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Free AccessEditorial

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Nachkriegszeit – erst eine historische Kontextualisierung kann die Hintergründe klären

Child and adolescent psychiatry in the post-war period – only a historical contextualisation can clarify the backgrounds

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000796

Am 18.08.2020 berichtete ARD Report Mainz über „Ärzte missbrauchten Kleinkinder für Medikamententests“. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach stellte in dem Bericht dazu fest: „Das ist ein Menschenversuch gewesen, weil es gab ja überhaupt keine Sicherheit, man ist hier quasi voll ins Risiko gegangen in einer Art und Weise, wie man es normalerweise im Tierversuch wagen kann, aber nicht bei Kindern.“

Dieser Bericht reiht sich ein in eine lange Folge von Berichterstattungen über angebliche und wirkliche Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen. Spätestens seit Beginn des Runden Tisches Heimerziehung (RTH) 2009 waren neben Leid- und Unrechtserfahrungen auch mögliche Medikamentenversuche und jahrelange Dauermedikationen mit Psychopharmaka in Heimen und Anstalten der Nachkriegszeit prinzipiell bekannt: „Ehemalige Heimkinder berichteten, dass sie im Heim Psychopharmaka einnehmen mussten und drangen darauf, diese Problematik im Rahmen des Runden Tisches zu behandeln“ (Runder Tisch Heimerziehung, 2010, S. 19). Wirklich aufgegriffen wurde das Thema aber nicht. Einzig Balz (2010) berichtete konkret über Medikamentenversuche an Kindern in den 1950er-Jahren in der Universitätspsychiatrie Heidelberg.

2016 wurde die Thematik medial präsenter, allerdings oftmals wenig historisch korrekt, sondern eher simpel skandalisierend dargestellt. Die Filme des ZDF („Medikamententest bei Heimkindern“) bis hin zu denen der ARD (Report Mainz 2020) folgen einem ähnlichen, simplen Muster in der Darstellung: Ärzte, am besten sogar „böse Psychiater (in Nazitradition) verordnen unverantwortlich Psychopharmaka und machen quälende Menschenversuche“ (Fegert, 2018). Die Behauptungen in den Berichten erfolgten als „ahistorische Interpretation“ (Lenhard-Schramm, 2017, S. 47), weder die angeblichen Medikamentenversuche noch die rechtlich-ethischen Handlungsbedingungen der Ärztinnen und Ärzte wurden in den zeitgenössischen Kontext eingeordnet.

Der letzte Bericht von Report Mainz zeigt dies exemplarisch am Beispiel einer Publikation von 1960 zu Contergan® (Thalidomid): Der Wirkstoff Thalidomid war in den 1950er-Jahren intensiv in Tierversuchen erprobt worden (Lenhard-Schramm, 2016, S. 141). Danach erst erfolgten klinische Tests und der Wirkstoff Thalidomid wurde am 01.10.1957 als Contergan® auf den deutschen Markt gebracht (Lenhard-Schramm, 2016, S. 173). Die im Filmbericht erwähnte Publikation von Ingeborg Schiefer berichtet „Über klinische Erfahrungen mit Contergan bei tuberkolosekranken Kindern“ (1960) in der Lungenheilstätte Wittlich/Eifel, die „Versuche“ wurden also durchgeführt mit dem bereits für Kinder zugelassenen Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan®. Obendrein galt Contergan® im Berichtszeitraum der Publikation als vollkommen unbedenklich und war deshalb nicht einmal rezeptpflichtig, was damals auch zur massenhaften Verbreitung beitrug. Lenhard-Schramm bezeichnete das Schlafmittel deshalb auch als „Lifestyle-Drug“ (Lenhard-Schramm, 2016, S. 81). Zum Zeitpunkt der Behandlung in der Lungenheilanstalt war Contergan® nicht nur für Kinder zugelassen, sondern auch indikationsgerecht angewendet als Schlaf- und Beruhigungsmittel. In 1960 mehrten sich jedoch Meldungen über Nebenwirkungen und schließlich wurde Contergan® endlich am 31.07.1961 rezeptpflichtig (Lenhard-Schramm, 2016, S. 284).

Als ein wichtiges Behandlungselement in damaligen Lungenheilstätten wurde „die Ruhigstellung des Patienten“ betrachtet (in der damaligen Psychiatrie kennen wir vergleichbar den „künstlichen Winterschlaf“ und die „Schlafkuren“). Die zuvor verschriebenen Beruhigungs- und Schlafmittel schienen der Ärztin nicht optimal. Contergan® dagegen bot sich an als ein „Sedativum mit guter Wirkung bei gleichzeitiger Unschädlichkeit“ (Schiefer, 1960). Contergan® wurde deshalb angewendet, „um seine Wirkung bei tuberkolosekranken Kindern – also unter anderen Bedingungen als üblich – zu erproben“ (Schiefer, 1960). Die Gabe erfolgte offensichtlich im Rahmen der sogenannten Heilbehandlung, der ärztlichen Betreuung, was schon an den sehr unterschiedlichen Medikationsdauern und Dosierungen bei den Patient_innen deutlich wird.

Die Anwendung eines neuen, markteingeführten, frei verfügbaren und scheinbar unschädlichen Medikaments als „Menschenversuch“, als „voll ins Risiko“ gehend zu bezeichnen, ist nur möglich ohne Beachtung der zeitgenössischen Bedingungen. Die Geschichte der Arzneimittelzulassung, der rechtlichen und ethischen Regularien ist in der historischen Perspektive äußerst komplex und heutige Standards galten mitnichten vor 60 Jahren. Insofern liegt Karl Lauterbach nicht falsch mit seiner Aussage: „Also eine solche Vorgehensweise würde heute nicht nur zum Verlust der Approbation führen, berechtigterweise, sondern das könnte sogar eine Haftstrafe zur Konsequenz haben, weil es ja ganz klar strafrechtlich hier eine Form der Körperverletzung“ sei (Bericht Report Mainz). Allein so galt es damals nicht und heute mit gestern zu verwechseln, was gesetzliche Regelungen angeht, führt zu Problemen. 1960 gab es noch keine gesetzliche Regelung von Medikamentenversuchen. Diese erfolgte erst mit dem Arzneimittelgesetz von 1976. Nicht einmal die berufsethischen Anforderungen an Medikamentenversuche waren definiert, die Deklaration von Helsinki wurde vom Weltärztebund erst 1964 verabschiedet. Die indikationsgerechte Behandlung von Kindern mit einem zugelassenen, nicht rezeptpflichtigen Präparat ist also rechtlich-ethisch eher als unbedenklich einzuordnen. Die Frage heute wäre, ob die Patient_innen systematisch zum Zwecke der Sammlung von Daten z. B. zur Wirksamkeit behandelt werden, und dann gelten heute die entsprechenden Regularien nach dem Arzneimittelgesetz.

Wenn es um die Frage nach den Zusammenhängen, Ursachen und den Verantwortlichkeiten für Medikamentenversuche und Dauermedikation in Kliniken und Anstalten geht, ist eine historische Kontextualisierung (Schepker & Kölch, 2017) erforderlich. Es reicht nicht mehr die Betrachtung einzelner Personen, sondern die Einbettung in den Kontext ist notwendig, der dann auch aufklären kann, welche Interessen jeweils bestanden. Im Abschlussbericht des Rundes Tisches Heimerziehung wird für die erlittenen Leid- und Unrechtserfahrungen in Heimen auf ein Netzwerk von „Tätern“ verwiesen: „Verantwortlich waren Eltern […], Vormünder und Pfleger […], Jugendämter […], Landesjugendämter […], Vormundschaftsgerichte […], Träger der Einrichtungen […], Heimleitung und Heimpersonal […], Verantwortliche für Rechtsetzung und -anwendung, die die rechtlichen Rahmenbedingungen und Richtlinien vorgaben. Hierzu zählen der Bund, die Länder, die Landesjugendämter, die Jugendämter und die Gerichte“ (Runder Tisch Heimerziehung, 2010, S. 29–30).

Auch die historische Kontextualisierung von Medikamentenversuchen und Dauermedikationen sollte deshalb das gesamte Feld der Beteiligten in die Betrachtung einbeziehen, die beteiligten Akteure (z. B. Pharmazeut_innen, Ärzt_innen, Politiker_innen, Verwaltungsbeamt_innen, Patient_innen, Jurist_innen und Richter_innen), die involvierten Institutionen (z. B. die Trägerinstitutionen), die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (z. B. die Finanzierung der Einrichtungen und der Medikamente). Betrachtet werden sollten die Ereignisse mit den Interaktionen und Machtstrukturen (z. B. welche Rolle spielte der letztverantwortliche Klinikleiter) und deren gedankliche Grundlagen (z. B. in der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Tradition, Patient_innen einzuteilen in förderfähig bzw. minderwertig; Schepker & Kölch, 2017).

Betrachtet man z. B. die Einführung des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1968 lediglich aus der persönlichen Sicht der führenden kinder- und jugendpsychiatrischen Fachvertreter, so ergibt sich folgender Eindruck des Geschehens: „Auf dem 71. Deutschen Ärztetag am 20. Mai 1968 in Wiesbaden wurde schließlich mit Unterstützung der ‚Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde‘ und der ‚Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde‘ das Gebiet ‚Kinder- und Jugendpsychiatrie‘ in den Weiterbildungsordnungskatalog der Bundesärztekammer aufgenommen. Der Antrag wurde auf dem Deutschen Ärztetag von den Delegierten der Landesärztekammern in Hamburg, Hessen und Berlin-West gestellt, die die Argumente von drei Kinder- und Jugendpsychiatern (Albrecht, Harbauer, Nissen) vertraten, die sich mit dieser Absicht als Mitglieder der Landesärztekammern zur Wahl gestellt hatten“ (Nissen, 2005, S. 507). Bezieht man den historischen Handlungskontext mit ein, so wird ein Netz von Akteuren sichtbar, darunter besonders bedeutsam der Schriftführer der Fachgesellschaft der Erwachsenenpsychiater (der heutigen Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. [DGPPN]) Helmut Ehrhardt (1914–1997). Er setzte sich in den Gremien als Vertreter aller „Psychofächer“ für eine Trennung von Neurologie und Psychiatrie sowie die Einführung der Gebietsbezeichnung Kinder- und Jugendpsychiatrie ein. Diese Gremienvorschläge wurden auf dem Ärztetag 1968 lediglich als Gesamtpaket vorgestellt und beschlossen.

Im Beitrag von Klaus Schepker, Daniela Harsch und Jörg M. Fegert „Die ‚schwer erziehbaren Kinder‘ benötigten dringend einen Arzt – verbandspolitische Vorgeschichte der Einführung des Facharzttitels für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland 1968“ (in diesem Heft) werden die kontextuellen Hintergründe und Ursachen der Einführung des Facharzttitels für Kinder- und Jugendpsychiatrie ausführlich dargelegt.

Zwar war seit dem Runden Tisch Heimerziehung prinzipiell bekannt, dass es Medikamentenversuche und Dauersedierung in der Nachkriegszeit gegeben hatte, jedoch fehlten noch die entsprechenden Forschungsbelege. Carolin Kaufung, Martin Holtmann und Isabel Böge „Die Entwicklung der Psychopharmakologischen Behandlung von 1952 bis 1957 in den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken Weissenau und Gütersloh“ (in diesem Band) liefern dazu umfassende Befunde. Das Aufkommen und die Anwendung von Neuroleptika wird vergleichend in zwei Institutionen anhand der Analyse ganzer Patientenjahrgänge (966 Patientenakten) untersucht, um zu belastbaren Ergebnissen zu gelangen. Die Anteile der damals schon gebräuchlichen Psychopharmaka haben sich in den beiden Institutionen je nach Klinikkonzept anders entwickelt. Vereinzelt ließen sich auch erste Ansätze von weiteren therapeutischen Verfahren erkennen. In beiden Einrichtungen wurden – anders in den Recherchen von Report Mainz – auch „echte“ Versuchspräparate, sogenannte Nummernmedizin (vor Markteinführung wurden Versuchspräparate mit einer Kombination aus Buchstaben und Zahlen benannt), in Einzelbehandlungen eingesetzt. Insgesamt konnten neun Fälle von „Nummernmedizin“ identifiziert werden, also bei knapp 1 % der Patient_innen. Das liegt im Bereich weiterer Forschungsergebnisse in kinder- und jugendpsychiatrischen Stationen/Kliniken (wie Kliniken finanzierte Einrichtungen und mit zumeist nur 1 bis 3 Monaten Aufenthaltsdauer): Weder in der KJP Süchteln (laut LVR Forschungsbericht von 2020; Stichprobe von 141 Patient_innen) (Sparing, 2020) noch in der KJP Königslutter (Stichprobe von 200 Patient_innen) sowie der Universitäts-Psychiatrie Göttingen (Stichprobe von 160 Patient_innen) (Hartig, 2020) und in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Bonn (Stichprobe von 379 Patient_innen) konnte „Nummernmedizin“ identifiziert werden (Fehlemann & Sparing, 2017, S. 115). In der KJP Wunstorf wurden hingegen sieben Fälle von sogenannter Nummernmedizin in einer Stichprobe von 250 Patient_innen identifiziert (Hartig, 2020, S. 12), was einer Häufigkeit von 2.8 % entsprechen würde (wobei sich darunter überwiegend Versuche mit Alternativmedizin befinden, wie z. B. mit verschiedenen Vitaminpräparaten). Nach aktuellem Forschungsstand variiert der Anteil an Patient_innen in den klinischen Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie (entsprechend dem Konzept der „Beobachtungsstationen“ im Wesentlichen für die Landesjugendämter, für die Jugendhilfe aktiv), die mit „Nummernmedizin“ behandelt worden sind, zwischen 0 und 2.8 %.

Ganz andere Befunde lieferten die Forschungen in „Bewahranstalten“, den Anstalten für die „praktisch unerziehbaren“ Kinder und Jugendlichen (wie z. B. Schleswig-Hesterberg), und den Behindertenanstalten mit den Langzeitpflegefällen (wie z. B. Bethel und Rotenburg). Ehemalige Heimkinder aus Schleswig-Holstein haben bei ihren eigenen Recherchen in den Archiven der Bayer AG (Schepker, Kowalke, Wagle, Wagner & Wulf, 2020) vielfältige Belege für Medikamentenversuche in Schleswig-Hesterberg (z. B. mit Megaphen® comp in den 1950er-Jahren) finden können. Die gerade vorgestellten Forschungsergebnisse zu Bethel (Lenhard-Schramm, Rating & Rotzoll, 2020) berichten von zahlreichen Arzneimittelprüfungen, in einer Stichprobe von 265 Patient_innen wurden 63 Fälle von Erprobungen (überwiegend Antiepilektika) identifiziert, also 23.8 % der Stichprobe. Mögliche Erklärungen für diese unterschiedlichen Häufigkeiten sind die unterschiedlichen Konzepte (kurzfristige Beobachtung für Gutachten vs. langjährige Verwahrung), die sozialpolitischen Aufträge und die personelle und finanzielle Ausstattung der verschiedenen Einrichtungstypen (Schepker, Wulf & Fegert, 2019).

Die Konzepte der jeweiligen Einrichtungen waren zur damaligen Zeit sehr heterogen. Führende Kinder- und Jugendpsychiater, wie z. B. Werner Villinger (1887–1961), hatten sich seit der Weimarer Republik für eine konzeptionelle Trennung von Behandlung in Kliniken und Verwahrung von „praktisch unerziehbaren“, von Pflegefällen, in Anstalten eingesetzt. Der Schriftführer der Erwachsenenpsychiater, Helmut Ehrhardt (Schüler von Villinger), wandte sich noch 1969, als das Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein ihn um Rat fragte, gegen eine Umbenennung von Schleswig-Hesterberg als „Bewahranstalt“ in eine „Sozialtherapeutische Anstalt“ mit der Begründung, weil dort „keine Therapie im engeren Sinne sondern Besserung durch sozialpädagogische Ansätze erfolgen soll“ (Vermerk „Der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein IV 68–910“, Kiel 01.04.1969, Archiv DGPPN).

Bei einer kritischen Bestandsaufnahme der Bewohner_innen der Landeskrankenhäuser in Schleswig-Holstein 1968–1969 wurde festgestellt, dass dort viele Kinder und Jugendliche von den Landesbehörden in Zusammenarbeit mit Ärzt_innen und Gerichten falsch untergebracht waren. Bitter für die Betroffenen, dass sie dort, vom Innenministerium bewusst geplant, noch jahrelang Leid und Unrecht erfahren mussten: Obwohl für „verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche“ „das therapeutische Angebot eines Landeskrankenhauses […] nicht optimal“ sei, müssen diese trotzdem „zunächst in besonderen Fachabteilungen der Landeskrankenhäuser verbleiben“ (Vermerk „Der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein IV 68–910“, Kiel 01.04.1969, Archiv DGPPN).

Die Betroffenen sind in den Einrichtungen zweifelsfrei im weiteren Sinne Opfer von Gewalt geworden, z. B. durch Dauersedierung mit Psychopharmaka als einer chemischen „Zwangsjacke“. Aus heutiger Sicht erfolgten Dauersedierungen mit Psychopharmaka, die zu wenig oder auch gar nicht an Kindern erprobt – wenngleich zugelassen – waren, und mit Psychopharmaka zu denen Erfahrungen an Kindern erst während des klinischen Einsatzes erfolgten, teils unterstützt durch die Pharmaindustrie. Das brachte erhebliche Nebenwirkungen mit sich, wie Günter Wulf (2020) dies in seinem im Heft 5/2020 rezensierten Buch beschrieben hat. Zum Kontext müssten aber die vorherrschende, überaus schlechte Personalausstattung und der staatliche Auftrag gewürdigt werden (s. o.), welcher Ärztinnen und Ärzte dazu trieb, unruhige Kinder (von denen einige fehlplatziert waren) besser stark zu sedieren.

Das Pikante an der Argumentationsfigur mit Fingerzeig auf angeblich verbrecherische, an Kindern forschende Einzeltäter („Ärzte missbrauchten Kleinkinder“, Bericht Report Mainz) ist zudem, dass mit solchen Aussagen von der Mitverantwortung der Politik ablenkt wird, egal ob bewusst oder nur aus Unkenntnis.

Die Gesundheitspolitik vertraute in der Bundesrepublik bei Medikamentenversuchen und -zulassungen in den Nachkriegsjahren, anders als in den USA, voll auf die freiwillige Selbstkontrolle von Ärzteschaft und Pharmaindustrie, gewährte einen großen rechtlichen Spielraum und war schließlich erst 1976, nach jahrzehntelangen Diskussionen, diversen Gerichtsurteilen, einigen Medikamentenskandalen und internationalem Druck durch die EWG, bereit zu einer gesetzlichen Regelung von Medikamentenversuchen und dem Schutz der Versuchsteilnehmer_innen (gültig ab 01.01.1978). In den Jahren 1949 bis 1978 unterlag ärztliches Handeln, auch Medikamentenversuche, aber immer schon der allgemeinen Gesetzgebung und der entsprechenden Rechtsprechung durch die Gerichte (vor allem bei Behandlungsfehlern), einer rechtlichen „Grauzone“ wie Lenhard-Schramm (2017, S. 36) es bezeichnete.

Die Ärzteschaft war Teil eines „pharmazeutischen Netzwerkes“, aber weder die komplexen Handlungsbedingungen noch die Existenz von „Mittätern“ sind eine „Entschuldigung“ für die beteiligten Kinder- und Jugendpsychiater_innen. Die Letztverantwortlichkeit für die medizinischen Entscheidungen verbleibt immer beim Leitenden Arzt oder der Leitenden Ärztin, z. B. für die Durchführung von Arzneimittelprüfungen, die Verschreibung von Psychopharmaka zur Dauersedierung oder die Feststellung der praktischen Unerziehbarkeit in Gutachten. Deshalb sei hier nochmals ausdrücklich auf zwei diesbezügliche Stellungnahmen der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften verwiesen:

  • „Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. zu Leid- und Unrechtserfahrungen in Heimen, Anstalten und Kliniken in der Nachkriegszeit“ (09.05.2019, Berlin) und
  • „Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BAG KJPP) zu Leid- und Unrechtserfahrungen in Heimen, Anstalten und Kliniken in der Nachkriegszeit“ (vom 23.05.2019, Schleswig).

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