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Open AccessOriginalarbeit

Metakognitionen und interozeptive Sensibilität bei der Wahrnehmung des Vorgefühls bei Tic-Störungen über die Lebensspanne

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000910

Abstract

Zusammenfassung.Fragestellung: Menschen mit Tic-Störungen (TS) berichten im Kindesalter selten, im Erwachsenenalter mehrheitlich von Vorgefühlen vor Ausführen eines Tics. Die Vorgefühle sind situationsabhängig und variieren sowohl intra- als auch interindividuell. Bei Jugendlichen wurden Zusammenhänge des Vorgefühls mit metakognitiven Überzeugungen gefunden, bei altersgemischten Stichproben Auffälligkeiten in interozeptiver Sensibilität. Wir untersuchten unter Berücksichtigung des Tic-Schweregrads den Zusammenhang von Vorgefühlen, Metakognitionen und interozeptiver Sensibilität über die Lebensspanne hinweg. Methodik: 59 TS-Betroffene nahmen an einer Online-Fragebogenstudie teil. Vorgefühle wurden über die Premonitory Urge for Tics Scale (PUTS) erfasst, der Tic-Schweregrad über den Selbstbeurteilungsbogen TIC (DISYPS-III: SBB-TIC), die interozeptive Bewusstheit über eine Kurzform der Bewusstheitsskala des Body Perception Questionnaire (BPQ-A) und metakognitive Überzeugungen in Bezug auf Tics über die Belief About Tics Scale (BATS). Ergebnisse: Erwachsene berichten höhere PUTS-Werte. Bei Kindern steigt die interozeptive Sensibilität mit zunehmendem Alter. Interozeptive Sensibilität korreliert mit der PUTS. BATS und BPQ sagen PUTS vorher, auch wenn für Tics und Alter kontrolliert wird. Schlussfolgerungen: Es ist davon auszugehen, dass die gefundenen altersabhängigen Entwicklungen des Vorgefühls im Jugendalter auf hirnphysiologische Reifungsprozesse zurückzuführen sind. Negative Metakognitionen und Interozeptionsfähigkeit sind jedoch ebenfalls von Bedeutung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Vorgefühlen und könnten therapeutisch genutzt werden.

Metacognitions and interoceptive sensibility in the perception of premonitory urges in tic disorders across the lifespan

Abstract.Objective: Depending on contextual factors, the prevalence of premonitory urges (PU) in patients with tic disorders (TD) increases with age and varies both intra- and interindividually. In youth, PUs correlate with metacognitions. In both youth and adults, interoceptive sensibility is altered compared to healthy controls. We examined the relationship between PUs, tics, metacognitions, and interoceptive sensibility across the lifespan regarding tic severity. Method: In an online survey, 53 participants reported their PUs on the Premonitory Urge for Tics Scale (PUTS) and tic severity on the Symptom Checklist for Tic Disorders (SBB-TIC). We assessed interoceptive sensibility via the Body Perception Questionnaire (BPQ-A) and metacognitions regarding tics with the Belief About Tics Scale (BATS). Results: Adults scored higher on the PUTS than youth. In youth, interoceptive sensibility increased with age; interoceptive sensibility correlated with PUTS. Metacognitions and interoceptive sensibility explained a significant amount of variance in premonitory urges, even after controlling for tic severity and age. Conclusions: The presumed cause of age-dependent development of PUs in youth lies in their neurophysiological maturing processes. However, negative metacognitions and interoceptive abilities also play an important role in the development and maintenance of PU and might be of therapeutic use in the treatment of TD.

Einleitung

Tic-Impulse oder die Wahrnehmung von Vorgefühlen sind phänomenologisch komplex und treten bei verschiedenen Betroffenen unterschiedlich intensiv und häufig auf. Dabei kann ein Tic mit einem ihm eigenen Impuls assoziiert sein, z. B. einem unspezifischen Bewegungsdrang oder Kribbeln bis hin zu einem spezifischen Drang nach sozial unangemessenen Vokalisationen (Cavanna, Ali, Leckman & Robertson, 2010; Kurlan et al., 1996; Kwak, Dat Vuong & Jankovic, 2003; Woods, Piacentini, Himle & Chang, 2005). Meistens werden Vorgefühle über die Premonitory Urge for Tics Skala (PUTS) erfasst (Woods et al., 2005). Die Skala unterscheidet allerdings nicht zwischen verschiedenen Vorgefühlen in verschiedenen Körperregionen. Die Körperregionen, in denen am häufigsten Vorgefühle empfunden werden, sind Kopf und Gesicht (Kwak et al., 2003; Leckman, Walker & Cohen, 1993). Zudem geht nicht allen Tics immer ein Vorgefühl voraus (Bohlhalter et al., 2006; Reese et al., 2014; Woods et al., 2005).

Die Häufigkeit von Tic-Impulsen oder Vorgefühlen steigt mit dem Alter an. Auch berichten TS-Betroffene die Wahrnehmung von Vorgefühlen erst ca. 3 Jahre nach Beginn der ersten Tics (Leckman et al., 1993). Aufgeschlüsselt in Altersabschnitte berichten 24 % der Kinder im Alter von 8 bis 10 Jahren, 34 % im Alter von 11 bis 14 Jahren und 57 % im Alter von 15 bis 19 Jahren Vorgefühle (Banaschewski, Woerner & Rothenberger, 2003). Interessanterweise waren in weiteren Studien nur das tatsächliche Alter, aber nicht die Dauer der Erkrankung mit der Wahrnehmung von Vorgefühlen korreliert. TS-Betroffene berichten also mit steigendem Alter mehr Vorgefühle (Banaschewski et al., 2003; McGuire et al., 2016; Steinberg et al., 2013) und entsprechend berichten Erwachsene mehr Vorgefühle als Kinder (Sutherland Owens, Miguel & Swerdlow, 2011). Innerhalb ausschließlich jugendlicher (Draper, Jackson, Morgan & Jackson, 2016; Steinberg et al., 2013) und erwachsener (Crossley & Cavanna, 2013; Crossley, Seri, Stern, Robertson & Cavanna, 2014) Stichproben finden sich jedoch keine signifikanten Zusammenhänge zwischen Vorgefühl und Alter. Die gefundenen altersabhängigen Entwicklungen des Vorgefühls im Jugendalter sind also wahrscheinlich auf frühe hirnphysiologische Reifungsprozesse zurückzuführen (z. B. Cavanna, Black, Hallett & Voon, 2017). Im Verlauf des Kindes- und Jugendalters nimmt die kortikale Dicke der Insel, die mit interozeptiven Prozessen assoziiert ist, ab. Die Dicke des präfrontalen Cortex dagegen, der mit Metakognitionen und Handlungskontrolle assoziiert ist, nimmt zu (Fandakova et al., 2017). Interessanterweise werden Vorgefühle tatsächlich mit einer geringeren kortikalen Dicke der Insel in Verbindung gebracht (Draper et al., 2016).

Weil Vorgefühle jedoch auch durch verschiedene psychosoziale Kontexte beeinflusst werden (Ganos et al., 2015; Nissen et al., 2019; Pile, Lau, Topor, Hedderly & Robinson, 2018; Steinberg et al., 2013), scheint es notwendig, auch solche Prozesse (z. B. auf Tics bezogene Metakognitionen oder Interozeption) über die Altersspanne hinweg zu betrachten.

In seinem psychophysiologischen kognitiv-behavioralen Modell der Tic-Störungen konzipierte O’Connor (2002) Vorgefühle explizit als ätiologischen Faktor. Demnach sollen psychophysiologische Veränderungen vor einem Tic mit negativen emotionalen Valenzen assoziiert werden wie möglichen negativen Reaktionen des Umfelds auf einen Tic (z. B. Feindseligkeiten) oder einem von der betroffenen Person erlebten Kontrollverlust durch ihre Tic-Ausführung „gegen ihren Willen“. Damit würde negative Verstärkung die Tic-Symptomatik aufrechterhalten, i. d. S., dass unangenehme Vorgefühle durch die Ausführung eines Tics reduziert werden (O’Connor, 2002). Tatsächlich berichten Tic-Betroffene auch häufiger Vorgefühle vor störenden Tics als vor weniger störenden Tics (McGuire et al., 2016). Die Tic-Häufigkeit steigt zudem z. B. unter Stress – insbesondere bei einem direkten Bezug zur Tic-Symptomatik – an, z. B., wenn Tics in der Situation sozial unangemessen erscheinen (Cavanna et al., 2010; Kurlan et al., 1996). Werden nach einem Tic sozial unangenehme Konsequenzen befürchtet, entsteht neben Stress auch ein allgemein ängstlicher emotionaler Erregungszustand. Stress, Angst und negative (metakognitive) Bewertungen, wie ein starker Wunsch nach Tic-Unterdrückung bei vermuteter mangelnder Fähigkeit oder der Befürchtung mangelnder Konsequenzen, führen zu einem erhöhten Aufmerksamkeitsfokus auf den eigenen Körper und die eigenen Tics. Dadurch kann sich die Wahrnehmung von Vorgefühlen weiter verstärken (Ainley et al., 2013; Paulus & Stein, 2010).

Tatsächlich gehen negative metakognitive Bewertungen (wie z. B.: „Wenn ich nicht ticke, werde ich verrückt“) bei Kindern und Jugendlichen mit einem intensiveren Vorgefühl einher (Nissen et al., 2019; Steinberg et al., 2013).

Interozeption umfasst sehr unterschiedliche Aspekte (vgl. Pohl et al., 2021). In der vorliegenden Studie fokussieren wir auf die interozeptive Sensibilität. Darunter versteht man die Tendenz, sich interozeptiver Wahrnehmungen bewusst gewahr zu sein (Garfinkel, Seth, Barrett, Suzuki & Critchley, 2015). Die interozeptive Sensibilität ist bei TS-Betroffenen nachweisbar erhöht: Im Vergleich zu Kontrollproband_innen berichten sie eine stärkere Wahrnehmung interozeptiver Reize (Belluscio, Jin, Watters, Lee & Hallett, 2011; Eddy, Rickards & Cavanna, 2014; Rae, Larsson, Garfinkel & Critchley, 2019). Diese interozeptive Sensibilität erwachsener TS-Betroffener geht zudem mit einem stärkeren Vorgefühl einher (Eddy et al., 2014; Rae et al., 2019).

Die vorliegende Studie basiert auf der Überlegung, dass die oben postulierten, auf Reifungsprozessen basierenden Veränderungen neuronaler Strukturen und Funktionen auch mit einer Veränderung der Interozeptionsprozesse einhergehen sollten. Diese sollten in Interaktion mit den Bewertungen von Tics (metakognitive Ebene) die Phänomenologie von Vorgefühlen relevant beeinflussen (Conelea & Woods, 2008). Vor diesem Hintergrund untersuchen wir hier die Zusammenhänge zwischen Vorgefühl und interozeptiver Sensibilität sowie die auf Tics bezogenen metakognitiven Überzeugungen unter Berücksichtigung des Tic-Schweregrads. Um die entwicklungspathologische Perspektive zu berücksichtigen, erstreckt sich das Alter der rekrutierten Stichprobe von Kindern über Jugendliche bis hin zu Erwachsenen. Wir erwarten, dass ältere (bzw. erwachsene) TS-Betroffene ein stärkeres Vorgefühl berichten als jüngere Betroffene (Kinder/Jugendliche). Dieser Altersbezug sollte sich auch für eine höhere interozeptive Sensibilität belegen lassen. Sowohl negative Metakognitionen als auch interozeptive Sensibilität sollten das Vorgefühl beeinflussen, selbst wenn für den Tic-Schweregrad kontrolliert wird.

Methodik

Teilnehmende

Die untersuchte Stichprobe besteht aus 59 Teilnehmenden zwischen 11 und 63 Jahren. Teilnehmende unter 16 Jahren wurden im Umfeld der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters rekrutiert, Teilnehmende ab 16 Jahren über Links in Selbsthilfegruppen und auf einschlägigen Seiten im Internet. Einschlusskriterien waren das Vorhandensein mindestens eines Tics in der letzten Woche und eine diagnostizierte Tic-Störung (ICD-10 [International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems]: F95.1: N = 9; F95.2: N = 50). Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren erhielten eine Aufwandsentschädigung von 6 €, Teilnehmende ab 16 Jahren die Möglichkeit, einen von acht 25 €-Wertgutscheinen zu gewinnen. Die Studie wurde durch die Ethikkommission der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln genehmigt (Kennzeichen: CSHF0044). Alle Teilnehmenden erklärten sich nach Erhalt ausführlicher Informationen mit der Teilnahme an der Studie einverstanden, Eltern von Teilnehmenden unter 16 Jahren gaben zusätzlich ihr schriftliches Einverständnis zur Teilnahme ihrer Kinder.

Messinstrumente

Der SBB-TIC ist Teil des DIYSPS-III-Diagnostiksystems (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017) und erfasst den selbstberichteten Tic-Schweregrad. Zunächst wird das Vorhandensein von Tics in verschiedenen Körperregionen erfragt. Auf einer fünfstufigen Likert-Skala von „ein paar Mal in der Woche“ bis „ständig, alle paar Minuten“ wird für jeden Tic die Häufigkeit erfasst, auf einer ebenfalls fünfstufigen Likert-Skala von „sehr leicht, kaum erkennbar“ bis „stark, irritiert andere“ die Intensität. Ein Gesamtwert zwischen 0 bis 16 Punkten wird errechnet, indem für alle vorhandenen Tics die Produkte aus Intensität und Häufigkeit aufsummiert werden, woraufhin die Summe durch die Anzahl der vorhandenen Tics geteilt wird. In der vorliegenden Studie wurde außerdem die Kontrollierbarkeit für jeden vorhandenen Tic auf einer ebenfalls fünfstufigen Likert-Skala von 1 = „sehr gering“ bis 5 = „sehr stark“ erfragt. Die SBB-TIC weist eine interne Konsistenz von α = .93 auf.

Die Premonitory Urge for Tic Scale (PUTS; Woods et al., 2005) ist ein standardisierter Fragebogen zur Erfassung des Vorgefühls. Die Skala erfasst das Vorgefühl als ein übergreifendes Konstrukt über eine undefinierte Zeitspanne und ist nicht bezogen auf einzelne Tics. Aussagen werden auf einer vierstufigen Skala von 1 = „stimmt gar nicht“ bis 4 = „stimmt sehr“ beurteilt (deutsche Version: Rössner, Müller-Vahl & Neuner, 2010). Der Gesamtwert der Skala besteht aus der Summe der neun Items und liegt damit zwischen 9 und 36. Höhere Werte repräsentieren stärkere Vorgefühle. In der vorliegenden Studie weist die PUTS-9 eine interne Konsistenz von α = .81 auf.

Die Beliefs About Tics Scale (BATS) erfasst im Selbstbericht (metakognitive) Überzeugungen auf 20 Items (Steinberg et al., 2013). Jedes Item wird auf einer vierstufigen Skala von 1 = „stimmt überhaupt nicht“ bis 4 =„stimmt“ beantwortet (Range des Gesamtwerts 20–80). Der Fragebogen wurde für die vorliegende Studie ins Deutsche übersetzt. Im ersten Schritt wurde eine Übersetzung des englischen Originalfragebogens durch die Verfassenden vorgenommen. Daraufhin übersetzte eine unabhängige Person die übersetzte Version zurück ins Englische. Abweichungen der rückübersetzten Version von der Originalskala wurden unter den Übersetzenden diskutiert. Die deutsche Version weist ein Cronbachs Alpha von α = .91 auf.

Die für Kinder vereinfachte Skala zur Bewusstheit von Körpersymptomen (Palser et al., 2018) des Body Perception Questionnaire (BPQ-A; Porges, 1993) enthält 39 Items, die auf einer fünfstufigen Skala von 1 = „nie“ bis 5 = „immer“ beantwortet werden (Range 39–195). Für die vorliegende Studie wurde der Fragebogen analog zur BATS ins Deutsche übersetzt. In der vorliegenden Studie weist der BPQ-A eine interne Konsistenz von α = .94 auf.

Datenanalyse

Der Zusammenhang von PUTS mit jeweils Tic-Schweregrad, BATS und BPQ wurde mit Pearson-Korrelationen berechnet. Außerdem wurde eine multiple Regressionsanalyse durchgeführt. Da verschiedene multiple Verfahren durchgeführt wurden, wurde das Signifikanzniveau auf p < .01 gesetzt. Unsere Haupthypothesen waren unidirektional. Mit einer ANOVA wurde der Gruppenunterschied zwischen Teilnehmenden jünger als 18 Jahre und älter als 17 Jahre berechnet.

Ergebnisse

Tabelle 1 zeigt die deskriptiven Statistiken und Gruppenunterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen. Die einzelnen Korrelationen innerhalb der Gruppe der Kinder und innerhalb der Gruppe der Erwachsenen sind in Tabelle 2 aufgeführt und gegenübergestellt.

Tabelle 1 Deskriptive Statistiken
Tabelle 2 Korrelationsmatrix

Veränderungen über die Lebensspanne

Insgesamt korreliert die PUTS nicht signifikant mit dem Alter (r = .21, p = .116; Kinder: r = .12, p = .632; Erwachsene: r = –.04, p = .803). PUTS-Werte unterscheiden sich jedoch signifikant zwischen Kindern und Erwachsenen (siehe Tabelle 1).

Weder der Gesamtwert des SBB-TIC (r = –.01, p = .958; Kinder: r = –.04, p = .869; Erwachsene: r = –.04, p = .818) noch die Tic-Kontrollierbarkeit (r = .12, p = .386; Kinder: r = .42, p = .080; Erwachsene: r = –.12, p = .471) korrelieren signifikant mit dem Alter oder unterschieden zwischen Kindern und Erwachsenen (siehe Tabelle 1).

BATS-Werte korrelieren ebenfalls nicht signifikant mit dem Alter (r = .05, p = .706; Kinder: r = –.03, p = .912; Erwachsene: r = –.16, p = .306); es findet sich kein signifikanter Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. BPQ-Werte korrelieren insgesamt und innerhalb der Erwachsenen nicht signifikant mit dem Alter (r = .10, p = .451; Erwachsene: r = –.12, p = .453), innerhalb der Kinder schon (Kinder: r = .53, p = .025). Es findet sich kein signifikanter Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen (siehe Tabelle 1).

Vorgefühle und Tics

Die PUTS insgesamt korreliert nicht mit dem Gesamtwert des SBB-TIC (r = .11, p = .417), allerdings fand sich eine signifikante Korrelation innerhalb der Kinder (r = .47, p = 0.05). Die Tic-Kontrollierbarkeit korreliert nicht signifikant mit dem Gesamtwert des SBB-TIC (r = .22, p = .100; vgl. Tabelle 2).

Vorgefühle, Tics und Metakognitionen

Die PUTS korreliert signifikant positiv mit der BATS (r = .459, p < .001), getrieben durch die signifikante Korrelation innerhalb der Kinder (vgl. Tabelle 2). Auch der Gesamtwert des SBB-TIC korreliert signifikant positiv mit der BATS (r = .30, p = .020), ebenfalls getrieben durch die signifikante Korrelation innerhalb der Kinder. Die Tic-Kontrollierbarkeit korreliert nicht signifikant mit der BATS (r = .24, p = .160).

Vorgefühle, Tics und interozeptive Bewusstheit

Insgesamt korreliert die PUTS signifikant mit der BPQ (r = .38, p = .003), hier getrieben durch die signifikante Korrelation innerhalb der Erwachsenen (Tabelle 2). Die Tic-Kontrollierbarkeit korreliert positiv signifikant mit dem BPQ (r = .29, p = .027), der Gesamtwert des SBB-TIC nicht (r = .16, p = .227).

Multiple Regression

Bei der Vorhersage des Vorgefühls werden in einem multiplen Regressionsmodell die Interaktionen zwischen den Prädiktoren Alter, Tic-Schweregrad, negative Metakognitionen und interozeptive Sensibilität sichtbar (Tabelle 3). Mit der PUTS als abhängige Variable wurden in Schritt 1 das Alter und der Tic-Schweregrad eingegeben, in Schritt 2 die Variablen negative Metakognitionen und interozeptive Sensibilität und deren Interaktion. Dies führte zu einer signifikanten Steigerung der erklärten Varianz R2. Zusätzlich zu Alter und Tic-Schweregrad erklären negative Metakognitionen und interozeptive Sensibilität einen signifikanten Teil der Varianz des Vorgefühls (Zunahme R2 = .19; p = .006; vgl. Tabelle 3).

Tabelle 3 Multiple Regressionsanalyse mit PUTS-9 als abhängiger Variable

Diskussion

Die vorliegende Studie untersuchte die Entwicklung des Vorgefühls über die Lebensspanne hinweg unter Berücksichtigung von Metakognitionen und interozeptiver Sensibilität. Negative Metakognitionen und interozeptive Sensibilität erklären einen signifikanten Teil der Varianz des negativen Vorgefühls, zusätzlich zu Tic-Schweregrad und Alter. Erwachsene berichten ein höheres Vorgefühl auf der PUTS als Kinder. Interozeptive Sensibilität nimmt in der Kindheit zu, im Erwachsenenalter bleibt sie eher konstant. Interessanterweise korreliert die interozeptive Sensibilität nur im Erwachsenenalter mit negativen Vorgefühlen. Im Kindesalter dagegen korreliert die PUTS mit negativen Metakognitionen.

Die PUTS war bei Erwachsenen signifikant höher als bei Kindern unter 18 Jahren; eine signifikante Korrelation zwischen Alter und PUTS über die gesamte Lebensspanne wurde nicht gefunden. Bisherige Studien zeigten das gleiche Ergebnis. Dies deutet darauf hin, dass altersabhängige Entwicklungen des Vorgefühls ausschließlich im Kindes- und Jugendalter zu finden sind, vermutlich weil diese auf hirnphysiologische Reifungsprozesse zurückzuführen sind.

Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich bei negativen Metakognitionen, die bei Erwachsenen nur nominal stärker ausgeprägt sind als bei Kindern. Innerhalb der Gruppe der Kinder gehen höhere PUTS-Werte mit höheren Metakognitionen (BATS) einher. Dieser Befund unterstreicht aus unserer Sicht die Bedeutung negativer (Meta-)Bewertungen der Tics als Folge negativer Reaktionen des Umfelds, die sich nach O’Connor (2002) im Verlauf der Tic-Störung, also im Kindes- und Jugendalter, durch assoziatives Lernen zu einem unangenehmen Vorgefühl entwickeln.

Interozeptive Sensibilität ist bei Erwachsenen ebenfalls nur nominell höher als bei Kindern. Innerhalb der Erwachsenen geht jedoch eine höhere interozeptive Sensibilität mit signifikant höheren PUTS-Werten einher. Der Befund unterstreicht damit die Bedeutung interozeptiver Sensibilität bei der Aufrechterhaltung des Vorgefühls. Interozeptive Sensibilität als eine Dimension von Interozeptionsfähigkeit verhält sich in diesem Punkt folglich ähnlich wie interozeptive Genauigkeit (Ganos et al., 2015; Rae et al., 2019). Garfinkel et al. (2015) postulieren, dass interozeptive Genauigkeit das zentrale Konstrukt hinter anderen Interozeptionsdimensionen ist, und dass interozeptive Genauigkeit und Sensibilität erst dann korrespondieren, wenn ein Schwellenwert in der interozeptiven Genauigkeit überschritten ist. Dies könnte erklären, weshalb sich erst im Erwachsenenalter ein systematischer Zusammenhang zwischen interozeptiver Sensibilität und Vorgefühl findet. Eine höhere interozeptive Sensibilität ging auch mit einer höheren Tic-Kontrollierbarkeit einher. Möglicherweise könnten interozeptive Trainings die interozeptive Genauigkeit gemeinsam mit interozeptiver Sensibilität verbessern und darüber die Tic-Kontrollierbarkeit erhöhen (Sugawara, Terasawa, Katsunuma & Sekiguchi, 2020). Mehr negative Metakognitionen in Bezug auf Tic-Symptome gehen mit einem höheren Tic-Schweregrad einher. In der Behandlung der Tic-Störung könnte die Bearbeitung negativer Metakognitionen folglich zu einer Reduktion der Tic-Symptomatik führen, etwa durch eine Reduktion angstauslösender, von Unterdrückungsversuchen ablenkender Kognitionen (Robinson & Hedderly, 2016). Nach dem Ansatz der metakognitiven Therapie würde zunächst die Fähigkeit erarbeitet werden, Aufmerksamkeit flexibler einsetzen zu können. Konkrete metakognitive Befürchtungen (Gedanken wie: „Wenn ich Tics nicht ausführe, werde ich explodieren“) werden explizit aufgegriffen und disputiert. Zum Beispiel könnte in einem Verhaltensexperiment geprüft werden, ob die gefürchtete Katastrophe wirklich eintritt, auch wenn Tics über eine längere Zeit nicht ausgeführt werden. Angst und Stress würden sich dadurch weiter verringern, ebenso die erhöhte Aufmerksamkeit auf dem Selbst, was sich in einer Reduktion des Vorgefühls und der Tic-Symptomatik niederschlagen könnte (Wells et al., 2011).

Tic-Schweregrad und Tic-Kontrollierbarkeit wurden im Selbstbericht erfragt. Fremdberichte, im Kinderbereich z. B. durch Eltern, klinische Urteile, wie die Yale Global Tic Severity Scale (YGTSS), oder experimentelle Beobachtungen mit Unterdrückungsphasen könnten die Datenlage ergänzen. Auch das Vorgefühl, negative Metakognitionen und interozeptive Sensibilität wurden im Selbstbericht erfasst mit den üblichen mit Selbstberichten zusammenhängenden Schwierigkeiten. Eine parallele Erfassung interozeptiver Genauigkeit könnte klären, ob interozeptive Genauigkeit tatsächlich das zugrundeliegende Konstrukt hinter interozeptiver Sensibilität ist und wie sich beide Dimensionen im Verlauf der Tic-Störung entwickeln. Diese Frage und die Frage nach Kausalitäten können abschließend nur Langzeitstudien beantworten.

Literatur