Reihensprechen und Cueing aus dem Handlungskontext mit zusätzlicher semantischer und phonologischer Bahnung erreicht werden. Auch bei der Behandlung des akinetischen Mutismus bedarf es einer Ergänzung des Levelt’schen Modells um andere interaktive und kognitive Aspekte, um ihn erfolgreich behandeln zu können.

In jedem Fall gilt, dass die therapeutische Ermöglichung des Sprechens, ob nun im Bereich der Aphasien oder in verwandten Störungen, auf einer kognitiven Theorie der Sprache basieren sollte, die die Behandlungsschritte anleitet und den Patient_innen ermöglicht, ihre Probleme zu erkennen und entsprechende Fortschritte zu erleben.

Neuropsychologische Therapie simuliert eine geschützte kognitive Umgebung

Die Grundlage neuropsychologischer Therapie wäre gemäß der oben skizzierten Aphasietherapie ein modellgeleitetes Fazilitieren bzw. Cueing, um den Patient_innen die kognitive Funktionsausübung auf der Ebene zu ermöglichen, auf der sie gerade noch möglich ist. Ebene meint hier abstrakt betrachtet eine durch die Therapeut_innen hergestellte geschützte kognitive Umgebung. Und unter geschützter kognitiver Umgebung soll verstanden werden, dass die neuropsychologischen Therapeut_innen die Umwelt strukturell (d. h. durch die Konstruktion von Aufgaben entsprechenden Schweregrads) und dynamisch (d. h. durch sein gezieltes Eingreifen bzw. Cueing) so gestalten, dass trotz aller Beeinträchtigung die Handlungsausübung in der überwiegenden Menge der Fälle doch noch gelingt.

Zwei weitere Beispiele, um diesen Gedanken zu erläutern – eines für Patient_innen mit schwerer und vermutlich andauernder Funktionseinschränkung, eines für Patient_innen mit möglichem Wiedererwerb der kognitiven Fähigkeit. Ein therapeutisches Beispiel für die erstere Patientengruppe ist die Methode des errorless learning, konkret des backward chainings mit vanishing cues. Diese Methode ist breit einsetzbar und kommt bei den verschiedensten Beeinträchtigungen zur Anwendung. In unserem Beispiel soll es um den Wiedererwerb der Fähigkeit gehen, seinen eigenen Namen zu schreiben, was bei schweren aphasischen Syndromen mit herkömmlicher Therapie häufig nicht gelingt. Die Fähigkeit, seinen Namen zu schreiben, hat eine hohe Bedeutung für die Patient_innen – als Unterschrift, aber auch um sich erkenntlich zu machen, wenn die räumliche Orientierung verloren gegangen ist und die Patientin oder der Patient sich verlaufen hat. Die Anwendung der Kombination von backward chaining und vanishing cues startet mit dem Kopieren des letzten Buchstaben des Namens. Gelingt dies ohne direkte Vorlage des letzten Buchstabens, so wird der Name vorgeschrieben, im nächsten Schritt sollen aber die beiden letzten Buchstaben von den Patient_innen ergänzt werden. Dabei achtet die Therapeutin oder der Therapeut darauf, dass die Patient_innen beim Einsetzen dieser Buchstaben keine Fehler machen. In dieser Weise wird das Schreiben des eigenen Namens systematisch durch Hinweisreize aufgebaut, bis es wieder von selber gelingt. Ähnlich könnte man in vielen anderen Bereichen vorgehen: Soll z. B. der Weg von A nach B gelernt werden, startet man mit der letzten Teilstrecke. Wenn diese in die richtige Richtung abgeschritten wird, wird die davor liegende beigebracht etc. In welcher Beziehung steht die Methode des backward chainings und der vanishing cues zu der Simulation einer geschützten kognitiven Umgebung? Die Therapeutin oder der Therapeut konstruiert vor dem Hintergrund eines prognostischen Wissens eine kognitive Umgebung, die an den Schweregrad der aphasischen Störung so angepasst ist, dass den Patient_innen die geforderte Handlung gerade noch gelingt. Dabei wird diese kognitive Umgebung (Schreiben des eigenen Namens) an die wachsende Kompetenz der Patient_innen durch Wegnahme von Buchstaben angepasst und durch Cueing das Auftreten von Fehlern verhindert.

Die Gestaltung einer Abfolge geschützter kognitiver Umgebung zum Wiedererwerb von Fähigkeit ist keineswegs auf das shaping, wie es oben in Form eines sukzessiven errorless learning von Teilschritten beschrieben wurde, beschränkt. Sie kann auch aufbauend auf eine strukturelle Analyse der gestörten kognitiven Teilkomponenten, die mit einer Ausübung der Funktion verbunden sind, erfolgen. Die konstruierte kognitive Umgebung vermeidet dann diese Teilkomponenten so weit, dass die Funktion den Patient_innen gerade noch möglich ist. Ein entsprechendes Beispiel wäre die Behandlung von visuokonstruktiven Defiziten. Die diagnostische Bedeutung und Behandlung von visuokonstruktiven Störungen spielt in der Neuropsychologie bis dato leider nur eine geringe Rolle. Ihre kognitive Modellierung wird häufig begrenzt auf Längen-, Winkel- und Größenschätzung, die aber eigentlich eher unter den visuoperzeptiven Funktionen einzuordnen sind. Im Folgenden soll postuliert werden, dass die Fähigkeit der Visuokonstruktion u. a. auf folgenden hierarchischen kognitiven Grundprozessen beruht (Sander, 2015): matching (Zuordnung von gleichen Formen), antizipierende Rotation (mental und praktisch), Spiegelung (zwei- und dreidimensional), Skalierung (Erkennen derselben Form in unterschiedlichen Größenverhältnissen) und Segmentierung (Erkennen von Formen in größeren Strukturen, ohne dass diese darin durch entsprechende Eigenschaften unmittelbar zu sehen sind). Offensichtlich ist Matching eher eine visuoperzeptive Funktion und zweidimensionale Rotation eine eher elementare Funktion, denn beide gelingen häufig auch schwer geschädigten Patient_innen (Sander, 2015). Dagegen sind Spieglung (oder auch dreidimensionale Rotation), Skalierung und Segmentierung komplexe Funktionen, die bei größeren Hirninfarkten häufig ausgefallen sind (Sander, 2015). Visuokonstruktives Training beginnt mit der Analyse, welche dieser Komponenten genau gestört sind, um vor diesem Hintergrund kognitive Umgebungen zu konstruieren, in denen die Patient_innen die erforderliche Leistung gerade noch vollziehen können. Bei Konstruktion von kognitiven Umgebungen, die diesen Schwierigkeitsgrad überschreiten, kommt die dynamische Interaktion der Therapeuten_innen ins Spiel, um auch in dieser Umgebung die Handlung zu ermöglichen: Die Fähigkeit der Segmentierung kann dadurch behandelt werden, dass anfangs die relativen Verhältnisse der Bestandteile in veränderter Größenordnung präsentiert werden (und Segmentierung damit zu einem Problem der Skalierung wird). Gelingt dies sicher, kann im nächsten Schritt ein Koordinatensystem entsprechender Größe vorgegeben werden, sodass durch die bloße Länge der Elemente eine Hilfe vorhanden ist (die Segmentierung von Flächen also durch die Vorgabe von Ausdehnung unterstützt wird). Ist auch das möglich, dann kann der Schritt zu einfachen Segmentierungsaufgaben gemacht werden, ohne das äußere Hilfen angeboten werden, die Segmentierung aber noch durch perzeptive Aspekte gestützt wird. Danach kann dann zu Aufgaben fortgeschritten werden, wo die Segmentierung gegen die visuell dominante Einteilung entlang der Vertikalen und Diagonalen erfolgen muss.

Eine geschützte kognitive Umgebung kann also entweder eine Folge von Situationen darstellen, in denen bestimmte Bewegungen oder Handlungen vollzogen werden müssen, um ein Gesamtziel zu erreichen (z. B. das Schreiben des eigenen Namens). Sie kann aber auch eine bestimmte Ebene kognitiver Komplexität meinen, auf der durch therapeutische Intervention eine bestimmte kognitive Funktion gerade noch möglich ist (wobei das Ziel dann ist, erstens diese Komplexität erfahrbar werden zu lassen und zweitens durch die Behandlung höhere Komplexitätsgrade zu erreichen). In beiden Fällen wird sie durch das Wissen um die jeweilige kognitive Struktur der auszuübenden Funktion oder Handlung und der vermuteten Folgen der Hirnschädigung determiniert.

Ohne ein wissenschaftliches Verständnis des relativen Schweregrades keine Therapie

Die entwickelte Unterscheidung zwischen einer simulierten geschützten kognitiven Umgebung, die aus einer bloßen Verkettung von Handlungen besteht oder aus einer Hierarchie von kognitiven Komplexitätsgraden, hat zur Konsequenz, dass neuropsychologische Therapie auch eine Definition des adäquaten Schwierigkeitsgrades umfasst. Erst dieser ermöglicht eine dialogische Interaktion mit den Patient_innen in Richtung Selbstaufklärung und eine gezielte Intervention in Richtung des Erreichens der nächsten Komplexitätsstufe. Ohne den auf die Patient_innen bezogenen Schwierigkeitsgrad zu berücksichtigen, ist also eine gezielte neuropsychologische Therapie weder sehr effektiv noch sinnvoll.

Eine Wirksamkeit strikt bottom-up arbeitender Mechanismen, die ohne die Definition einer geschützten kognitiven Umgebung und einem den Fähigkeiten der Patient_innen in ihr angepassten Schweregrad funktionieren würden, ist bis dato wissenschaftlich nicht belegt. Ein Beispiel dafür, dass eine rein bottom-up getriebene Therapie keinen dauerhaften und einer Placebobedingung überlegenen Effekt hat, ist die Prismenadaptation. Prismenadaptation wird zur Behandlung des visuoräumlichen Neglects angewandt und hat kurzfristig, d. h. während der Phase des Nacheffekts, eine deutliche Auswirkung auf den Neglect, womöglich aber auch auf andere kognitive Leistungen (Striemer & Danckert, 2010). Die Wirkung dieser Methode wird traditionell dadurch erklärt, dass es funktionell zu einem (unbewussten) Prozess der Angleichung der gegenüber den propriozeptiven Koordinaten verschobenen visuellen Koordinaten kommt. Wenn die Prismenbrille wieder abgesetzt wird, bleibt dieser Effekt noch über einen bestimmten Zeitraum messbar. Wird durch die Prismenbrille also die visuelle Welt nach rechts verschoben, muss sich das motorische Koordinatensystem daran angleichen, indem im Vergleich zur visuellen Welt weiter nach links gegriffen werden muss. Infolgedessen kommt es nach dem Absetzen der Brille durch den Nacheffekt zu einer Kompensation des Neglects. Diese Beobachtung hat in der Forschung zur Neglectrehabilitation eine große Resonanz gehabt und Prismenbrillen-Therapie wurde als neue, potenziell schnell und effektiv wirkende Methode der Neglectrehabilitation gesehen (Barrett, Goedert & Basso, 2012; Gossmann, Kastrup, Kerkhoff, Lopez-Herrero & Hildebrandt, 2013). Neuere Studien mit einer randomisierten Placebo-Kontrollgruppe, die die gleichen Bewegungen durchgeführt hat wie die Prismenbrillen-Gruppe, zeigen aber, dass bei einem solchen Studiendesign sich beide Gruppen gleichmäßig bessern, jedenfalls wenn der Effekt nicht unmittelbar nach dem Tragen der Brille, sondern mit entsprechender Zeitverzögerung gemessen wird (Ten Brink et al., 2017). Eigentlicher „Therapieträger“ wären dann die Zeigebewegung, nicht das bloße Tragen einer Prismenbrille. Deren zusätzliche Wirkung ist womöglich davon abhängig, dass man traditionelle Suchaufgaben mit in die Therapie integriert. Ähnliches gilt für Methoden wie transkranieller Gleichstromstimulation (tDCS) oder dopaminerger Stimulation: solche Add-on-Therapien sind vermutlich in der Lage, eine gezielte neuropsychologische Therapie zu unterstützen, sind aber bis dato nicht in der Lage, ohne sie Therapieerfolge zu erbringen.

Auch andere Handlungsanweisungen, wie ein bestimmtes Syndrom zu behandeln ist, die keine systematische Abstufung von Schweregraden umfassen, sind im besten Fall unvollständig, im schlechten Fall eine Überbelastung oder Demütigung der Patient_innen. Wortlistenlernen, ohne entsprechende Einbettung in eine kognitive Theorie der Beeinträchtigung und Simulation einer kognitiven Umgebung, wäre ein typisches Beispiel für eine solche Situation. Nur im Kontext einer spezifischen kognitiven Theorie, die wegweisend für die Gestaltung der geschützten kognitiven Umgebung wird, kann bloßes Wortlistenlernen therapeutisch effektiv werden. Ein Beispiel hierfür: Jennings, Webster, Kleykamp und Dagenbach (2005) benutzten die repetition-lag-Methode, um Patient_innen mit Gedächtnisdefiziten zu behandeln (Boller, Jennings, Dieudonne, Verny & Ergis, 2012; Stamenova et al., 2017). Diese Behandlungsmethode basiert darauf, dass die Patient_innen zuerst eine Wortliste dargeboten bekommen, die sie im Gedächtnis behalten sollen. Danach werden ihnen einzelne Worte gezeigt und ihre Aufgabe ist es, diejenigen mit dem Drücken einer Ja-Taste zu beantworten, die in der zuerst gelernten Liste vorhanden waren. Allerdings werden in der Wiedererkennungsphase auch Worte wiederholt, die anfangs nicht gelernt wurden (also nicht Teil der ersten Liste waren). Bei diesen Worten muss dann auch mit einer Nein-Antwort reagiert werden (wie bei den Worten, die insgesamt nur einmal in der Wiedererkennensliste vorkommen). Gelingt dies mit 80-prozentiger Sicherheit, wird der Abstand (lag) zwischen den nur in der Wiedererkennungsliste wiederholten Worte systematisch erhöht. Durch die Verlängerung des Lags hilft das Gefühl für den zeitlichen Abstand („das habe ich doch gerade gesehen“) für die Urteilsbildung nicht mehr weiter. Damit wird der Erfolg immer stärker abhängig von der bewussten Erinnerung des Kontextes (in dieser oder der vorherigen Liste), d. h. der recollection, einer zentralen Komponente der bewussten Gedächtnisleistung, während das bloße Gefühl der Bekanntheit plus einer ungefähren Einschätzung („war gerade erst da“) für die Urteilsbildung nicht mehr ausreicht (Bailey, Dagenbach & Jennings, 2011). Der Übergang zwischen den Lags erfolgt systematisch und patientenorientiert: Auf jeder Übungsstufe gibt es Wiederholungen mit einem kürzeren und einem etwas längerem Lag. Erreicht die Leistung mit dem etwas längerem Lag 80-prozentige Sicherheit, dann wird das kürzere Lag aufgegeben und durch ein noch längeres Lag ersetzt. Damit bleiben die Patient_innen für das vormals längere Lag auf einer 80-prozentigen Sicherheit, um diese im weiteren Verlauf für das jetzt längere Lag zu erreichen. Diese Methode zeigt sehr anschaulich, dass die auf einer geschützten kognitiven Umgebung basierende neuropsychologische Therapie auch eine Theorie des Schwierigkeitsgrades umfasst: Der anfangs geringe Abstand zwischen den sich aus Distraktoren wiederholenden Worten wird systematisch und anhand zuvor festgelegter Kriterien erhöht, die Therapie selber ist auf dem Wissen über die beiden Grundprozesse des Erinnerns, recollection und familiarity, aufgebaut.

Die meisten professionellen Computertrainings enthalten eine Variation des Schweregrads und simulieren damit eine an die Patient_innen angepasste kognitive Umgebung. Diese Variation und damit die Verbreiterung des Behandlungsspektrums sind ein klarer Vorteil computergestützter kognitiver Trainingsangebote. Allerdings ist nicht immer klar, auf welcher (alltags)psychologischen Grundlage die Gestaltung der verschiedenen Schweregrade in den computergestützten Therapieangeboten vollzogen wurde. Auf kognitiven Modellen basierende neuropsychologische Therapie konzipiert den Schweregrad entlang eines Modells der kognitiven Komplexität und den zugehörigen kognitiven Funktionen sowie auf der Einschätzung der Qualität der von den Patient_innen erreichten Leistungsfähigkeit. Ein typisches Beispiel hierfür wäre die Gestaltung der kognitiven Umgebung in der Behandlung von Neglectpatient_innen. Diese wird sowohl durch den Schweregrad der Beeinträchtigung als auch durch die Aufgabenstruktur beeinflusst. Eher alltagspsychologisch würde man die entscheidende Variation in der Distanz der gesuchten Objekte (links) von der Mitte vornehmen. Dies ist aber nicht der einzige und vermutlich bei vielen Patient_innen auch nicht der entscheidende Aspekt in der Konstruktion einer geschützten kognitiven Umgebung (Ten Brink, Elshout, Nijboer & Van der Stigchel, 2020). Die Ausprägung des Neglects ist mindestens genauso von der Dichte der Objekte im Suchfeld und von ihrer relativen Prägnanz abhängig. Gleichzeitig spielt die Symmetrie im Aufbau des Suchfelds eine Rolle (z. B. eine fixe linksseitige Randbegrenzung oder die Existenz einer phänomenologischen Lücke zwischen links und rechts stehenden Reizen). Dementsprechend bilden „parallel search“-Aufgaben einen idealen Anfang für die Neglectbehandlung, die dann stückweise über Lesen und andere Aufgaben zu solchen mit „conjunction search“ erweitert werden. Neglect kann weder als Syndrom noch in seinem Schweregrad unabhängig von einer wissenschaftlichen Konstruktion der Umgebung definiert werden, in der die Patient_innen agieren. Umso klarer ist, dass auch seine Behandlung eine kognitive Theorie der visuellen Suche umfassen muss (siehe Ten Brink et al., 2020; Turgut et al., 2018).

Theoriebasiertes Cueing ist ein zentrales Element der neuropsychologischen Therapie

Für den Begriff einer geschützten kognitiven Umgebung lassen sich zwei wesentliche Momente abgrenzen: ein statisches Moment, das durch die konstruierte Aufgabenstruktur definiert ist, und ein dynamisches Moment, welches durch die Intervention der Therapeutin oder des Therapeuten zustande kommt. Bis zu diesem Punkt wurde hauptsächlich das statische Moment behandelt. Das dynamisch-interaktive Element besteht zentral aus einem Fazilitieren der gewünschten Leistung bzw. aus einem Cueing. Insofern basiert neuropsychologische Therapie fundamental auf einer gelingenden Kooperation zwischen Patient_innen und Therapeut_innen, in der Letztere durch gezieltes Cueing Ersteren die nächste Schwierigkeitsstufe ermöglicht.

Die Bedeutung des Cueings für die Behandlung von schwer aphasischen Patient_innen wurde bereits im Kontext des Wiedererwerbs des Schreibens des eigenen Namens erwähnt. Innerhalb einer gewählten geschützten kognitiven Umgebung ist es eine zentrale Aufgabe der Therapeut_innen durch Hinweisreize das Gelingen der Handlung der Patient_innen zu garantieren. Gedächtnisrehabilitation mit dem Ziel des Erwerbs der Methode des transfer appropriate processing kann dafür als Beispiel dienen. Bei dieser Methode (Hildebrandt, 2019) werden anfangs drei Komponenten vermittelt, die eine sichere Verankerung in der experimentellen Gedächtnisforschung haben und geeignet sind, eine maximale Gedächtnisleistung auch bei moderater Beeinträchtigung zu erreichen. Diese drei Komponenten werden den Patient_innen vorgegeben: Das zu lernende Material sollte (1) semantisch organisiert werden und mit entsprechenden Überschriften abgespeichert werden (deep encoding). (2) Während des Abrufs sollten zuerst die Überschriften aus der Phase der semantischen Strukturierung während der Aufnahme repliziert werden, um erst im nächsten Schritt zu überlegen, was unter sie fiel (context-dependent memory durch Gleichheit in der Struktur von Enkodierung und Abruf). Zudem sollten die Patient_innen (3) einen individuellen Rhythmus des spaced retrievals finden, der ihnen ein sicheres Behalten ermöglicht. In der Therapie wird zu Beginn das semantische Strukturieren entlang von leicht zu strukturierendem Material zu immer schwerer zu strukturierenden Inhalten geübt und das Ordnen wird dabei mehr und mehr den Patient_innen überlassen. Zudem wird anfangs genau darauf geachtet, dass die Abrufversuche dem Vorgehen beim Enkodieren folgen und somit mit dem Erinnern der Überschriften beginnen und erst dann zu dem der Items voranschreiten. Auch dieses Vorgehen wird in der Folge mehr und mehr den Patient_innen übergeben. Gleichzeitig wird während der Interferenzperiode zwischen Lernen und Erinnern anfangs darauf geachtet, dass von den Patient_innen spaced-retrieval-Versuche gestartet werden. Das therapeutische Ziel ist dabei, dass die Patient_innen ein Gefühl für ihre eigene Leistungsfähigkeit entwickeln, worauf aufbauend dann eigene zeitliche Rhythmen der kurzfristigen Rückerinnerung entwickelt werden sollen. Das Cueing dieser Strategieschritte bildet den zentralen Bestandteil der Therapie. Spontane Abweichungen von den Schritten in Richtung eines unsystematischen Ordnens, unsystematisches Vorgehen beim Abruf und fehlendem spaced retrieval werden zu Beginn der Therapie durch aktives präventives Eingreifen der Therapeut_innen verhindert. Im weiteren Verlauf werden die Cues durch die Therapeut_innen nur noch reaktiv auf das Verhalten der Patient_innen eingeführt. Erst wenn diese Schritte auf einem bestimmten Schwierigkeitsgrad von den Patient_innen alleine vollzogen werden können, kann zu dem nächsten Schwierigkeitsgrad (z. B. durch Einführung massiv interferierender Information während der Konsolidierungsperiode oder Steigerung der Menge der zu lernenden Information) übergegangen werden.

Oder um noch mal die Behandlung der schweren Wortfindungsstörung zu diskutieren: Gelingt die Bahnung von einfachen Worten weder mithilfe semantischer Hinweisreize noch phonologischer Cues, bildet die systematische Suche nach Situationen, Handlungszusammenhängen, Kombination von Cues, Lippenimitation die zentrale Aufgabe der Therapie, bis eine geschützte kognitive Umgebung gefunden wurde, die hinreichend fazilitierend ist, um den Patient_innen den Abruf erster Worte zu ermöglichen.

Der Einsatz von Virtual Reality (VR) wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in der neuropsychologischen Therapie wachsende Bedeutung erlangen. Virtual Reality unterstreicht, dass neuropsychologische Therapie zu einem erheblichen Teil auf der Simulation einer geschützten kognitiven Umgebung beruht (als ein Beispiel: Spreij, Ten Brink, Visser-Meily & Nijboer, 2020). Denn ohne eine kognitive Theorie darüber zu besitzen, wie die VR konstruiert sein muss, um den gewünschten Trainingseffekt zu erzielen, bleibt ihr Einsatz blind gegenüber den Problemen der Patient_innen. Diese Aussage betrifft den gewählten Schwierigkeitsgrad und seine qualitative theoriebasierte Realisierung, d. h. insgesamt den statischen Aspekt einer geschützten kognitiven Umgebung.

Krohn et al. (2020) entwickelten eine Checkliste zur Beurteilung der Güte neuropsychologischer Anwendungen, die auf VR basieren. An oberster Stelle dieser Liste steht „domain specificity“, was übersetzt in die hier entwickelte Terminologie bedeutet: Verankerung in der besten kognitiven Theorie der entsprechenden Funktion (These 3). Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass das zweite Prinzip „ecological relevance“ schwer zu definieren ist, weil jeder komplexe Wirklichkeitsausschnitt, der simuliert werden soll, nur dadurch ökologisch valide wird, dass in ihm genau die kognitiven Prinzipien variiert werden, die unter Beobachtung stehen. Neben weiteren technischen Aspekten, die die Realisierung der VR betreffen, werden von Krohn et al. (2020) „task adaptability“ und „performance quantification“ als Gütekriterien für die Anwendung von VR in der neuropsychologischen Praxis erwähnt. Genau dieselben Prinzipien wurden aber weiter oben in These 4 unter Schweregrad und werden unten in These 7 unter Repräsentation der konkreten Leistungsfähigkeit diskutiert.

Deutlich wird in dem Artikel von Krohn et al. (2020) also, dass das Instrumentarium der VR die hier vertretene Sichtweise neuropsychologischer Therapie als Anwendung einer simulierten geschützten kognitiven Umgebung in den Mittelpunkt rückt. Allerdings scheint die in dem Artikel vorgenommene Abgrenzung von VR zu dem klassischen Vorgehen der klinischen Neuropsychologie künstlich: Faktisch beruht neuropsychologische Behandlung darauf, dass man das Verhalten der Patient_innen in angepassten Aufgaben beobachtet, um ihnen zu helfen. Das ist im Prinzip nichts anderes als VR, nur in dem Sinne als virtuell hier physikalisch analog gestaltet meint, eben im Sinne einer simulierten geschützten kognitiven Umgebung. Hinsichtlich der von Krohn et al. (2020) entwickelten Checkliste sollte betont werden, dass die bloße Konstruktion der gewünschten kognitiven Umgebung nicht hinreichend ist, um therapeutisch effektiv zu intervenieren, weil der dynamische Aspekt damit noch nicht realisiert ist. Besteht die Aufgabe der Therapeut_innen darin, mithilfe von Cues und anderen Formen des Fazilitierens die Ausübung der beeinträchtigten Handlung zu ermöglichen, die ansonsten nicht abrufbar wäre, dann kann VR nur unter Gewährung der Möglichkeit der Therapeut-Patient-Interaktion wirklich effektiv eingesetzt werden.

Das Ziel neuropsychologischer Therapie ist das systematische Verschwinden der Therapeutin oder des Therapeuten

Neben der dialogischen Diagnose, der (statischen) Konstruktion einer geschützten kognitiven Umgebung, ist das Überflüssigwerden der dynamischen Komponente der geschützten kognitiven Umgebung, d. h. die Rücknahme der Therapeutin oder des Therapeuten aus der Ermöglichung der Funktionsausübung (fading out), das oberste Ziel der neuropsychologischen Therapie.

Ein typisches Beispiel für fading out ist die historische Fallstudie von Sohlberg und Mateer (1989), in der diese gezeigt haben, dass es möglich ist, selbst einem schwerst amnestischen Patienten den systematischen Gebrauch eines Gedächtnisbuchs beizubringen. Die Therapie bestand aus der Definition dreier Stufen (Simulation statischer geschützter kognitiver Umgebungen) im Umgang mit dem Gedächtnisbuch: dem Bekanntwerden, seiner Anwendung während der Therapie und dem Übertrag in die Situation außerhalb der Therapie. Auf der ersten Stufe wurde mit dem Patienten ausschließlich die Logik des Gedächtnisbuchs geübt und dies nur innerhalb der neuropsychologischen Therapiesitzungen. Nachdem der Patient einen Überblick über die wesentlichen Komponenten des Gedächtnisbuchs und ihren Einsatz gewonnen hatte, d. h., diese mit einer Sicherheit von annähernd 100 % beherrschte, wurde der direkte Gebrauch des Gedächtnisbuchs in der Therapie geübt (weiterhin nur in der Therapiesitzung). Hierfür wurden Rollenspiele eingesetzt. In der dritten Phase der Therapie wurde dann der Einsatz innerhalb des Alltags geübt. Erfolgreiches Handeln des Patienten auf einer gegebenen Stufe der Behandlung war am Anfang nur mit maximaler Beteiligung der Therapeutinnen möglich, deren Rolle dann auf jeder Stufe systematisch zurückgenommen wurde, bis die nächste Stufe erreicht wurde.

Ganz ähnlich ging die neuropsychologische Therapie des Neglects in der Studie von Turgut et al. (2018) vonstatten. Für die verschiedenen Schweregrade des Neglects wurden verschiedene geschützte kognitive Umgebungen definiert, deren Bewältigung den Patient_innen gerade noch möglich war. Gleichzeitig wurde diesen Stufen eine Hierarchie von dynamischen Cues zugeordnet, die helfen sollte, die nächste Schwierigkeitsgradstufe zu erreichen. Anfangs bildete die Therapeutin selbst den maximalen Cue, der die Patient_innen sicher nach links ausrichtete. So wurde bei Patient_innen mit schwerstem Neglect das Schauen in die Augen der Therapeutin, die links von der Patientin oder dem Patienten positioniert war, als Ankerreiz definiert. Ein solcher Cue vereinigt biologische, soziale und psychologische Aspekte: Gesichtererkennung als biologisch tief verankerte Funktion mit der Aufforderung einer sozialen Interaktion (Zuwendung) und der Repräsentation der Anwesenheit einer weiteren Person im Raum. In einem nächsten Schritt wurden dann nicht soziale, aber trotzdem hoch prägnante Reize für die Orientierung nach links benutzt (z. B. Bewegungswahrnehmung, später dann bloße Farben). Aufgabe der Therapeutin war es hier, die Patient_innen im Auffinden und Beachten der Cues zu unterstützen. Gleichzeitig sollte durch ihre Intervention erreicht werden, dass an die Anwesenheit der Cues aus dem Arbeitsgedächtnis heraus gedacht wurde, wenn sie nicht direkt wahrgenommen wurden. Arbeitsgedächtnisleistung sollte die dynamische Intervention der Therapeutin im wachsenden Maße überflüssig machen. Bei der nächsten Anpassung der simulierten geschützten kognitiven Umgebung wurde die Prägnanz der Cues weiter reduziert, um zu erreichen, dass auch solche den Patient_innen bewusst bleiben würden, die keinen pop-out-Zuwendungseffekt provozieren. Die Aufgabe des dynamischen Cueings der Therapeutin sollte zusätzlich im wachsenden Maße erreichen, dass die Orientierung nach links (Wendung nach links bis zu einem Ankerreiz) der Arbeitsgedächtnisleistung der Patient_innen überlassen werden konnte. Die letzte Phase der Therapie sah ein Cueing von „innen“ vor, d. h. als selbst definiertes Setzen von Hinweisreizen auf der linken Seite, ohne dass eine therapeutische Vorgabe notwendig wäre. Die Beschreibung des therapeutischen Vorgehens in der Studie von Turgut et al. (2018) zeigt nebenbei auf, wie wichtig ein kognitives Modell für die Definition einer neuropsychologischen Behandlungsmethodik ist, denn ihr Vorgehen ist nur sinnvoll, wenn eine entsprechende Arbeitsgedächtnisleistung der Patient_innen entweder von Beginn an vorhanden ist oder sich parallel zurückbildet (was durchaus nicht immer der Fall ist; Striemer, Ferber & Danckert, 2013).

Fading out der Therapeutin oder des Therapeuten meint im Endeffekt den Transfer der Leistung in den Alltag (wo definitiv dauerhaft keine Therapeut_innen anwesend sind). Allerdings wäre das Prinzip des fading out mit der Forderung nach „Generalisierung in den Alltag“ zu eng gefasst. Erstens ist der Alltag der Patient_innen nicht statisch – er ist abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit bzw. deren Einschränkung. Faktisch gibt es keinen stabilen Alltag (keine ökologische Nische, in der sich die Patient_innen bewegen), der unabhängig von der kognitiven Leistungsfähigkeit eines Organismus zu beschreiben wäre. Insofern meint der Begriff des Alltags die kognitive Komplexität, die den Patient_innen (wieder) in ihren täglichen Handlungen möglich ist bzw. als von ihnen reproduzierbare Grundstruktur im Austausch mit der Umgebung gewählt wurde.

Fading out kann durch unterschiedliche kognitive Mechanismen erfolgen: durch Reduktion der Alltagskomplexität, durch Wiedererwerb von Routinen auf der Ebene einer bestimmten kognitiven Komplexität, wie es weiter oben durch die Methode der vanishing cues diskutiert wurde, oder durch den Erwerb von Strategien und interner Kompensation. Fading out ist somit davon abhängig, welche Form von kognitiver Simulation vorgenommen wird: ein dauerhaftes fading out kann nur auf der Stufe gelingen, die von den Patient_innen erreichbar ist; ein fading out auf einer Ebene der kognitiven Komplexität unterhalb einer maximal möglichen Selbstständigkeit der Patient_innen verletzt ein wesentliches Therapieziel. Es basiert damit auf einer Repräsentation der Leistungsfähigkeit der Patient_innen, der Simulation der ihr entsprechenden kognitiven Komplexität und der Selbstrepräsentation der Patient_innen hinsichtlich Schädigungsfolge und gewählter Biografie. Das oberste Ziel aus Sicht neuropsychologischer Therapie ist es, eine möglichst große Selbstständigkeit der Patient_innen in einem kognitiv angepassten Alltag zu erreichen. Dies ist nicht immer mit dem Ziel der Patient_innen identisch, welche nicht selten einen kognitiv reduzierteren Alltag vorziehen (also eine Art Fehlkompensation durch gelernten Nichtgebrauch vornehmen) bzw. innerlich keine Akzeptanz der Behinderung entwickeln können (gewissermaßen auf ihrem „Recht auf Unawareness“ bestehen). Um diese beiden Problemfelder jeder Therapie zu vermitteln, ist die oben skizzierte Konzeptualisierung neuropsychologischer Diagnostik und Therapie als dialogische Interaktion die Methode der Wahl, die Simulation einer geschützten kognitiven Umgebung das ihr entsprechende Mittel. Darin impliziert ist weiterhin eine berufspolitische Verpflichtung neuropsychologischer Therapie auf eine wissenschaftlich basierte Prognosestellung, die z. B. die Faktoren zeitlicher Abstand seit dem Ereignis, Größe und Lage der Schädigung, Alter, erreichte Einsicht und psychosoziale Ressourcen der Patient_innen umfasst.

Jede konkrete Therapiesitzung basiert auf einer Repräsentation der Leistungsfähigkeit der Patient_innen

Für die Planung jeder einzelnen Therapiesitzung und des fading out sollte integriert werden, was sich aus dem Modell der kognitiven Leistungsfähigkeit des Patienten ergibt und wie der aktuelle Schweregrad seiner Beeinträchtigung sich darstellt. Für die Gestaltung der jeweiligen Therapiesitzung ist von Bedeutung, dass sie am besten mit eher einfachen Aufgaben anfangen sollte, im Mittel- bzw. Hauptteil Aufgaben enthalten sollte, die dem oberen Leistungsbereich entsprechen, und am Ende wieder mit einfachen Aufgaben enden sollte. Ein solch zyklischer Aufbau der Therapiesitzung bedeutet, dass die fordernden Erfahrungen aus der Sitzungsmitte von positiven Erfahrungen von Selbstkompetenz eingerahmt werden und dadurch das Gefühl von Umgebungskontrolle gewahrt bleibt.

Lehrbücher und wissenschaftliche Artikel empfehlen nicht selten die Übernahme einer bestimmten Methodik in die neuropsychologische Therapie, weil mit ihrer Hilfe evidenzbasierte Ergebnisse erreicht wurden (z. B. Kerkhoff & Schmidt, 2018). So richtig es ist, sich an den Prinzipien hoher Evidenz bei der Anwendung von Therapiemethoden zu orientieren und positive Ergebnisse möglichst schnell in die konkrete Therapie zu übertragen, so klar sollte auch sein, dass die neuropsychologische Therapie als Konstruktion von geschützten kognitiven Umgebungen, ohne eine spezifische Einordnung dieser Ansätze in den jeweiligen Schweregrad der Beeinträchtigung der Patient_innen vorzunehmen, als unzulänglich angesehen werden muss. Dasselbe gilt für die Kombination von verschiedenen geschützten kognitiven Umgebungen in einer Therapiesitzung, die nur auf einer Einzelaufgabe basierend leicht monoton werden kann. Leider gibt es aktuell so gut wie keine Systematisierung von Interventionen entlang von Kategorisierungen der Beeinträchtigung, einer spezifischen Kombination von Interventionen und noch weniger über die zeitliche Abfolge unterschiedlicher Ansätze in ihrer Verteilung über den schrittweisen Prozess der Kompensation. Immerhin sieht aber die Leitlinie für die Behandlung von Gedächtnisstörungen eine Einteilung der Patient_innen nach Schweregrad vor und definiert vor diesem Hintergrund auch unterschiedliche Interventionen. Ähnliche Hinweise finden sich auch in der Leitlinie zur Behandlung von Exekutivfunktionen, sodass erste Schritte in diese Richtung gemacht sind, die allerdings im Einzelfall für die Definition einer geschützten kognitiven Umgebung noch viel zu grober Natur sind.

Vulnerable Perioden des Verlaufs und die Wahl der Therapieschwerpunkte

Bei der Einigung auf Therapieziele, die im Mittelpunkt der Behandlung stehen sollen, spielt auch die Frage, wann im Prozess einer Erholung welche Behandlung stattfindet sollte, eine zentrale Rolle (bzw. generell die Prognose der Beeinträchtigung; siehe These 9). Es gibt ernstzunehmende Daten, die zeigen, dass funktionelle Verbesserungen eher zu Beginn der Erkrankung erreicht werden können, später im chronischen Stadium aber schwerer erreichbar sind. Andererseits bilden emotionale Reaktionen auf die Krankheitsfolgen eher dann einen Behandlungsschwerpunkt, wenn die Folgen mit hoher Wahrscheinlichkeit chronisch sind. Entsprechend sollte im postakuten Stadium verstärkt an den funktionellen Folgen, im chronischen Stadium verstärkt an der Krankheitsbewältigung gearbeitet werden.

Eine aktuelle Metaanalyse für den Bereich der Aphasierehabilitation (REhabilitation and recovery of peopLE with Aphasia after StrokE [RELEASE] Collaborators, 2021), die so viele Studien einschließen konnte, dass der Verlauf von über tausend Patient_innen überblickbar war, zeigt, dass der Erfolg der Behandlung durch zwei Aspekte grundlegend beeinflusst wird: das Alter der Patient_innen und die Dauer der Erkrankung. Ältere Patient_innen und solche, die sich im chronischen Stadium befanden, zeigten zwar weiterhin noch Behandlungserfolge, aber deutlich geringere als jüngere Patient_innen und solche, bei denen das Ereignis nicht länger als 1 Monat zurück lag. Bei Letzteren betrug der Zugewinn gegenüber Placebo um die 16 %, bei solchen, deren Ereignis länger als 6 Monate zurück lag, nur noch um die 4 %. Analog zu diesen Ergebnissen für die Aphasiebehandlung fanden wir in Studien über die Effektivität eines Arbeitsgedächtnistrainings zur Verbesserung der sprachlichen Gedächtnisleistung, dass dieses nicht effektiv war (d. h. über den engeren Bereich der trainierten Funktion nicht generalisierte), wenn chronische Patient_innen eingeschlossen wurden, (Weicker et al., 2020). Dagegen kam es in den Studien, die mit subakuten Patient_innen durchgeführt wurden, zweimal zu einer Generalisierung auf die sprachliche bzw. prospektive Gedächtnisleistung (Richter, Modden, Eling & Hildebrandt, 2015, 2018). Da alle drei Studien eine aktive Kontrollgruppe enthielten, liegt der Gedanke nahe, dass die Dauer der funktionellen Folgen (noch subakut oder schon chronisch) eine entscheidende Rolle für die unterschiedliche Effektivität spielte, wobei die Studien allerdings auch noch andere Unterschiede aufwiesen.

Die Bedeutung der frühen Phase für die Erholung von einer Hirnschädigung wird auch durch die tierexperimentelle Literatur gestützt (kurze Zusammenfassungen in Hildebrandt, 2017; Hildebrandt, Lehmann & Kastrup, 2012). Im Tiermodell kommt es zu einer deutlichen Zunahme des neuronalen sprouting in der ersten Phase nach einer künstlichen Hirnläsion, daran schließt sich eine kurze Phase der Stagnation neugebildeter Dendriten an und im letzten Schritt erfolgt ein pruning der neuen Spines und Dendriten (Kolb, 1995). Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass die funktionelle Erholung kurz nach einer Läsion höher ist als in der chronischen Phase und auch dass durch „therapeutische“ Intervention der Beta-Amyloid Load verringert wird (Briones, Rogozinska & Woods, 2009). Allerdings gibt es gerade bei größeren Infarkten mit durch den Infarkt induziertem erhöhtem Entzündungsgeschehen auch umgekehrte Befunde, wenn es während dieser allerersten Phase zu einer therapeutischen Überforderung der Patient_innen kommt (Wahl et al., 2019). Eine Unterbrechung der funktionellen, störungsorientierten Behandlung in einem subakuten Zustand in Richtung von Krankheitsbewältigung bedarf dementsprechend einer Legitimierung durch andere wissenschaftliche Daten, wie z. B. mangelndem Therapiefortschritt seit mehreren Wochen, weil diese Phase den höchsten Erfolg einer funktionsspezifischen Therapie verspricht. Umgekehrt bedarf es auch einer besonderen Legitimation, wenn man in einer chronischen Phase eine reine Übungstherapie vorsieht und/oder Krankheitsbewältigung zurückstellt.

Der Einsatz von Add-on-Therapeutika – zunehmend Bestandteil neuropsychologischer Therapie – basiert auf einem neurowissenschaftlich kognitiven Modell

Add-on-Interventionen bekommen in der neurologischen Rehabilitation eine wachsende Bedeutung. Add-on-Interventionen kann man in fokal unspezifisch wirkende (z. B. neuropharmakologisch wirkende), fokal spezifische (z. B. tDCS) und dynamisch verknüpfende einteilen (z. B. transkranielle alternierende Elektrostimulation [tACS]). Ihr allgemeines Ziel ist die Erhöhung der Neuroplastizität, um dadurch einen höheren Effekt für therapeutische Interventionen zu ermöglichen.

Auch wenn noch etwas umstritten, so zeigen die aktuellen Metaanalysen im Bereich der Aphasiebehandlung (Berube & Hillis, 2019), der Neglectbehandlung (van der Kemp, Dorresteijn, Ten Brink, Nijboer & Visser-Meily, 2017) und der Behandlung von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen (Hara, Shanmugalingam, McIntyre & Burhan, 2021; Yun, Chun & Kim, 2015) einen Add-on-Effekt solcher Zusatzinterventionen auf die eigentliche Therapie. Der Einsatz von fokal spezifischen und dynamisch verknüpfenden Add-on-Therapien basiert auf kognitiven Modellen und dem Wissen um ihre neuroanatomische Implementierung. Soweit man Lernen als Grundelement neuropsychologischer Therapie definiert, könnte man argumentieren, dass der Einsatzbereich von Verfahren, die Neuroplastizität befördern, eigentlich unbegrenzt sein sollte. Das ist aber nicht der Fall. Zum Beispiel erreichen tDCS und tACS ausschließlich der Kalotte benachbarte Hirnareale. Für die Beeinflussung limbischer oder subkortikaler Vorgänge sind sie also eher untauglich. Bei tDCS lässt sich die Wirkung der Anode von der der Kathode unterscheiden. Kathoden bewirken eine Hemmung, ihr fokaler Einsatz ist damit nur bei einer begründeten Annahme einer dysfunktionalen kortikalen Inhibition sinnvoll. Die Anwendung von tDCS und tACS sollte über den Hirnregionen erfolgen, die eine zentrale Rolle für den Wiedergewinn einer Funktion spielen. Insofern ist ihr Einsatz nicht nur an ein theoretisches Modell der kognitiven Funktionen gebunden, sondern auch ein das entsprechende Wissen, wo diese Funktionen neuronal implementiert sind.

Die Bedeutsamkeit einer kognitiven Theorie zeigt sich auch bei der bereits erwähnten Prismenadaptation. Die Erforschung ihrer Prinzipien zeigt, dass der Anpassungsprozess an die Brille im Wesentlichen durch zwei Prozesse geleistet wird: durch eine relativ schnell verlaufende kognitive Kontrollleistung (Rekalibrierung) und einen langsam verlaufenden motorischen Lernprozess (Realignment). Mit anderen Worten, die fehlerhafte motorische Antwort wird anfangs durch erhöhte kognitive Kontrolle kompensiert, deren Bedeutung im späteren Verlauf zurücktritt, weil die motorischen und visuellen Koordinaten implizit miteinander besser abgeglichen werden. Welche therapeutischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind, dass es mindestens diese beiden Prozesse gibt, ist aber bis heute eher unklar. Dabei spielt die Beantwortung dieser Frage durchaus eine sehr relevante Rolle in der neuropsychologischen Therapie: Ist die Rekalibrierung der Prozess, der eine Verbesserung des Neglects initiiert (quasi durch eine kognitive Kompensation und vermehrte Einsicht), dann sollte man die Prismenbrille während einer Therapieeinheit häufiger auf- und absetzen lassen, um die kognitive Fehlerkorrektur möglichst durchlaufen zu lassen. Ist aber das Realignment der treibende Prozess, dann sollten die Patient_innen die Brille eher möglichst lange durchgängig tragen, um den motorischen Anpassungsprozess maximal zu vollziehen. Insofern folgt, dass die neuropsychologische Therapie, um anschlussfähig an die technologische Entwicklung von Add-on-Therapien zu bleiben, einer fundierten kognitiven Theorie bedarf, um einerseits geschützte kognitive Umgebungen zu simulieren, andererseits aber Stimulationen in Richtung Neuroplastizität zu wählen, die therapeutisch optimal wirksam sind.

Prognosestellung ist ein zentrales Element der Therapie und damit eines dialogischen Prozesses

Die Wahl und der Wechsel einer neuropsychologischen Therapie müssen sich durch den Therapieverlauf und anhand des wissenschaftlichen Wissens um die Prognose begründen lassen. Für die Prognosestellung spielt eine Reihe von Faktoren eine Rolle. In These 8 wurde bereits auf den Zeitraum hingewiesen, der seit dem Ereignis verstrichen ist, welches zur Hirnschädigung geführt hat. Für seine genaue Bewertung sind auch ätiologische Abwägungen notwendig: So verläuft die Erholung nach einem Schädelhirntrauma (SHT) häufig langsamer als bei einem Hirninfarkt (Suzuki et al., 2013), dafür ist der Zeitraum, bis ein chronischer Zustand erreicht wird, bei dem von Spontanremission nicht mehr ausgegangen werden kann, beim SHT ausgedehnter und kann länger als 1 Jahr anhalten. In einer Untersuchung über das Ein-Jahres-Outcome von Frühreha-Patient_innen mit großen Mediainfarkten oder Blutungen im Bereich der Arteria cerebri media fanden wir, dass die Patient_innen mit Blutungen anfangs wenig Fortschritt zeigten und durchaus häufiger die Phase C der neurologischen Rehabilitation nicht erreichten (Dengler, Fischer, Kastrup, Elsner & Hildebrandt, 2015). Im weiteren Jahresverlauf war ihre Erholung aber durchaus der von Patient_innen mit Mediainfarkt vergleichbar. Insofern ist die mit den Patient_innen zu besprechende Prognose nicht nur abhängig von dem Zeitraum seit dem Ereignis, sondern auch von der biologischen Dynamik der Erholung des Gehirns.

Alter ist ein weiterer Aspekt, der die Prognosestellung beeinflusst. Die Wirkung des Alters auf die Rückbildung von motorischen und kognitiven Defiziten ist nicht völlig geklärt, auch wenn die ganz überwiegende Zahl von Schlaganfallstudien immer wieder zeigt, dass das Outcome älterer Patient_innen schlechter ist als das jüngerer. Richter, Modden, Hanken, und Hildebrandt (2015a) fanden für Patient_innen unter 65 Jahren, dass das Alter die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit in einer Reha-Klinik der Phase D nicht beeinflusste. In der bereits erwähnten Studie zum Verlauf großer Mediainfarkte und Blutungen spielte das Alter auch keine relevante Rolle und diese Patientengruppe war überwiegend älter als 60 Jahre. Tierexperimentell berichtet Kolb (1995) über vorhandene Lernfähigkeit von Ratten bis ins hohe Alter. Allerdings war diese nicht durch dieselbe Neuroplastizität vermittelt wie bei jungen Ratten: Letztere zeigten dendritisches sprouting, Erstere nicht.

Die Lage der Läsion spielt für die Prognosestellung eine wesentliche Rolle. Leistungen, die auf Hirnstammebene eine eigene Absicherung haben, zeigen eine deutlich bessere Erholung, wenn sie durch eine kortikale oder subkortikale Läsion beeinträchtigt sind, als solche, die im Hirnstamm keine eigene Absicherung haben. Leider ist Letzteres für die meisten kognitiven Funktionen der Fall, während sich kortikal verursachte Schluckstörungen oder auch Stehen und Laufen per Übernahme der Leistungsausübung durch Hirnstamm- oder Mittelhirnstrukturen schneller verbessern (Luft et al., 2008).

Das neben Krankheitsdauer und Ätiologie klinisch relevanteste Kriterium für die Prognosestellung ist vermutlich die Dauer, seitdem sich keine messbare funktionelle Veränderung eingestellt hat, und die Schwere der Schädigung. Gerafi et al. (2020) fanden, dass sich bei 10 % aller Patient_innen auch 7 Jahre nach einem Hirninfarkt noch ein lateralisiertes Aufmerksamkeitsdefizit nachweisen lässt – in Abhängigkeit von der Schwere der spezifischen und globalen Schädigung zu Beginn der Erkrankung. Im Bereich der Motorik ist es eine goldene Regel, dass eine mehr als 14 Tage anhaltende vollständige Lähmung der Hand, die nicht durch irgendwelche anderen Umstände erklärbar ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit dauerhaft bestehen bleiben wird. Die meisten Studien zur motorischen Rehabilitation konzentrieren sich daher auf Patient_innen mit leichter bis moderater Parese, während sich neuropsychologische Rehabilitationsstudien nicht selten auf Patient_innen mit schweren und chronischen Defiziten konzentrieren (siehe z. B. These 2, das Zitat von Wilson, 2008). Bei diesen ist die Prognose, was die Veränderbarkeit der funktionellen Leistungsfähigkeit angeht, eher ungünstig.

Wird also ab einer bestimmten Folge intensiver Therapie (in der Regel nach 3 Wochen intensiven und regelmäßigen Trainings) kein messbarer Fortschritt mehr deutlich, dann ist – unter bester Berücksichtigung des Wissens um die Dauer, die Ätiologie und die Schwere der Erkrankung – den Patient_innen zu eröffnen, dass das Therapieziel verändert werden sollte. Dieser gewünschte Wechsel ist dialogisch zu erarbeiten und zu kommunizieren, da er einen Eingriff in die biografische Selbstdefinition der Patient_innen darstellt, bedeutet er doch für unabsehbare Zeit einen Verzicht auf den Wunsch eines Fähigkeitsgewinns in der therapierten Leistung. Ohne einen klaren Hintergrund im evidenzbasierten Wissen zu haben, welches entsprechend verständlich kommuniziert wird, wäre ein Beharren auf einem solchen Wechsel (wohin er auch immer gehen mag) autoritär und nicht therapeutisch. Und ohne Einwilligung der Patient_innen in die neu zu formulierenden Therapieinhalte ist weitere Therapie unmöglich.

Die Simulation einer kognitiven Umwelt relativ zur Störung steht also am Anfang jeder Diagnose und Therapie – sie begleitet auch ihren Verlauf. Und sie stellt den Punkt dar, wo neuropsychologische Therapie in reine Krankheitsbewältigung wechselt, weil ein relativer Stand erreicht wurde, für den sich mit den aktuellen therapeutischen Möglichkeiten keine deutliche Verbesserung mehr erzielen lässt. Krankheitsbewältigung und neuropsychologische Therapie vermitteln sich durch den dialogischen Charakter der kognitiven Simulation und den dynamischen Charakter der neuropsychologischen Intervention: die Patient_innen über die nächsten Hürden zu helfen, die sich durch die Tatsache der Hirnverletzung ergeben haben. Akutheitsgrad und Chronizität bilden dabei zusätzliche determinierende Komponenten, genauso wie die durch den dialogischen Charakter der Intervention erreichte Einsicht und Motivation.

Literatur