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Open AccessOriginalarbeit

Psychische Belastung bei unbegleiteten und begleiteten Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000855

Abstract

Zusammenfassung.Fragestellung: Psychische Belastung und traumatisierende Ereignisse bei in Deutschland lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) im Jugendalter sowie bei begleiteten minderjährigen Flüchtlingen (BMF) im Kindes- und Jugendalter wurden ermittelt. Zusätzlich wurden bei den Jugendlichen Prädiktoren psychischer Belastung analysiert. Methodik: 170 Kinder und Jugendliche (Jugendliche: n = 56 UMF, n = 72 BMF; Kinder: n = 42 BMF) wurden mittels Screeningfragebögen zu emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten sowie zu traumatisierenden Ereignissen untersucht. Zudem wurden von den Jugendlichen Angaben zur Symptomatik der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gemacht (Jugendliche: Selbstbericht; Kinder: Fremdbericht Elternteil). Ergebnisse: 45.8 % UMF (Jugendliche), 42.4 % BMF (Jugendliche) und 56.1 % BMF (Kinder) zeigten klinisch relevante emotionale und Verhaltensprobleme. Internalisierende Symptome wurden häufiger als externalisierende Symptome angegeben. Im Mittel wurden bei UMF (Jugendliche) sieben und bei BMF (Jugendliche und Kinder) vier traumatisierende Ereignisse ermittelt. UMF (Jugendliche) berichteten mehr emotionale Probleme, mehr PTBS-Symptome und mehr traumatisierende Ereignisse als BMF (Jugendliche). 43.8 % UMF (Jugendliche) und 27.9 % BMF (Jugendliche) zeigten klinisch relevante PTBS-Symptome. Der robusteste Prädiktor zur Vorhersage emotionaler und Verhaltensauffälligkeiten sowie der PTBS-Symptomatik bei den Jugendlichen war die Anzahl traumatisierender Ereignisse. Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse belegen den psychologischen Hilfebedarf geflüchteter Kinder und Jugendlicher in Deutschland.

The Mental Health Problems of Unaccompanied and Accompanied Refugees in Childhood and Adolescence in Germany

Abstract. Abstracts: Objective: This articles investigates the psychological distress and stressful life events in unaccompanied minor refugees (UMR) in adolescence and accompanied minor refugees (AMR) in childhood and adolescence living in Germany. Additionally, it analyzes the predictors of psychological distress in the adolescents. Method: We assessed 170 children and adolescents (adolescents: n = 56 UMR, n = 72 AMR; children: n = 42 AMR) using questionnaires on emotional and behavioral problems and stressful life events. In addition, we questioned the adolescents on PTSS (adolescents: self-report; children: caregiver report). Results: 45.8 % UMR (adolescents), 42.4 % AMR (adolescents), and 56.1 % AMR (children) showed emotional and behavioral problems. On average, we identified 7 stressful life events in UMR (adolescents) and 4 in AMR (adolescents, children). UMR (adolescents) reported more emotional problems, more PTSS, and more stressful life events than did AMR (adolescents). 43.8 % UMR (adolescents) and 27.9 % AMR (adolescents) reported PTSS. The number of stressful life events was found to be the most robust predictor for emotional and behavioral problems as well as PTSS in adolescents. Conclusions: The results indicate the need for psychological interventions of refugee minors in Germany.

Einleitung

Weltweit wurde die Zahl von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen Ende 2020 auf 82.4 Millionen geschätzt. Etwa 35 Millionen waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (United Nations High Commissioner for Refugees, 2021). 2020 wurden 2232 der in Deutschland gestellten Asylerstanträge von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) eingereicht, die ohne Begleitung von Familienangehörigen nach Deutschland eingereist waren. 53 105 der Asylerstanträge wurden von begleiteten minderjährigen Flüchtlingen (BMF) gestellt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2021). UMF werden bis zur Volljährigkeit nach den Regelungen des Kinder- und Jugendhilferechtes (Sozialgesetzbuch [SGB] VIII) betreut und leben überwiegend in Einrichtungen der Jugendhilfe. Die meisten sind männlich und 16 bis 17 Jahre alt (Karpenstein & Klaus, 2019; von Nordheim, Karpenstein & Klaus, 2017). BMF werden nach dem Asylbewerberleistungsgesetz versorgt und wohnen nach Ankunft in Deutschland zunächst in Gemeinschaftsunterkünften (Lewek & Naber, 2017).

Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind vor, während und nach der Flucht sequenziellen Belastungsfaktoren ausgesetzt (siehe Keilson, 1979), die meist kumulativ wirken und in komplexer Wechselwirkung mit individuellen, familiären und gesellschaftlichen Faktoren stehen (Bronstein & Montgomery, 2011; Fazel, Reed, Panter-Brick & Stein, 2012; Scharpf, Kaltenbach, Nickerson & Hecker, 2021). Daher ist es naheliegend, dass diese Kinder und Jugendlichen ein erhöhtes Risiko für psychische Belastung aufweisen. Nach einem aktuellen Review liegen die Prävalenzen für die Symptomatik einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei nach Europa geflüchteten Kindern und Jugendlichen bei 19 bis 53 %, für depressive Symptomatik bei 10 bis 33 %, für Angstsymptomatik bei 9 bis 32 % und für emotionale und Verhaltensprobleme bei 20 bei 35 % (Kien et al., 2019). Die hohen Spannweiten sind auf methodologische Limitationen (z. B. unterschiedliche Erhebungsmethoden, Stichprobencharakteristika) zurückzuführen. Studien zu emotionalen und Verhaltensproblemen bei begleiteten und unbegleiteten Flüchtlingen im Jugendalter wiesen vorwiegend internalisierende Symptome nach (Derluyn, Broekaert & Schuyten, 2008; Rau, Ohlert, Ramsthaler, Fegert & Keller, 2019; Reis, Jung & Häßler, 2016; Thommessen, Laghi, Cerrone, Baiocco & Todd, 2013).

Verglichen mit repräsentativen Stichproben deutscher Kinder und Jugendlicher sind die Prävalenzraten geflüchteter Minderjähriger z. T. deutlich erhöht. 1.3 % deutscher Kinder und Jugendlicher erfüllen die Kriterien einer PTBS (Essau, Conradt & Petermann, 1999), 15 % zeigen depressive Symptome (Klasen et al., 2015), 14.4 % erfüllen die Kriterien von Angststörungen (Wittchen, Nelson & Lachner, 1998) und 8.8 % berichteten emotionale und Verhaltensauffälligkeiten (Becker et al., 2018).

Alleine, ohne den Schutz und die Unterstützung naher Angehöriger zu fliehen, stellt einen Risikofaktor für die Häufigkeit und Schwere psychischer Belastung dar (Witt, Rassenhofer, Fegert & Plener, 2015). Studien zeigten, dass jugendliche UMF mehr lebensbedrohliche Ereignisse, höhere Werte der PTBS-Symptomatik und höhere Werte der internalisierenden Symptomatik berichteten als jugendliche BMF. Mit der Anzahl erlebter potenziell traumatisierender Ereignisse nahmen insbesondere die PTBS-Symptomatik sowie die internalisierende Symptomatik zu (Bean, Derluyn, Eurelings-Bontekoe, Broekaert & Spinhoven, 2007; Hodes, Jagdev, Chandra & Cunniff, 2008; Müller, Büter, Rosner & Unterhitzenberger, 2019; Stotz, Elbert, Müller & Schauer, 2015). Bislang wurde psychische Belastung anhand standardisierter Instrumente häufiger bei geflüchteten Jugendlichen als bei geflüchteten Kindern untersucht.

Deutschland ist eines der Hauptaufnahmeländer geflüchteter Minderjähriger innerhalb der europäischen Union (United Nations Children’s Fund, United Nations High Commissioner for Refugees & International Organization for Migration, 2021). In den letzten Jahren wurden einige Untersuchungen, die psychische Belastung bei nach Deutschland geflüchteten Jugendlichen in Wohneinrichtungen oder psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungseinrichtungen erfassten, durchgeführt (Barthel, Ravens-Sieberer, Schulte-Markwort, Klasen & Zindler, 2019; Möhrle, Dölitzsch, Fegert & Keller, 2016; Sierau, Schneider, Nesterko, von Klitzing & Glaesmer, 2019; Sukale et al., 2017; Walg, Fink, Großmeier, Temprano & Hapfelmeier, 2017). In einem geringeren Umfang wurden Jugendliche beider Gruppen (UMF und BMF) untersucht (Müller et al., 2019; Stotz et al., 2015) und die psychische Belastung bei BMF im Kindesalter ermittelt (Buchmüller, Lembcke, Busch, Kumsta & Leyendecker, 2018). Eine Abschätzung der Prävalenz psychischer Belastung bei nach Deutschland geflüchteten Kindern und Jugendlichen zur Abschätzung des Unterstützungsbedarfs sowie zur Entwicklung passender Hilfen und Versorgungsangebote ist daher nur eingeschränkt gegeben.

Zur Schließung dieser Forschungslücke wurde in der vorliegenden Untersuchung psychische Belastung (emotionale und Verhaltensauffälligkeiten, PTBS-Symptomatik) sowie erlebte potenziell traumatisierende Ereignisse bei unbegleiteten und begleiteten Flüchtlingen im Jugendalter untersucht. Zudem wurden Prädiktoren psychischer Belastung bestimmt. Dabei wurde erwartet, dass unbegleitete Flüchtlinge im Jugendalter im Vergleich zu begleiteten Flüchtlingen im Jugendalter eine höhere Anzahl potenziell traumatisierender Erlebnisse, eine höhere internalisierende Symptomatik und eine höhere PTBS-Symptomatik berichten. Weiterhin wurde vermutet, dass die Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse und die Zugehörigkeit zur Gruppe UMF Prädiktoren für psychische Belastung sind. Bei begleiteten Flüchtlingen im Kindesalter (Elternperspektive) wurden deskriptive Angaben zu emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten sowie zu erlebten traumatisierenden Ereignissen ermittelt.

Methode

Studiendesign

Nach Genehmigung durch die Ethikkommission der Ärztekammer Westfalen-Lippe und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster wurden von Juni 2017 bis Juli 2019 geflüchtete Jugendliche (11–20 Jahre) und Eltern geflüchteter Kinder (6–10 Jahre) meist über Behörden und Jugendhilfeträger in Wohneinrichtungen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen rekrutiert (Feldzugang). Auch wurden Jugendliche (11–20 Jahre) und Eltern von Kindern (6–10 Jahre) in der Diagnostikphase in schulpsychologischen Beratungsstellen in Nordrhein-Westfalen sowie in der Ambulanz für Flüchtlingskinder und ihre Familien am Universitätsklinikum Münster (UKM) rekrutiert (klinisch-pädagogischer Zugang). Teilnahmevoraussetzungen waren ausreichende Kenntnisse der Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch, Farsi, Dari oder Kurmandschi. Studieninformationen und Einverständniserklärungen lagen in den genannten Sprachen vor. Vor der Datenerhebung wurde von den Teilnehmenden und ihren Sorgeberechtigten eine informierte Zustimmung eingeholt. Alle Teilnehmenden erhielten eine Aufwandsentschädigung von 10 Euro (Gutschein).

Messinstrumente

Die Fragebögen lagen in Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch, Farsi, Dari oder Kurmandschi vor1. Sie wurden via Tablet und mithilfe von Dolmetscher_innen bzw. bei ausreichenden Deutschkenntnissen mithilfe von Mitarbeiter_innen des UKMs ausgefüllt. Die Jugendlichen füllten die Fragebögen in Selbstberichtsform (Stichproben: UMFJ, BMFJ) aus. Jeweils ein Elternteil der Kinder füllte die Fragebögen für das jeweilige Kind in Fremdberichtsform (Stichprobe: BMFK) aus. Folglich lagen für die Analysen die Daten der Jugendlichen im Selbstbericht und die Daten der Kinder im Fremdbericht eines Elternteils vor.

Erfassung soziodemografischer Daten

Folgende Angaben zur Soziodemografie wurden erhoben: Gruppenzugehörigkeit (UMF versus BMF), Geschlecht, Alter, Nationalität, Aufenthaltsdauer, Stand Asylverfahren, Wohnsituation, Kontakt Herkunftsfamilie, Alter Eltern, Tod Familienmitglied, Familienangehörige in Deutschland, Bildung Kind bzw. Jugendlicher, Bildung Eltern.

Emotionale und Verhaltensauffälligkeiten

Emotionale und Verhaltensauffälligkeiten wurden über den Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ; Goodman, 1997; Goodman, Meltzer & Bailey, 1998) eingeschätzt. Das Screeninginstrument liegt in Selbstberichts- (11–16 Jahre) und Fremdberichtsform (4–16 Jahre) vor. Die Fremdberichtsform wurde für die Stichprobe der BMFK genutzt.

Der Fragebogen besteht aus fünf Skalen (vier Problemskalen, eine Skala Prosoziales Verhalten): Emotionale Probleme, Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen und Prosoziales Verhalten. Jede Skala besteht aus fünf Items, die auf einer dreistufigen Likert-Skala eingeschätzt werden und aus welchen ein Summenscore gebildet werden kann. Höhere Skalenwerte der Problemskalen deuten höhere Ausprägungen der Probleme an, niedrigere Werte der Skala Prosoziales Verhalten weisen auf höhere Ausprägungen der Probleme hin. Aus der Summe der Skalenwerte der Problemskalen kann zudem ein Gesamtproblemwert berechnet werden.

Das Risiko für Auffälligkeiten auf den Subskalen und insgesamt kann anhand von deutschen normativen Stichproben abgeschätzt werden. Als grenzwertig und auffällig (grenzwertiger und hoher Risikobereich) können ungefähr jeweils 15 % der Skalenwerte im Selbstbericht und ungefähr jeweils 20 % der Skalenwerte im Fremdbericht (für Stichprobe BMFK) betrachtet werden (Becker et al., 2018; Woerner et al., 2002). Für Selbstberichts- und Fremdberichtsform (für Stichprobe BMFK) wurde eine zufriedenstellende Reliabilität der Gesamtskalen belegt (Selbstberichtsform: Cronbachs α = 0.82; Goodman, 1997; Fremdberichtsform: Cronbachs α = .76; Smedje, Broman, Hetta & von Knorring, 1999).

Anzahl und Typus potenziell traumatisierender Ereignisse

Anzahl und Typus potenziell traumatisierender Ereignisse wurden mittels des Stressful Life Events Questionnaire (SLE; Bean, Eurelings-Bontekoe, Derluyn & Spinhoven, 2004) erhoben. Damit erfasst der Fragebogen das A-Kriterium einer PTBS nach DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Er liegt im Original nur in Selbstberichtsform (12–18 Jahre) vor.

Der SLE besteht aus 12 Items, die fünf verschiedenen Typen von Ereignissen zugeordnet werden können (Veränderungen in der Familie, Erfahrungen mit Krankheit, Unfällen und Umweltkatastrophen, Krieg, sexuelle und physische Misshandlung und unbestimmte potenziell traumatisierende Ereignisse). Die 12 Items werden mit einem dichotomen Antwortformat eingeschätzt und können zu einem Gesamtwert aufaddiert werden.

Der SLE wurde für die Anwendung bei jugendlichen Flüchtlingen entwickelt und validiert (Bean et al., 2004). Für die Erfassung des Fremdurteils (für Stichprobe BMFK) wurden die Instruktionen und Items des Selbsturteils entsprechend umformuliert.

PTBS-Symptomatik

Die PTBS-Symptomatik (Kriterien B, C, D und E) wurde anhand des UCLA PTSD Reaction Index für DSM-5 (UCLA PTSD-RI-5; Pynoos & Steinberg, 2013) eingeschätzt. Der Fragebogen liegt in Selbstberichts- und Fremdberichtsform (7–18 Jahre) vor. Die Fremdberichtsform wurde für die Stichprobe BMFK genutzt.

Die Kriterien B, C, D und E werden über 27 Items erfasst und bilden jeweils eine Skala: Skala B (Intrusionen), Skala C (Vermeidung), Skala D (Negative Veränderungen von Kognitionen und Emotionen), Skala E (Hyperarousal). Die Items werden über eine vierstufige Likert-Skala eingeschätzt. Im Fremdbericht (für Stichprobe BMFK) gibt es eine zusätzliche Antwortkategorie „weiß nicht“. Die Items der jeweiligen Skala können zu einem Skalenwert aufaddiert werden. Je höher der Skalenwert, desto höher ist die Ausprägung der Symptomatik. Die Summen aller Skalenwerte können zu einem Gesamtwert aufsummiert werden.

Der Gesamtwert der Selbstberichtsform kann anhand von Werten einer US-amerikanischen Normstichprobe als klinisch auffällig eingestuft werden (Cut-off-Wert: 35; Kaplow et al., 2020). Studien, die den Grenzwert bei deutschen Normstichproben untersuchten, liegen nicht vor. Für den Selbstbericht ist eine sehr gute Reliabilität der Gesamtskala belegt (Cronbachs α = 0.94; Kaplow et al., 2020). Für den Fremdbericht (für Stichprobe BMFK) existiert keine entsprechende Studie, sodass auf die gute Reliabilität der Gesamtskala der Vorgängerversion UCLA PTSD-RI-4 zurückzugreifen ist (Cronbachs α = 0.90; Steinberg et al., 2013).

Stichprobe

Insgesamt wurden Daten von 139 Jugendlichen (64 UMFJ, 75 BMFJ) im Selbstbericht und 61 Kindern (BMFK) im Fremdbericht erhoben.

Stichprobe der Flüchtlinge im Jugendalter (UMFJ , BMFJ)

Von den 139 Jugendlichen wurden 11 (8 UMFJ, 3 BMFJ) ausgeschlossen (Gründe: unzureichendes Verständnis der Fragen, hoher Anteil fehlender Werte, Abbruch der Datenerhebung, Alterskriterium unterschritten). Somit ergab sich eine Stichprobe von 128 Jugendlichen (56 UMFJ, 72 BMFJ) im Alter von 11 bis 21 Jahren. Weitere soziodemografische Merkmale der Stichprobe sind in Tabelle 1 sowie im elektronischen Supplement (ESM) 1 dargestellt.

Tabelle 1 Stichprobenbeschreibung der Jugendlichen (UMFJ, BMFJ)

UMFJ waren signifikant älter (t[120.07] = 8.25, p < .001), der Anteil männlicher Jugendlicher war signifikant höher (χ2[1] = 16.29, p < .001) und es waren signifikant mehr UMFJ über den klinisch-pädagogischen Zugang (χ2[1] = 7.76, p = .005) rekrutiert worden.

Stichprobe der Flüchtlinge im Kindesalter (BMFK)

19 von 61 Kindern wurden ausgeschlossen (Gründe: Abbruch der Datenerhebung, Einschätzung von Vater und Mutter, Überschreiten des Alterskriteriums, fehlende soziodemografische Angaben). Eingeschlossen wurden Daten von 42 Kindern im Fremdbericht eines Elternteils (Mütter: n = 24, 57.1 %; Väter: n = 18, 42.9 %). Das durchschnittliche Alter der Eltern lag bei 35 Jahren (SD = 7.37). 38 (90.5 %) Eltern wurden im Feld und 4 (9.5 %) wurden über den klinisch-pädagogischen Zugang rekrutiert.

Die Kinder waren zwischen 5.62 und 10.87 Jahre alt (M = 8.34, SD = 1.49). Sie waren zu gleichen Anteilen (n = 21, 50.0 %) weiblich und männlich. Knapp die Hälfte (n = 18, 42.9 %) lebte ein Jahr oder kürzer, etwas mehr als die Hälfte (n = 24, 57.1 %) lebte länger als ein Jahr in Deutschland. Die Kinder stammten überwiegend aus den Ländern Syrien (n = 15, 35.7 %), Afghanistan (n = 12, 28.6 %) und Irak (n = 6, 14.3 %). Die Fragebögen wurden mehrheitlich in Arabisch (n = 19, 45.2 %) und Dari (n = 11, 26.2 %), zu einem kleinen Teil in Deutsch (n = 8, 19.0 %) und in Englisch (n = 2, 4.8 %) und von jeweils einem Elternteil (2.4 %) in Kurmandschi und Farsi ausgefüllt. Weitere soziodemografische Angaben sind im ESM 2 dargestellt.

Statistische Analysen

Da einige Variablen der Instrumente mehr als 5 % fehlende Werte aufwiesen, wurde eine multiple Imputation auf Ebene der Subskalenwerte (60 Imputationen, CART-Algorithmus) durchgeführt. Als Prädiktoren der fehlenden Werte wurden die Sub- und Gesamtskalenwerte sowie weitere Variablen (Alter, Geschlecht, Gruppenzugehörigkeit, Aufenthaltsdauer und Rekrutierungszugang) verwendet. Für die multiple Imputation und die anschließenden Analysen wurden die R-Pakete mice (van Buuren & Groothuis-Oudshoorn, 2011), miceadds (Robitzsch & Grund, 2021) und MKinfer (Kohl, 2020) genutzt. Gruppenunterschiede (UMFJ, BMFJ) und Geschlechtsunterschiede (BMFJ) wurden mittels t-Tests (Welch’s t-test) bzw. χ2-Tests untersucht. Mittels Varianzanalysen wurde untersucht, ob Unterschiede zwischen den Gruppen (UMFJ, BMFJ) auf unterschiedliche Rekrutierungszugänge zurückgeführt werden können. Mit einer multiplen Regression wurde analysiert, inwiefern Alter, Geschlecht, Gruppe, Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse und Aufenthaltsdauer Prädiktoren für das Ausmaß der emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten sowie der PTBS-Symptomatik sind. Dabei wurde im ersten Schritt Gruppe (UMFJ = 0, BMFJ = 1), im zweiten Alter, Geschlecht (männlich = 0, weiblich = 1) und Aufenthaltsdauer (≤ 1 Jahr = 0, > 1 Jahr = 1) und im dritten Schritt die Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse eingefügt. Für alle Signifikanztests wurde das Signifikanzniveau von p < .05 festgelegt. Die Kinderdaten wurden aufgrund des geringen Stichprobenumfangs nur deskriptiv (SDQ, SLE) ausgewertet (Schönbrodt & Perugini, 2013). Von einem Vergleich der begleiteten Kinder mit den begleiteten Jugendlichen wurde aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven (Fremdbericht versus Selbstbericht) abgesehen.

Ergebnisse

Vergleich der psychischen Belastung und erlebten potenziell traumatisierenden Ereignissen bei Flüchtlingen im Jugendalter (UMFJ, BMFJ) und Einflüsse von Geschlecht und Rekrutierungszugang

Das Ergebnis des Gruppenvergleichs hinsichtlich der Skalenmittelwerte ist in Abbildung 1 dargestellt. UMFJ berichteten im Vergleich zu BMFJ auf folgenden Skalen signifikant höhere Mittelwerte: SDQ Emotionale Probleme (t[123.52] = 2.94, p = .020, d = 0.52), SLE-Gesamtskala (t[117.28] = 5.67, p < .001, d = 1.00), UCLA PTSD-RI-5 Skala B (Intrusionen: t[110.10] = 3.35, p = .004, d = 0.60), UCLA PTSD-RI-5 Skala D (Negative Veränderungen von Kognitionen und Emotionen: t[113.76] = 3.05, p = .011, d = 0.54), UCLA PTSD-RI-5 Gesamtskala (t[116.24] = 3.17; p = .002, d = 0.56).

Abbildung 1 Vergleich der Skalenmittelwerte der Gruppen UMFJ und BMFJ.

Geschlechtsunterschiede wurden aufgrund des geringen Anteils weiblicher UMFJ (n = 7, 12.5 %) nur innerhalb der Gruppe BMFJ analysiert. Auf zwei Skalen des UCLA PTSD-RI-5 unterschieden sich männliche und weibliche BMFJ signifikant in ihren Mittelwerten: Skala D (Negative Veränderungen von Kognitionen und Emotionen: t[66.67] = -2.90, p = .020, d = -0.68), Gesamtskala (t[66.49] = -2.41, p = .018, d = -0.57). Weibliche BMFJ berichteten höhere Werte als männliche BMFJ.

Da UMFJ signifikant häufiger über den klinisch-pädagogischen Zugang rekrutiert worden waren als BMFJ, wurden zur Kontrolle dieses Einflussfaktors auf die Ergebnisse des Gruppenvergleichs Varianzanalysen mit den Faktoren Gruppenzugehörigkeit und Rekrutierungszugang gerechnet. Die Mittelwerte der Varianzanalysen sind im ESM 3 dargestellt. In allen Analysen ergab sich ein signifikanter Haupteffekt für die Gruppenzugehörigkeit: UCLA PTSD-RI-5 Skala B (Intrusionen: F[1, 115273.62]= 12.61, p = .015, ηp2 = 0.09), Skala D (Negative Veränderungen von Kognitionen und Emotionen: F[1, 90176.96] = 9.82, p = .007, ηp2 = 0.08), Gesamtskala (F[1, 159642.33] = 10.53, p = .001, ηp2 = 0.08), SDQ Emotionale Probleme (F[1, 2423313.41] = 8.15, p = .022, ηp2 = 0.06), SLE Gesamtskala (F[1, 13866.53] = 30.51, p < .001, ηp2 = 0.21). In folgenden Analysen ergab sich zusätzlich ein signifikanter Haupteffekt für den Rekrutierungszugang: UCLA PTSD-RI-5 Skala B (Intrusionen: F[1, 4746.83] = 13.32, p = .001, ηp2 = 0.11), Skala D (Negative Veränderungen von Kognitionen und Emotionen: F[1, 4412.61] = 8.01, p = .019, ηp2 = 0.07), Gesamtskala (F[1, 6859.90] = 8.60, p = .003, ηp2 = 0.07). Interaktionseffekte ergaben sich keine. UMFJ wiesen auf den genannten Skalen signifikant höhere Werte als BMFJ auf. Die Proband_innen des klinisch-pädagogischen Zugangs berichteten auf den genannten Skalen signifikant höhere Werte als die Proband_innen des Feldzugangs. Folglich blieben die ermittelten Ergebnisse des Gruppenvergleichs bei der Kontrolle bestehen. Die Korrelationen zwischen allen erhobenen Facetten psychischer Belastung sind im ESM 4 dargestellt.

Symptombelastung bei Flüchtlingen im Jugendalter (UMFJ, BMFJ)

Emotionale und Verhaltensauffälligkeiten

UMFJ und BMFJ gaben besonders in den Verhaltensbereichen emotionale Probleme (UMFJ: 64.3 %; BMFJ: 47.2 %) und Probleme mit Gleichaltrigen (UMFJ: 49.0 %; BMFJ: 30.4 %) Werte im grenzwertigen und hohen Risikobereich an (deutsche normative Stichprobe: auf allen SDQ-Skalen ungefähr jeweils 15 % der Werte im erhöhten Risikobereich). Zu einem geringeren Anteil nannten die Jugendlichen in den Bereichen Hyperaktivität (UMFJ: 17.9 %; BMFJ: 25.7 %), Verhaltensauffälligkeiten (UMFJ: 17.3 %; BMFJ: 24.0 %) und prosoziales Verhalten (UMFJ: 7.1 %; BMFJ: 11.1 %) Werte im erhöhten Risikobereich. Im Gesamtproblemwert lag fast die Hälfte der Werte beider Untersuchungsgruppen (UMFJ: 45.8 %; BMFJ: 42.4 %) im erhöhten Risikobereich.

Potenziell traumatisierende Ereignisse

UMFJ berichteten durchschnittlich sieben potenziell traumatisierende Ereignisse (M = 6.92, SD = 2.28; Min = 0, Max = 11). Die häufigsten Nennungen der einzelnen Ereignisse waren Zeugenschaft körperlicher Misshandlungen (83.9 %), weitere nicht benannte gefährliche Ereignisse für die eigene (78.6 %) oder für andere Personen (78.6 %) und selbst erlebte körperliche Misshandlungen (74.5 %). BMFJ nannten durchschnittlich vier potenziell traumatisierende Ereignisse (M = 4.46, SD = 2.62; Min = 0, Max = 11). Die häufigsten Nennungen waren Verlust einer geliebten Person (69.0 %), Erleben kriegerischer Auseinandersetzungen (66.7 %), Zeugenschaft körperlicher Misshandlungen (54.9 %) und weitere nicht benannte gefährliche Ereignisse für die eigene Person (51.4 %). Beim Vergleich der Häufigkeiten der Ereignistypen nannten UMFJ signifikant häufiger folgende Ereignistypen: Erfahrungen mit Krankheit, Unfällen und Naturkatastrophen (χ2[1] = 17.01, p < .001, Cramers V = .37), körperliche und sexuelle Misshandlungen (χ2[1] = 16.93, p < .001, Cramers V = .36), sonstige Erlebnisse verbunden mit großer Gefahr für die eigene Person oder andere Personen (χ2[1] = 16.99, p < .001, Cramers V = .36).

PTBS-Symptomatik

43.8 % UMFJ und 27.9 % BMFJ wiesen im UCLA PTSD-RI-5 einen Gesamtwert auf, der höher oder gleich dem klinischen Cut-off-Wert war.

Symptombelastung bei Flüchtlingen im Kindesalter (BMFK)

Emotionale und Verhaltensauffälligkeiten

Den Kindern (56.1 %) wurden besonders im Bereich der emotionalen Probleme Werte im erhöhten Risikobereich von den Eltern zugeschrieben (deutsche normative Stichprobe: auf allen SDQ-Skalen ungefähr jeweils 20 % der Werte im erhöhten Risikobereich). In den übrigen Verhaltensbereichen wurden geringere Anteile auffälliger und grenzwertiger Werte angegeben (Verhaltensauffälligkeiten: 28.6 %; Probleme mit Gleichaltrigen: 28.6 %; Hyperaktivität: 21.4 %; prosoziales Verhalten: 7.1 %). Bezüglich des Gesamtwerts zeigten 56.1 % Werte im erhöhten Risikobereich.

Potenziell traumatisierende Ereignisse

Für die Kinder wurden durchschnittlich vier (M = 3.76, SD = 2.28; Min = 0, Max = 8) potenziell traumatisierende Ereignisse berichtet. Am häufigsten nannten die Eltern die Ereignisse Erleben kriegerischer Auseinandersetzungen (66.7 %), Veränderungen in der Familie (59.5 %), Zeugenschaft körperlicher Misshandlungen (42.9 %) und Verlust einer geliebten Person (35.7 %).

Prädiktoren psychischer Belastung bei Flüchtlingen im Jugendalter (UMFJ, BMFJ)

Das Ergebnis der Regressionsrechnung mit dem Gesamtwert des UCLA PTSD-RI-5 als abhängige Variable und den schrittweise hinzugefügten Prädiktoren Gruppe, Geschlecht, Alter, Aufenthaltsdauer in Deutschland und Anzahl traumatisierender Ereignisse ist in Tabelle 2 dargestellt. Insgesamt erklärten die Prädiktoren einen hohen Anteil der Varianz des Gesamtwerts des UCLA PTSD-RI-5 (siehe Funder & Ozer, 2019). Der vorhergesagte Gesamtwert erhöhte sich mit der Anzahl traumatisierender Ereignisse und mit weiblichem Geschlecht. Die Gruppe UMF und ein höheres Alter sagten einen höheren Gesamtwert vorher. Allerdings fanden sich bei der Kontrolle für den SLE-Gesamtwert keine signifikanten Effekte mehr von Alter und Gruppe auf die PTBS-Symptomatik. Auch für die Aufenthaltsdauer wurde kein signifikanter Einfluss gefunden. Da sich die Varianzaufklärung durch Hinzunahme der Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse um 18 % erhöhte, schien dieser Prädiktor der wichtigste zu sein.

Tabelle 2 Multiple Regressionsanalyse (schrittweise) zur Vorhersage des Gesamtwerts des UCLA PTSD-RI-5

Das Ergebnis der Regressionsrechnung mit dem SDQ-Gesamtproblemwert als abhängige Variable und den schrittweise hinzugefügten Prädiktoren Gruppe, Geschlecht, Alter, Aufenthaltsdauer in Deutschland und Anzahl traumatisierender Ereignisse ist in Tabelle 3 dargestellt. Die aufgeklärte Varianz war in diesem Modell insgesamt geringer. Die Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse war der einzige Prädiktor, wobei sich mit der Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse der vorhergesagte SDQ-Gesamtproblemwert erhöhte. Mit einer Erhöhung der Varianzaufklärung um 16 % gegenüber dem Modell in Schritt 2 zeigte sich eine ähnliche Effektstärke wie beim UCLA PTSD-RI-5-Modell und auch hier schien die Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse der wichtigste Prädiktor zu sein.

Tabelle 3 Multiple Regressionsanalyse (schrittweise) zur Vorhersage des Gesamtproblemwerts des SDQ

Diskussion

Die vorliegende Studie schätzt die Prävalenz psychischer Belastung bei in Deutschland lebenden UMF und BMF im Jugendalter (11-21 Jahre) sowie bei BMF im Kindesalter (6–10 Jahre).

Vergleich von psychischer Belastung und erlebten potenziell traumatisierenden Ereignissen bei Flüchtlingen im Jugendalter (UMFJ vs. BMFJ)

Die Ergebnisse bestätigen bisherige Befunde, dass UMFJ im Vergleich zu BMFJ eine höhere Anzahl potenziell traumatisierender Erlebnisse, eine höhere internalisierende Symptomatik und eine höhere PTBS-Symptomatik berichten (Bean et al., 2007; Hodes et al., 2008; Müller et al., 2019; Stotz et al., 2015).

Diese Gruppenunterschiede blieben auch bei Kontrolle für potenzielle Störgrößen wie Alter und Rekrutierungszugang bestehen und sind vermutlich nicht durch den Einfluss des Geschlechts verzerrt. Innerhalb der Gruppe BMFJ wurde für weibliche BMFJ im Vergleich zu männlichen BMFJ eine signifikant höhere PTBS-Symptomatik nachgewiesen. Dieser Geschlechtseffekt wurde in mehreren Studien für UMF und BMF berichtet (Derluyn, Mels & Broekaert, 2009; Hodes et al., 2008). Eine andere Studie wies ihn nur für die Gruppe BMF nach (Bean et al., 2007).

Symptombelastung bei Flüchtlingen im Jugendalter (UMFJ, BMFJ) und bei Flüchtlingen im Kindesalter (BMFK)

Besonders die Ergebnisse der kategorialen Auswertung der SDQ-Skalenwerte zeigen bei Jugendlichen und Kindern erhöhte Prävalenzraten emotionaler und Verhaltensprobleme insgesamt (UMFJ: 46 %; BMFJ: 42 %; BMFK: 56 %) und internalisierender Verhaltensbereiche (Emotionale Probleme: UMFJ: 64 %; BMFJ: 47 %; BMFK: 56 %; Probleme mit Gleichaltrigen: UMFJ: 49 %; BMFJ: 30 %). Als Verhaltensstärke wurde in allen Gruppen eine hohe Rate prosozialen Verhaltens identifiziert (UMFJ: 92,9 %; BMFJ: 89.9 %; BMFK: 92.9 %). Damit wurde auch für geflüchtete Kinder (6–10 Jahre) in Deutschland das bisher nur für jüngere geflüchtete Kinder in Deutschland aus Elternsicht beschriebene Symptommuster erhöhter internalisierender Probleme nachgewiesen (Buchmüller et al., 2018).

Die hier bei UMFJ und BMFJ gefundenen Prävalenzen klinisch relevanter emotionaler und Verhaltensprobleme insgesamt und die Prävalenzen klinisch relevanter internalisierender Verhaltensbereiche liegen über den Häufigkeiten klinisch relevanter emotionaler und Verhaltensprobleme insgesamt und den Häufigkeiten klinisch relevanter internalisierender Verhaltensbereiche (SDQ-Selbstbericht) von jugendlichen UMF und BMF in Deutschland und Dänemark (Möhrle, et al., 2016; Nielsen et al., 2008; Sierau, et al., 2019). Die hier bei BMFK gefundene Prävalenz emotionaler und Verhaltensauffälligkeiten insgesamt ist ähnlich der Prävalenz emotionaler und Verhaltensauffälligkeiten insgesamt (SDQ-Fremdbericht Eltern) von BMF ähnlichen Alters in den Niederlanden (Wiegersma, Stellinga-Boelen & Reijneveld, 2011).

Die hier ermittelte klinisch relevante PTBS-Symptomatik bei UMFJ (44 %) liegt im mittleren Bereich der Prävalenzangaben eines Reviews (Screeninginstrumente im Selbstbericht) bei UMF (Witt et al., 2015). Die hier berechnete klinisch relevante PTBS-Symptomatik bei BMFJ (28 %) ist niedriger als die Prävalenzrate klinisch relevanter PTBS-Symptomatik (Screeninginstrument im Selbstbericht) bei BMF in Deutschland (Müller et al., 2019). Die durchschnittlich berichteten potenziell traumatisierenden Ereignisse der Jugendlichen (UMFJ: 7; BMFJ: 4) liegen im oberen Bereich der Häufigkeiten von im Selbstbericht berichteten potenziell traumatisierenden Ereignissen von UMF und BMF (Bean et al., 2004, 2007). Bezüglich der Kinder ist festzuhalten, dass die Angabe von durchschnittlich vier potenziell traumatisierenden Ereignissen auf ein Erleben mehrerer potenziell traumatisierender Ereignisse in einem frühen Lebensalter hinweist. Die Unterschiede zwischen den zitierten Befunden und den Ergebnissen der vorliegenden Studie sind auf die Heterogenität der Untersuchungen (z. B. Instrumente, Stichprobenzusammensetzung) zurückzuführen.

Letztendlich ist bei der Interpretation der Prävalenzen aus Elternsicht zu beachten, dass einige der hier befragten Eltern vermutlich psychische Belastungen aufwiesen. Psychisch belastete Eltern tendieren dazu, die psychische Belastungen ihrer Kinder zu überschätzen (Müller, Achtergarde & Furniss, 2011). Dieser Einfluss könnte in der vorliegenden sowie auch in den zitierten Studien wirksam gewesen sein und die tatsächlichen Prävalenzen könnten geringer ausgeprägt sein.

Prädiktoren psychischer Belastungen bei Flüchtlingen im Jugendalter (UMFJ, BMFJ)

Bei den Jugendlichen wurde, wie angenommen und in der Literatur belegt, die Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse für die emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten sowie für die PTBS-Symptomatik als bedeutsamster Risikofaktor ermittelt (Bean et al., 2007; Derluyn et al., 2009; Müller et al., 2019; Stotz et al., 2015). Die Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse klärte bei der PTBS-Symptomatik und den emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten ähnlich viel Varianz auf. Das legt die Vermutung nahe, dass hauptsächlich das Erleben traumatisierender Ereignisse zur Entwicklung von PTBS-Symptomen und zur Entwicklung anderer Symptome führt. Eine hohe Komorbidität der PTBS ist sowohl bei Jugendlichen ohne Fluchthintergrund (Steil & Rosner, 2008) als auch bei Jugendlichen mit Fluchthintergrund belegt (Barthel et al., 2019; Sierau et al., 2019). Weiterhin wurden für die PTBS-Symptomatik die Einflussfaktoren Gruppe und Geschlecht ermittelt. Da der Einfluss des Geschlechts aufgrund der Stichprobenzusammensetzung auf die weiblichen BMFJ zurückzuführen ist, kann weibliches Geschlecht bei BMF als weiterer Risikofaktor der PTBS-Symptomatik betrachtet werden. Wie bereits beschrieben, deckt sich dieser Befund mit anderen Studienergebnissen. Obwohl im Gruppenvergleich Unterschiede im Gesamtwert des UCLA PTSD-RI-5 gefunden worden waren, war der Einfluss der Gruppe im Regressionsmodell nach Kontrolle für die Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse nicht mehr signifikant. Es kann daher vermutet werden, dass die höhere PTBS-Symptomatik der UMFJ hauptsächlich auf Unterschiede in der Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse zurückzuführen ist. Andere Studien belegten eine Zugehörigkeit zur Gruppe UMF als Risikofaktor für die psychische Belastung (Bean et al., 2007; Derluyn et al., 2009). Doch klärt die Gruppe auch in diesen Studien nur einen sehr geringen Varianzanteil eigenständig auf (z. B. Bean et al., 2007). Die in den hier berichteten Modellen geschätzte Varianzaufklärung durch die Gruppe fiel in eine ähnliche Größenordnung. Vermutlich ließ sich dieser kleine Effekt aufgrund des erheblich geringeren Stichprobenumfangs der vorliegenden Studie nicht finden. Insgesamt stehen die Befunde damit in gutem Einklang mit vorigen Studien. Die Aufenthaltsdauer hatte nahezu keinen Einfluss auf die PTBS-Symptomatik und die emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten, was die Stabilität und das hohe Chronifizierungsrisiko der psychischen Belastung im Einklang mit vorigen Befunden untermauert (Bean et al., 2007; Derluyn et al., 2008, 2009).

Limitationen

Die Stichprobe könnte aus mehreren Gründen nicht repräsentativ sein. Aufgrund von Barrieren (z. B. Sprache) erfolgte die Ansprache der Flüchtlinge durch überwiegend an den Erhebungsorten – meist als Sozialarbeiter_innen – arbeitende Personen. Die Teilnahme war möglicherweise vom Vertrauen der Flüchtlinge zu diesen Personen abhängig. Auch ist denkbar, dass eher Personen mit geringer Belastung und einem guten Kontakt zu den Sozialarbeiter_innen teilnahmen. Eine Responserate zur Abschätzung dieses Einflusses wurde nicht erhoben. Weiterhin sind Antwortverzerrungen trotz mündlicher und schriftlicher Erklärungen über Ziel und Zweck der Studie denkbar. Die Belastungen könnten aufgrund befürchteter negativer Konsequenzen (z. B. Ablehnung von Asyl) oder aufgrund erhoffter Konsequenzen (z. B. Erhalten von Asyl) systematisch verzerrt beschrieben worden sein. Eine Überprüfung der möglichen Auswirkungen ist aufgrund fehlender Angaben zum Asylverfahren nicht möglich. Durch den geringen Stichprobenumfang muss die Sensitivität der Studie insbesondere in Bezug auf schwächere, aber relevante Prädiktorvariablen als begrenzt betrachtet werden. Zuletzt ist die Validität und Messinvarianz der Instrumente potenziell kritisch zu betrachten. Die Instrumente basieren auf westlichem Krankheitsverständnis und wurden hier an Personen nichtwestlicher Kulturen angewandt (Nesterko, Kaiser & Glaesmer, 2017).

Offen bleibt, wie andere Prädiktoren die psychische Belastung beeinflussen. Weitere im Rahmen der Studie erhobene Variablen (z. B. Asylverfahren, Bildung), die ebenso mit psychischer Belastung assoziiert sind (Björkenstam et al., 2020; Derluyn et al., 2009; Laban, Gernaat, Komproe, Schreuders & De Jong, 2004), blieben aufgrund ihrer geringen Aussagekraft (z. B. Missinganzahl) unberücksichtigt. Ebenso offen bleibt, ob sich das Muster der hohen Prävalenzaufklärung durch die Anzahl potenziell traumatisierender Ereignisse am SDQ-Gesamtwert sowie am UCLAPTSD-RI-5-Gesamtwert nicht nur bei jugendlichen Flüchtlingen, die aufgrund ihrer Fluchterfahrungen mit einem bestimmten Cluster und meist einer hohen Anzahl an potenziell traumatisierenden Ereignissen konfrontiert sind, sondern auch bei Jugendlichen ohne Fluchterfahrungen nachweisen lässt. Studien, die neben in Deutschland lebenden UMF und BMF auch in Deutschland lebende Jugendliche ohne Fluchterfahrungen einschließen, könnten diese Frage klären.

Schlussfolgerungen

Für die Sicherung der Teilhabe psychisch belasteter, geflüchteter Kinder und Jugendlicher an der deutschen Gesellschaft sind Versorgungsangebote passgenauer auf die Bedarfe dieser Gruppe auszurichten. Zum einen könnten bestehende Angebote generell nahe Bezugspersonen der Minderjährigen in die Arbeit miteinbeziehen (Berg, de Montgomery, Brendler-Lindquist, Mittendorfer-Rutz & Hjern, 2021) sowie dolmetschergestützt und kultursensitiv arbeiten. Über Schulungsmaßnahmen von Mitarbeiter_innen verschiedener Systeme (Bildung, Erziehung, Unterbringung) könnte die Weiterleitung belasteter Kinder und Jugendlicher zu Hilfsangeboten verbessert werden. Daneben sind niederschwellige Versorgungsangebote, die direkt in den oben genannten Systemen angeboten werden, auszubauen (Neurohr & Willner, 2019).

Literatur

1 Für folgende Instrumente wurden Vor- und Rückübersetzungen durch ein professionelles Übersetzungsbüro durchgeführt: UCLA PTSD-RI-5 Fremd- und Selbstbericht (alle Sprachen außer Englisch), SLE Selbstbericht (Kurmandschi), SLE Fremdbericht (alle Sprachen), SDQ Fremd- und Selbstbericht (Kurmandschi). Die anderen Fragebögen lagen online in frei verfügbaren Übersetzungen vor.