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Open AccessÜbersichtsarbeit

Klassifikation von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen in der ICD-11

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000854

Abstract

Zusammenfassung. Der Beitrag gibt eine kurze Übersicht über die Veränderungen in der Klassifikation von Hyperkinetischen Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen nach ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Sowohl in der Bezeichnung als auch in der Binnendifferenzierung lehnt sich ICD-11 erfreulicherweise an das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) an. Auch die Aufgabe der ICD-10-Kombinationsdiagnose der Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens zugunsten von Mehrfachdiagnosen ist zu begrüßen. Der Verzicht auf eine exakte Operationalisierung der Kriterien hilft einerseits bei der Einordung von Grenzfällen in der klinischen Praxis, macht es aber auch notwendig, für die Klärung der einzelnen Symptome auf das DSM-5 zurückzugreifen.

Classification of Attention Deficit-/Hyperactivity Disorder in ICD-11

Abstract. The article gives a brief overview of the modifications to the classification of hyperkinetic disorders/attention deficit/hyperactivity disorders according to ICD-11. Fortunately, these modifications are based on DSM-5, both in terms of their designation and the internal differentiation of the diagnosis. That the ICD-10 relinquishes the combination diagnosis of hyperkinetic conduct disorder in favor of multiple diagnoses is also to be welcomed. On the one hand, the renunciation of an exact operationalization of the symptom criteria may help with the classification of borderline cases in clinical practice; on the other hand, it also makes it necessary to resort to the DSM-5 for the clarification of the individual symptoms of the disorder.

Zum 1. Januar 2022 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Beginn des weltweiten Umstiegs von der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) auf die ICD-11 in Aussicht gestellt (Gaebel, 2021). Hinsichtlich der Klassifikation von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) bzw. Hyperkinetischen Störungen geht die ICD-11 neue Wege und orientiert sich weitgehend am DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), was schon an der Veränderung der Störungsbezeichnung deutlich wird. Die ICD-11 übernimmt nun auch die Bezeichnung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und stellt damit die Bedeutung der Unaufmerksamkeit als einer weiteren Komponente der Störung neben der Hyperaktivität und Impulsivität heraus. Die übergeordnete ICD-10-Kategorie der Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend wird in der ICD-11 völlig aufgegeben und stattdessen wird die ADHS – ähnlich wie im DSM-5 – den „neurodevelopmental disorders“ zugeordnet. Damit betont auch die ICD-11 die enge Verknüpfung von neuronaler Reifung und der ADHS-Symptomatik. Auch bei der Bezeichnung des Störungsbildes und der Subklassifikation bricht die ICD-11 mit der ICD-10. Während die ICD-10 zwischen einer Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit (F90.0) und der Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1) unterscheidet, bei der zusätzlich die Diagnosekriterien für eine Störung des Sozialverhaltens erfüllt sind, verzichtet die ICD-11 auch bei ADHS – wie bei allen anderen psychischen Störungen – auf eine Kombinationsdiagnose und fordert zwei getrennte Diagnosen, wenn die Kriterien für beide Störungen erfüllt sind. Die ICD-11 übernimmt auch die Binnendifferenzierung vom DSM-5 weitgehend und unterscheidet nun zwischen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung mit vorwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild, mit vorwiegend hyperaktiv-impulsivem Erscheinungsbild und mit gemischtem Erscheinungsbild (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nach ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems; Übersetzung durch die Autoren)

Ansonsten sind die Symptomkriterien der ICD-11 – vergleichbar zu den klinischen Kriterien der ICD-10 – bewusst weniger präzise formuliert als die DSM-5-Kriterien und die ICD-10-Forschungskriterien, die es in dieser Form bei der ICD-11 gar nicht mehr gibt. Die ICD-11 hält auch den Störungsbeginn vage – mit Beginn in der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen bis mittleren Kindheit – und liegt damit nahe am DSM-5, das einen Beginn vor dem Alter von 12 Jahren fordert. Die weiteren Kriterien – Symptomdauer von mindestens 6 Monaten und in einem dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenem Ausmaß, Beeinträchtigungen durch diese Symptome in zwei oder mehr Lebensbereichen und deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen – stimmen mit ICD-10 und DSM-5 überein.

Kritische Bewertung

Grundsätzlich sind die Modifikationen in der ICD-11 und die weitgehende Anpassung an das DSM-5 zu begrüßen. Die neue Einordnung von ADHS in die Kategorie der „neurodevelopmental disorders“ macht den empirisch gut belegten Bezug zur neuronalen Entwicklung deutlich (Banaschewski et al., 2017), wenngleich eine deutsche Übersetzung als neuronale Entwicklungsstörung oder Störung der neuronalen Entwicklung eine starke Nähe zu neurologischen Störungen suggeriert und die Lösung in der deutschen Übersetzung des DSM-5 (Falkai et al., 2015), die Kategorie als Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung zu bezeichnen, möglicherweise hilfreich ist, da hier die gesamten Entwicklungsstörungen einschließlich der Intelligenzminderungen und der Autismus-Spektrum-Störungen subsumiert sind. Die Aufgabe der Hauptkategorie der psychischen Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend erleichtert auch den Zugang zu dieser Diagnose für Erwachsene, was vor dem Hintergrund der empirischen Befunde zur Häufigkeit der Störung im Erwachsenenalter (Simon, Czobor, Balint, Meszaros & Bitter, 2009) und zum Verlauf der Störung von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter sehr hilfreich ist, die auch für den deutschen Sprachraum belegt sind (z. B. Döpfner et al., 2015). Die generelle Verabschiedung von Kombinationsdiagnosen – hier der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens und die damit einhergehende Option für Mehrfachdiagnosen – erleichtert die klinische Diagnostik. Die Übernahme der Subklassifikation nach DSM-5 in das vorwiegend unaufmerksame, das vorwiegend hyperaktiv-impulsive und das gemischte Erscheinungsbild trägt den vielfältigen empirischen Befunden zu den Binnendifferenzierungen dieser Störung Rechnung, die auch für den deutschen Sprachraum vorliegen (z. B. Döpfner et al., 2008).

Wie die klinischen Kriterien nach ICD-10 sind auch die ICD-11-Kriterien bewusst nicht operationalisiert, weder was die einzelnen Symptome betrifft noch das Alterskriterium für den Beginn der Störung. Dies kann einerseits für die klinische Anwendung hilfreich sein, weil damit eine Pseudogenauigkeit vermieden wird, die in der klinischen Versorgung auch störend sein kann. Dennoch kann eine Operationalisierung der einzelnen Symptome auch für die klinische Diagnostik sehr hilfreich sein, weil sie die Beurteilerübereinstimmung verbessert (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017). Da offensichtlich für die ICD-11 keine Forschungskriterien entwickelt werden, wird das Feld der Forschung völlig an das DSM-5 abgegeben, das allerdings auch bislang die Forschungsaktivitäten dominiert hat.

Insgesamt sind die Veränderungen der ADHS-Diagnosekriterien in der ICD-11 und die Anpassung an das DSM-5 zu begrüßen, weil die ICD-11 damit Forschungsentwicklungen und auch die bereits in der klinischen Versorgung übliche Praxis der Binnendifferenzierung von ADHS nachholt. Der Verzicht auf eine exakte Operationalisierung der Kriterien hilft einerseits bei der Einordung von Grenzfällen, macht es aber auch notwendig, für die Klärung der einzelnen Symptome auf das DSM-5 zurückzugreifen.

Literatur

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