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Open Access

Darmmikrobiota und Autismus-Spektrum-Störungen: Ein Überblick zu Zusammenhängen und möglichen Implikationen für therapeutische Interventionen

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000962

Abstract

Zusammenfassung: Während zu Beginn der Mikrobiomforschung vorwiegend gastrointestinale Erkrankungen im Fokus standen, wurden in den letzten Jahren Zusammenhänge mit weiteren körperlichen Prozessen und (neuro)psychiatrischen Erkrankungen wie beispielsweise der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) festgestellt, welche über die „Gehirn-Darm-Mikrobiom-Achse“ vermittelt werden. Hierbei konnte gezeigt werden, dass sich die Zusammensetzung des Mikrobioms von ASS-Patient_innen und gesunden Kontrollen unterscheidet. Als Ursache hierfür werden mögliche systemische Auswirkungen von z. B. Stoffwechselprodukten bestimmter Mikrobiota oder mikrobiotainduzierten chronisch inflammatorischen Prozessen auf das Gehirn (über die „Gehirn-Darm-Mikrobiom-Achse“ vermittelt) vermutet. Die konkreten zugrundeliegenden Mechanismen sind bisher jedoch weitgehend unklar. Aufgrund der noch sehr unklaren Datenlage können aktuell noch keine allgemeingültigen Empfehlungen für entsprechende therapeutische Interventionen abgeleitet werden. Es gibt jedoch bereits erste vielversprechende Daten, die eine positive Veränderung der autismusspezifischen Symptomatik durch den Einsatz diätetischer Maßnahmen, Prä- und Probiotika, Stuhltransplantationen von gesunden Kontrollpersonen und eine Einschränkung der Aufnahme bestimmter Metabolite in den Darm aufzeigen. Weitere qualitativ hochwertige klinische Studien sind notwendig, um die Pathophysiologie der ASS besser zu verstehen und die Diagnostik und Therapie anpassen zu können.

Gut Microbiota and Autism Spectrum Disorders: An Overview of Correlations and Potential Implications for Therapeutic Interventions

Abstract: At the beginning of research on microbiota, researchers focused mainly on the role of microbiota dysbiosis in the development of gastrointestinal diseases. However, over the last years, researchers have also identified correlations with other physical processes and neuropsychiatric diseases such as autism spectrum disorder. These correlations are believed to be at least partly mediated through the brain-gut-microbiome axis. An altered composition of microbiota in patients with autism spectrum disorder was detected compared to healthy controls. Today, the discussion centers around a possible systemic impact of the metabolites of some microbiota or microbiota-induced chronic inflammatory processes on the brain (mediated through the brain-gut-microbiome axis) as an underlying mechanism. Still, the specific underlying mechanisms remain largely unknown, so conclusions on therapeutic implications are difficult to determine. Here, we describe some promising approaches to improving autistic behavior through dietary changes, the use of prebiotics and probiotics, stool transplantation from healthy controls, and restricted absorbance of certain metabolites. We need further clinical studies of high quality to fully understand the pathophysiology of autism spectrum disorder and to improve diagnostic and therapeutic strategies.

Einleitung

Die Rolle der Darmmikrobiota bei der Entstehung von Krankheiten

Die menschlichen Mikrobiota werden als die Gesamtheit der auf und im menschlichen Körper lebenden Mikroorganismen beschrieben. Sie setzen sich zusammen aus einer Vielzahl von Bakterien, Pilzen, Viren, Protozoen, Bakteriophagen und Archaeen, wobei der Großteil aus Bakterien besteht (Barko, McMichael, Swanson & Williams, 2018). Entgegen der früheren Meinung, dass der menschliche Körper etwa zehnmal mehr bakterielle als menschliche Zellen enthält, wird heute angenommen, dass es sich etwa um gleich viele bakterielle und humane Zellen handelt (Sender, Fuchs & Milo, 2016a, 2016b). Hierbei wird die Gesamtheit der Gene und Stoffwechselprodukte der Mikrobiota als Mikrobiom bezeichnet, wobei dies häufig (wenn auch nicht korrekt) als Synonym für Mikrobiota verwendet wird. Neben den Mikrobiota der Haut und Schleimhäute sind auch die Mikrobiota des Magen-Darm-Traktes in den letzten Jahren aufgrund der Entwicklung neuer Technologien wie Hochdurchsatzsequenzierungen (Next-Generation Sequencing [NGS]) zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. Im weiteren Verlauf des Artikels werden wir uns vorwiegend auf die Darmmikrobiota fokussieren, da deren Interaktionen mit weiteren physiologischen und pathophysiologischen Prozessen vor allem auch im Zusammenhang mit der Entstehung psychiatrischer Erkrankungen in den letzten Jahren am intensivsten untersucht worden sind (für eine Übersicht siehe z. B. Cowan, Dinan & Cryan, 2020).

Ob die erste Kolonisation der Darmmikrobiota bereits in utero erfolgt, ist nicht eindeutig (Aagaard et al., 2014; Perez-Muñoz, Arrieta, Ramer-Tait & Walter, 2017). Spätestens jedoch durch den Geburtsvorgang (Kaiserschnitt oder vaginale Geburt) und im weiteren Verlauf durch medikamentöse Behandlungen (Antibiotika) und weitere Umwelteinflüsse werden die Darmmikrobiota maßgeblich beeinflusst (Tamburini, Shen, Wu & Clemente, 2016). Bereits im Säuglingsalter spielt so z. B. auch die Ernährung eine entscheidende Rolle bei der Zusammensetzung der Darmmikrobiota. Zu erwähnen sind hier beispielsweise durch die Ernährung mit Muttermilch im Gegensatz zu artifizieller Milch hervorgerufene Unterschiede (Guaraldi & Salvatori, 2012). Im weiteren Verlauf der Entwicklung kann eine Zunahme der Diversität der Darmmikrobiota vom Kleinkindalter bis zum Erwachsenenalter festgestellt werden (Ringel-Kulka et al., 2013), wobei die Zusammensetzung insgesamt individuell unterschiedlich ist. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Mikroben von oral nach distal an, sodass sich im Dickdarm die größte Zahl der Mikroorganismen befindet.

Dass Veränderungen der Mikrobiota zur Entstehung von Krankheiten führen können, wurde zu Beginn in der Adipositasforschung nachgewiesen: Hier konnte eine Veränderung der Mikrobiotazusammensetzung bei adipösen Menschen und Mäusen im Vergleich mit normalgewichtigen Kontrollen festgestellt werden (Turnbaugh et al., 2006). Zudem führte eine Transplantation des Stuhls übergewichtiger Mäuse in keimfreie Mäuse zu einer deutlichen Zunahme der Körperfettmasse aufseiten der Empfängertiere, wobei angenommen wird, dass durch die Mikrobiota der übergewichtigen Mäuse eine erhöhte Energiegewinnung aus der Nahrung möglich ist (Turnbaugh et al., 2006).

In weiteren Untersuchungen wurden jedoch immer mehr pathophysiologische Prozesse identifiziert, welche mit einem Ungleichgewicht der Mikrobiota in Zusammenhang stehen: So wird beispielsweise die Reifung des angeborenen und erworbenen Immunsystems durch Darmmikrobiota beeinflusst (Belkaid & Harrison, 2017) und die Zusammensetzung des Darmmikrobioms spielt bei der Entstehung von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (wie bspw. Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa) eine Rolle (Nell, Suerbaum & Josenhans, 2010). Auch bei weiteren Autoimmunerkrankungen wie beispielsweise rheumatoider Arthritis oder systemischem Lupus erythematodes fallen Veränderungen der Mikrobiota auf (De Luca & Shoenfeld, 2019). Durch den therapeutischen Einsatz von Probiotika oder experimentellen Stuhltransplantationen (u. a. bei rheumatoider Arthritis) konnte hierbei eine teilweise Symptomreduktion induziert werden (Mandel, Eichas & Holmes, 2010). Welche komplexen Einflüsse Mikrobiota auf das Immunsystem haben, spiegelt sich in aktuellen Studienergebnissen wider, die zeigen, dass Mikrobiota die Antwort auf Immuntherapien beeinflussen und dass das Ansprechen auf diese Therapien durch Veränderung der Mikrobiota verbessert werden kann (Davar et al., 2021).

Auch an der Entwicklung und Aufrechterhaltung (neuro)psychiatrischer Beeinträchtigungen scheinen die Mikrobiota beteiligt zu sein. Das Zusammenspiel wird hierbei durch die Gehirn-Darm-Mikrobiom Achse (Cryan & Dinan, 2012) vermittelt. Die Signaltransduktion verläuft über endokrine Wege, neuroimmune Signaltransduktion oder direkte neuronale Signalwege (Nervus vagus, Parasympathikus, Sympathikus; Martin, Osadchiy, Kalani & Mayer, 2018). Zugleich produzieren manche Mikroben direkt Neurotransmitter (bspw. GABA [Gamma-Aminobuttersäure]; Barrett, Ross, O’Toole, Fitzgerald & Stanton, 2012).

Die Untersuchung keimfreier Mäuse stellte für das Verständnis dieser Zusammenhänge eine wichtige Grundlage dar: So konnte beispielsweise bei keimfreien Mäusen eine Hypermyelinisierung im präfrontalen Kortex festgestellt werden. Gleichzeitig konnte bei diesen Mäusen eine Hochregulierung von Genen zur Myelinisierung und Myelinplastizität nachgewiesen werden (Hoban et al., 2016), welche sich nach Kolonisation mit konventionellen Mikrobiota reversibel zeigte. Der präfrontale Kortex spielt z. B. bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) oder Depressionen eine zentrale Rolle (May & Kana, 2020). Ebenso scheinen Mikrobiota für die Entstehung des Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) von Bedeutung zu sein. Tengeler et al. (2020) transplantierten keimfreien Mäusen Stuhl von Patient_innen mit ADHS. In der Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI), welche Diffusionsverhalten von Wassermolekülen untersucht und so neuronale Faserbündel sichtbar macht, konnte hiernach eine reduzierte strukturelle Integrität bestimmter Gehirnregionen (bspw. Capsula interna, Hippocampus) nachgewiesen werden. Zudem zeigte sich eine erhöhte Ängstlichkeit bei den keimfreien Mäusen, welche mit Mikrobiota von ADHS-Patient_innen transplantiert wurden (Tengeler et al., 2020).

Anhand dieser Untersuchungen lassen sich wichtige Rückschlüsse auf mögliche Interaktionen zwischen Mikrobiota und dem Gehirn ziehen. Dennoch ist der Großteil der Zusammenhänge weiterhin unklar.

Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

Bei der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) handelt es sich um ein bereits im frühen Kindesalter beginnendes, durch eine komplexe und heterogene Ätiologie geprägtes neuropsychiatrisches Störungsbild. Autistische Menschen zeigen im Vergleich mit neurotypischen Kontrollen Auffälligkeiten bzw. abweichendes Verhalten in der sozialen Interaktion und Kommunikation. Oft bestehen zusätzlich enge, eingeschränkte und stereotyp anmutende Interessen und Aktivitäten. Hierbei ist zu beachten, dass das klinische Bild sehr heterogen ist, weswegen die Breite des klinischen Spektrums auch in der Bezeichnung der diagnostischen Kategorie enthalten ist. Zunehmend wird von Betroffenen ebenso wie von Forschenden gefordert, die ASS nicht im medizinischen, defizitorientierten Sinn als Krankheit anzusehen, sondern sie im Rahmen des Konzeptes der Neurodiversität als eine mögliche, von der neurotypischen Norm abweichenden Entwicklung und Denkweise zu interpretieren (Baron-Cohen, 2017; Pellicano & den Houting, 2022). Es wird angenommen, dass es sich bei etwa 1 % der Bevölkerung um Menschen mit einer ASS handelt (Zeidan et al., 2022). Die Zahl der mit ASS diagnostizierten Personen ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen (Bougeard, Picarel-Blanchot, Schmid, Campbell & Buitelaar, 2021) und weist starke regionale Unterschiede auf (Maenner et al., 2020). Hierbei wird davon ausgegangen, dass die steigende Anzahl durch eine stärkere Auseinandersetzung und aufmerksamere Erkennung im gesellschaftlichen Alltag sowie durch eine bessere Diagnostik bedingt ist und so auch mildere Ausprägungen der Symptomatik bereits entdeckt werden. Im Geschlechtervergleich fällt auf, dass ASS in etwa vierfach häufiger bei Männern diagnostiziert wird im Vergleich zu Frauen (Zeidan et al., 2022). Die Gründe hierfür werden vielfach diskutiert, z. B. ob die auf zellulärer Ebene passierende Inaktivierung des überzähligen X und die daraus resultierende Mosaikstruktur des weiblichen Genoms mit je ca. 50 % aktiven maternalen oder paternalen X-Chromosomen in den Zellen protektiv wirkt oder erhöhte Testosteronspiegel bei männlichen Individuen die Expression bestimmter Gene im Entwicklungsverlauf verstärken und sich hierüber auf die Entwicklung von Symptomen einer ASS auswirken (Masini et al., 2020; Werling, 2016). Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass weibliche Betroffene in der Regel später diagnostiziert werden (ggf. bedingt durch eine etwas anders gelagerte Symptomatik; Lockwood Estrin, Milner, Spain, Happé & Colvert, 2021; Rubenstein, Wiggins & Lee, 2015), was ebenso die Geschlechterverteilung bezüglich der Prävalenz verzerren könnte (Giarelli et al., 2010). Es konnte zudem gezeigt werden, dass auch bei objektiv vergleichbarer Symptomatik eine ASS-Diagnose bei männlichen Patienten häufiger gestellt wird als bei weiblichen (Lockwood Estrin et al., 2021; Russell, Steer & Golding, 2011), was eventuell unter anderem auf die Erwartung der Diagnostiker_innen bezüglich einer deutlich geschlechtswendigen Symptomatik zurückzuführen sein könnte.

Verschiedene Faktoren scheinen bei der Entstehung der ASS eine Rolle zu spielen. Familiäre Häufungen der Erkrankung lassen eine genetische Grundlage für wahrscheinlich erachten, so wurde z. B. für Geschwister eines autistischen Kindes eine 10- bis 20-fach höhere Wahrscheinlichkeit ermittelt, auch eine ASS zu entwickeln (Sandin et al., 2014). Trotz der in den letzten Jahrzehnten zunehmend verbesserten technischen Möglichkeiten der genetischen Diagnostik bleibt die Identifizierung kausaler genetischer Veränderungen bei ASS ebenso wie bei anderen neuropsychiatrischen Erkrankungen schwierig. Es ist in der Mehrheit der Fälle von einem komplexen Zusammenspiel multipler, häufig vorkommender Genvarianten von geringer Relevanz und prä- bzw. peripartalen Umweltrisiken auszugehen. Nur bei etwa 10 % der Proband_innen mit einer ASS konnten monogenetische Ursachen für die Symptomatik gefunden werden (Devlin & Scherer, 2012). Hierbei handelt es sich zumeist um syndromale Erkrankungen wie z. B. das Fragile-X-Syndrom oder die Tuberöse Sklerose. Auch bei Menschen mit Chromosomenaberrationen (wie bspw. bei der Trisomie 21; Rachubinski, Hepburn, Elias, Gardiner & Shaikh, 2017) konnte eine höhere Wahrscheinlichkeit einer zusätzlichen ASS-Diagnose nachgewiesen werden. Es finden sich bei Menschen mit einer ASS darüber hinaus erhöhte Raten von Mutationen mit stärkeren Effekten, wie z. B. Copy number variations (CNVs) oder Single nucleotide variations (SNVs), die Hinweise auf die der Störung zugrundeliegende genetische und neurobiologische Basis geben können (Krumm et al., 2015; Pinto et al., 2010). Bei gehäuftem Auftreten von ASS innerhalb einer Familie kann deshalb zusätzlich zur klinischen Diagnostik (s. u.) eine genetische Beratung und Untersuchung sinnvoll sein.

Zusätzlich gibt es verschiedene Umweltfaktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer ASS erhöhen. Hierzu zählen beispielsweise ein höheres Alter der Eltern bei Geburt des Kindes (Idring et al., 2014) oder eine Autoimmunerkrankungen der Mutter, welche jeweils zu einer erhöhten Prävalenz von ASS mit Entwicklungsverzögerung führen (Lyall, Ashwood, Van de Water & Hertz-Picciotto, 2014). Weitere Risiken stellen eine Frühgeburtlichkeit mit Geburt vor der 32. Schwangerschaftswoche und ein geringes Geburtsgewicht (< 1500 g) dar (Lampi et al., 2012). Auch die Einnahme bestimmter Medikamente (z. B. Valproat) während der Schwangerschaft kann die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer ASS beim Kind erhöhen (Christensen et al., 2013).

Die beschriebenen heterogenen genetischen bzw. Umweltrisiken bedingen auch auf Ebene der neurobiologischen Korrelate ein heterogenes Bild: So bestehen auf hirnstruktureller und funktioneller Ebene zahlreiche Veränderungen bei Menschen mit einer ASS im Vergleich zu neurotypischen Kontrollen (Carlisi et al., 2017; Ecker, 2017; van Rooij et al., 2018). Auch bestehen bei Patient_innen mit einer ASS oft weitere komorbide psychiatrische Symptome und Störungsbilder wie z. B. ADHS oder auch Angsterkrankungen (Simonoff et al., 2008), was ggf. durch Überlappungen in der genetischen Basis bzw. pleiotroper Gene erklärt werden kann (Cross-Disorder Group of the Psychiatric Genomics Consortium, 2019; Ma et al., 2021).

Aufgrund der beschriebenen, bisher nicht vollständig verstandenen und komplexen Ätiologie, in deren Rahmen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine gewichtige Rolle zu spielen scheinen, sowie der bisher nur auf Verhaltens-/Symptomebene angreifenden therapeutischen Interventionsmöglichkeiten, erscheint es uns sinnvoll, einen Überblick über die Studienlage bezüglich möglicher Zusammenhänge zwischen Veränderungen der Darmmikrobiota und Symptomen einer ASS zu geben. In diesem Zusammenhang soll in der vorliegenden Arbeit auch auf hieraus abgeleitete, bisher experimentelle therapeutische Ansätze eingegangen werden. Diese Interventionen finden zwar aufgrund der geringen Evidenzen bisher keinen Eingang in gültige Leitlinienempfehlungen, können ggf. aber Ansatzpunkte für weitere Forschungsbemühungen und perspektivisch eine Erweiterung des therapeutischen Spektrums darstellen.

Befunde zu Mikrobiota bei Menschen mit einer ASS

Trotz großer Forschungsanstrengungen in den letzten Jahren und der Identifikation verschiedener genetischer Risikofaktoren sind die pathophysiologischen Grundlagen, die zur Entstehung einer ASS-Symptomatik führen, weiterhin nur unzureichend geklärt. Um einerseits spezifischer diagnostizieren, andererseits aber auch geeignete therapeutische Maßnahmen entwickeln zu können, gilt es, die pathophysiologische Basis der ASS – sofern überhaupt möglich – noch umfassender zu entschlüsseln. Neue Therapiemöglichkeiten sollten infolgedessen nicht nur die Ausprägung der Symptomatik abmildern, sondern darüber hinaus auch an den Ursachen der ASS ansetzen können. Verbesserte diagnostische Maßnahmen, die neben der Verhaltensbeobachtung und standardisierten Befragungen auch auf Biomarkern basieren, könnten möglicherweise zu einer früheren und genaueren Identifikation betroffener Kinder beitragen und über anschließende frühe individuelle Förderung eine Verbesserung der Anpassungsfähigkeit ermöglichen. In diesem Zusammenhang bietet auch die Forschung zu Mikrobiota die Möglichkeit, biologische Marker zu identifizieren, die Ansatzpunkt für Diagnostik und Therapie der ASS sein können.

Dass eine Dysbiose der Mikrobiota eine Rolle in der Ätiologie der ASS-Symptomatik spielen könnte, legen Befunde nahe, die zeigen, dass Patient_innen mit ASS im Vergleich zu neurotypischen Kindern und Jugendlichen eine erhöhte Rate an gastrointestinalen (GI-)Beschwerden aufweisen. So konnte z. B. ein vierfach höheres Vorkommen von GI-Beschwerden wie Obstipation, Diarrhoe und abdominellen Schmerzen bei ASS-Patient_innen im Vergleich zu gesunden Kontrollen nachgewiesen werden (McElhanon, McCracken, Karpen & Sharp, 2014).

Weitere Untersuchungen zeigen zudem, dass die Schwere der Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit einer ASS mit dem Ausmaß der GI-Beschwerden korreliert (Adams et al., 2011). Außerdem wurden Zusammenhänge zwischen GI-Beschwerden und dem Auftreten von Ängsten (Ferguson et al., 2017) oder affektiven Problemen (Mazefsky, Schreiber, Olino & Minshew, 2014) berichtet. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Ausprägung der ASS-Symptomatik und den GI-Beschwerden kann hieraus zwar nicht abgeleitet werden, es liegt jedoch nahe, ein Zusammenspiel zwischen der Zusammensetzung der Mikrobiota, der ASS-Symptomatik und den GI-Beschwerden zu vermuten (Lasheras, Real-López & Santabárbara, 2023). So wurde im Rahmen einer Einnahme des lokal im Darm wirksamen Antibiotikums Vancomycin eine Verbesserung der ASS-Symptomatik beschrieben. Dieser Effekt einer verbesserten Kommunikation und der Reduktion von z. B. Ängsten zeigte sich nach Beendigung der Vancomycineinnahme rückläufig (Sandler et al., 2000).

Auch in Tierexperimenten wurde untersucht, welche Einflüsse Veränderungen der Mikrobiota auf die ASS-Symptomatik bewirken können. So wurde beispielsweise Stuhl von Menschen mit einer ASS in keimfreie Mäuse transplantiert, was zu einer Entwicklung von ASS-charakteristischem Verhalten wie reduzierter Aktivität in Form von Bewegung, reduzierter Kommunikation und repetitivem Verhalten führte (Sharon et al., 2019). Die Mikrobiota scheinen einen Einfluss auf die neuronale Genexpression zu nehmen, da in den mit ASS-Mikrobiota transplantierten Mäusen eine Veränderung des Splicing ASS-relevanter Gene nachgewiesen werden konnte (Sharon et al., 2019).

Der Frage, ob und wenn ja in welcher Form sich Unterschiede in der Zusammensetzung der Mikrobiota von Menschen mit einer ASS und neurotypischen Kontrollen nachweisen lassen, widmeten sich zahlreiche Untersuchungen, welche zu teilweise widersprüchlichen Ergebnissen kamen (u. a. Andreo-Martinez, Rubio-Aparicio, Sánchez-Meca, Veas & Martínez-González, 2022; Song, Zhang, Teng, Wang & Zhu, 2022; West et al., 2022; Zang et al., 2023). In einem systematischen Review wurden 16 dieser Studien zusammengefasst (381 Patient_innen mit ASS und 283 gesunde Kontrollen; Y.-W. Liu et al., 2019). Hierbei konnte ein erhöhtes Vorkommen von Proteobacteria in autistischen Menschen im Vergleich zu gesunden Kontrollen festgestellt werden (Y.-W. Liu et al., 2019). Ebenso zeigten sich eine Reduktion von Bifidobacterium, Blautia, Dialister, Prevotella, Veillonella und Turicibacter sowie ein vermehrtes Vorkommen von Lactobacillus, Bacteroides, Desulfovibrio und Clostridium in Gruppen von Proband_innen mit einer ASS im Vergleich zu neurotypischen Kontrollpopulationen. Dennoch scheint es kein einheitliches Darmmikrobiotaprofil von Patient_innen mit einer ASS zu geben (Fattorusso, Di Genova, Dell’Isola, Mencaroni & Esposito, 2019), was auch durch die vielen unterschiedlichen Einflüsse auf die Mikrobiota, wie etwa regionale Unterschiede (Nam, Jung, Roh, Kim & Bae, 2011), beeinflusst sein kann.

Wie aber hängen diese Unterschiede/Besonderheiten mit der Entwicklung oder Aufrechterhaltung der ASS-Symptomatik zusammen? Vieles ist hierbei noch unklar, jedoch sind einige Hypothesen zu den im genannten systematischen Review zusammengefassten Gruppenunterschieden bereits formuliert: Beispielsweise zeigt die Clostridium-Spezies, welche Neurotoxine und Propionsäure produzieren, ein vermehrtes Vorkommen in Proband_innen mit ASS (Y.-W. Liu et al., 2019). Bei einem ASS-Mausmodell wurde Propionsäure intracerebroventrikular injiziert, wodurch eine Abnahme der sozialen Interaktion bei den Versuchstieren festgestellt werden konnte (reduzierte Spielzeit mit anderen Mäusen, veränderte Reaktionen auf Spielangebote, reduzierte körperliche Nähe; Shultz et al., 2008). Auch von der Bakteriengattung Bacteroides, welche vermehrt bei Menschen mit einer ASS nachgewiesen wurde (Y.-W. Liu et al., 2019), wird Propionsäure als ein Endprodukt ihres Stoffwechsels hergestellt. Einen Erklärungsansatz für die Auswirkung einer Dysbiose der Mikrobiota auf neuronale Prozesse und infolgedessen Verhaltensauffälligkeiten könnte also die vermehrte Produktion und systemische Aufnahme neurotoxischer Stoffwechselprodukte einiger übermäßig vorhandener Spezies darstellen.

Bei allen Veränderungen, welche in den Mikrobiota bei Menschen mit einer ASS im Vergleich zu gleichaltrigen Kontrollproband_innen festgestellt werden können, muss jedoch immer bedacht werden, dass neben regionalen Unterschieden als äußere Einflussfaktoren auch die Essenspräferenzen der Betroffenen verglichen mit neurotypischen Proband_innen abweichen können. So konnte nachgewiesen werden, dass 90 % der Proband_innen mit einer ASS Essenspräferenzen hin zu Snacks und prozessiertem Essen aufweisen und Früchte oder Gemüse meiden (Sharp, Jaquess & Lukens, 2013). Unterschiedliche Ernährungsarten bestimmen die Zusammensetzung der Mikrobiota maßgeblich. Beispielsweise konnten durch Ernährung einer spanischen Population mit prozessiertem Essen (> 5 Mahlzeiten ultraprozessierte Nahrung/Tag) bestimmte Veränderungen der Zusammensetzung der Mikrobiota nachgewiesen werden (mit unterschiedlichen Effekten für das biologisch weibliche und männliche Geschlecht, wie in dieser Studie unterschieden wurde; Frauen: Zunahme Acidaminococcus, Butyrivibrio, Gemmiger,Shigella, Anaerofilum, Parabacteroides, Bifidobacterium, Enterobacteriales, Bifidobacteriales und Actinobacteria und Abnahme von Melainabacter und Lachnospira; Männer: Zunahme von Granulicatella, Blautia, Carnobacteriaceae, Bacteroidaceae, Peptostreptococcaceae, Bacteroidia und Bacteroidetes und Abnahme von Anaerostipes und Clostridiaceae), welche sich vermutlich aufgrund hormoneller Einflüsse von Estradiol und Testosteron bei männlichen und weiblichen Proband_innen unterscheiden (Cuevas-Sierra, Milagro, Aranaz, Martínez & Riezu-Boj, 2021).

Eine weitere Hypothese bezüglich der Vermittlung der Auswirkung einer veränderten Mikrobiotazusammensetzung auf die Entstehung und Aufrechterhaltung einer ASS-Symptomatik geht davon aus, dass eine Dysbiose der Darmmikrobiota die Entstehung chronisch inflammatorischer Prozesse begünstigt. Durch die Entzündung kann die neuronale Entwicklung beeinflusst und neuropsychiatrische Erkrankungen können hierüber mit verursacht werden (Dash, Syed & Khan, 2022; Lu & Claud, 2019). Ob solche inflammatorischen Prozesse an der Entstehung und Aufrechterhaltung der ASS-Symptomatik beteiligt sind, wird aktuell stark diskutiert (Fattorusso et al., 2019). Eine Untersuchung von Genexpressions-Profilen gastrointestinaler Mukosabiopsien zeigte Übereinstimmungen zwischen Menschen mit einer ASS und Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (Walker, Fortunato, Gonzalez & Krigsman, 2013). Zudem konnten erhöhte Plasmaspiegel proinflammatorischer Zytokine bei Patient_innen mit einer ASS nachgewiesen werden, welche mit einer Zunahme ASS-charakteristischer Verhaltensweisen (wie Kommunikationsverhalten) positiv korrelierten (Ashwood et al., 2011). Es wird auch vermutet, dass die GI-Beschwerden bei autistischen Menschen durch die vermehrte Inflammation verursacht werden.

Inwiefern Veränderungen der Mikrobiotazusammensetzung ursächlich für eine ASS sind und über welche Pfade potenzielle Zusammenhänge vermittelt werden, bleibt also weiterhin offen. Allgemeine Schlussfolgerungen sind dadurch erschwert, dass viele Untersuchungen bisher nur in Tierversuchen umgesetzt wurden und die methodischen Ansätze sowie die Qualität der Studien sehr heterogen sind. Dennoch weisen bisherige Befunde klar auf einen Zusammenhang hin, der weiterer Untersuchung bedarf.

Implikationen für therapeutische Ansätze

Bisherige evidenzbasierte therapeutische Interventionsansätze bei Menschen mit ASS (und deren Familien) umfassen neben intensiven verhaltenstherapeutischen Behandlungen im Einzelsetting und Gruppentherapien zur Erarbeitung sozialer Kompetenzen und zur Erhöhung der sozialen Anpassungsfähigkeit auch medikamentöse Therapieoptionen z. B. mit Risperidon oder Aripiprazol. Diese sind unter anderem zur Behandlung aggressiven Verhaltens bei intelligenzgeminderten Kindern und Jugendlichen zugelassen (Freitag et al., 2021). Mithilfe der genannten Interventionen können im Rahmen der chronischen Erkrankung Symptome abgemildert und bestenfalls ein höheres Funktionsniveau, eine bessere Lebensqualität und eine höhere Zufriedenheit aufseiten der Betroffenen und ihrer Familien erlangt werden. Eine „Heilung“ des Autismus (soweit überhaupt gewünscht von den Betroffenen) kann hierüber jedoch trotz langjähriger Förderung und Bemühungen aller Beteiligten nicht erzielt werden. Der Einbezug der Rolle der Mikrobiota in das komplexe Entstehungsmodell der ASS (wie auch anderer Neuroentwicklungsstörungen wie z. B. ADHS) kann in diesem Zusammenhang weitere ergänzende, ggf. unter bestimmten Risikokonstellationen auch präventiv nutzbare therapeutische Ansatzpunkte bieten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass bisher für keinen der im Folgenden erläuterten möglichen Interventionsansätze ausreichend Evidenz besteht, um hieraus Behandlungsempfehlungen ableiten zu können. Im Gegenteil: Interventionen wie Diäten oder Darmreinigungen werden in der aktuell gültigen S3-Leitlinie zur Therapie bei ASS explizit nicht empfohlen (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie & Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, 2021). Nicht unerwähnt bleiben sollte gleichzeitig jedoch auch, dass die oben genannten Medikamente aus der Stoffklasse der atypischen Antipsychotika, die zur Behandlung z. B. aggressiver Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit einer ASS herangezogen werden können, zu der Medikamentenklasse gehören, die die weitreichendsten Auswirkungen auf die Darmmikrobiota zeigt. Eine Behandlung mit einem dieser Medikamente kann somit zu einer (nichtintendierten) wesentlichen Beeinflussung der Mikrobiota führen, die sowohl positive wie auch negative Wirkungen bzw. Nebenwirkungen hervorrufen kann (Maier et al., 2018).

Unter der Annahme, dass bei Betroffenen mit ASS eine Dysbalance der Mikrobiota vorliegt, die infolgedessen zu einer Dysregulation des fäkalen Metaboloms bzw. einer vermehrten systemischen Aufnahme bestimmter potenziell toxischer Metabolite über eine gestörte Darmbarriere (u. a. Pellegrini et al., 2023) und hierüber vermittelt zu Beeinflussungen des Immunsystems und des Verhaltens des Individuums führen kann, ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten der externen Beeinflussung (Puricelli et al., 2021) (siehe auch Abbildung 1):

Abbildung 1 Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen bei Dysbalance der Mikrobiota in Zusammenhang mit einerAutismus-Spektrum-Störung. Mikrobiota und Nahrungsmittelbestandteile führen zur Entstehung von Metaboliten (z. B. Propionsäure oder 5 HAT), welche teilweise absorbiert werden und eine systemische Wirkung auslösen können. Therapeutische Ansätze beziehen sich auf die Veränderung von Nahrungsbestandteilen, die Veränderung oder Mikrobiotazusammensetzung durch Pro-/Präbiotika oder Stuhltransplantationen oder auf eine Verhinderung der Absorption bestimmter Metabolite.
  1. 1.
    Versuch der Normalisierung der Mikrobiota durch diätetische Maßnahmen
  2. 2.
    Versuch der Normalisierung der Mikrobiota durch Zuführung von Prä-/Probiotika
  3. 3.
    Stuhltransplantationen von gesunden Kontrollpersonen
  4. 4.
    Verhinderung der vermehrten Aufnahme bestimmter Metabolite durch Bindung im Darm

Der Einsatz diätetischer Maßnahmen bei Patient_innen mit ASS fußt auf Beobachtungen, dass (wie bereits beschrieben) ein Großteil der Betroffenen ein deutlich selektives Essverhalten unter Bevorzugung von fett- und kohlenhydratreicher Nahrungsmittel zeigt (Narzisi, Masi & Grossi, 2021), was zu Verdauungsproblemen, einer verminderten Aktivität enzymatischer Prozesse und erhöhten Spiegeln bestimmter Abbauprodukte, wie z. B. Propionsäure, im Urin führen kann (Sanctuary et al., 2019).

In diesem Zusammenhang wurde in mehreren Studien untersucht, inwiefern eine gluten- bzw. caseinreduzierte oder -freie Diät bei Proband_innen mit einer ASS zu einer Linderung eventuell vorhandener GI-Beschwerden und infolgedessen auch der Verhaltensauffälligkeiten beiträgt (Adams, Johansen, Powell, Quig & Rubin, 2011b; Whiteley et al., 2010, 2012). Hierbei festgestellte Verbesserungen der Symptomatik konnten jedoch im Rahmen einer Metaanalyse von Keller et al. (2021) nicht bestätigt werden. Auch birgt eine strikte Diät bei ohnehin bereits selektiv essenden Kindern mit einer ASS die Gefahr einer Minder- bzw. Mangelversorgung mit bestimmten, für eine gesunde Entwicklung erforderlichen Nahrungsbestandteilen sowie eines resultierenden Untergewichtes. Ebenso kann sich die Anforderung eines engmaschig einzuhaltenden diätetischen Regimes zusätzlich belastend auf die Betroffenen und ihre Familien auswirken, sodass Zufriedenheit und Lebensqualität abnehmen (Puricelli et al., 2021).

Im Gegensatz zu den beschriebenen diätetischen Maßnahmen, in deren Rahmen bestimmte Nahrungsmittel weggelassen werden, kommt es beim Einsatz von Prä- bzw. Probiotika zur (zumeist oralen) Zufuhr bestimmter Substanzen. Hierbei handelt es sich entweder um nichtverdauliche Substanzen/Nahrungsergänzungsmittel, die die Vermehrung „hilfreicher“ Darmbakterien unterstützen (Präbiotika) oder direkt um solche Bakterienstämme (Probiotika). So konnte z. B. kürzlich im Rahmen einer randomisierten und kontrollierten Studie (Randomized Controlled Trial [RCT]) gezeigt werden, dass sich bei Kindern und Jugendlichen mit einer ASS vor allem hyperaktives und aggressives Verhalten im Prä/Post-Vergleich verbessert, wenn sie über 28 Tage Lactobacillus plantarum (im Vergleich mit Placebo) erhielten (Y.-W. Liu et al., 2019). Hierbei schien der Effekt ausgeprägter zu sein, je jünger das Alter der Proband_innen war. In Autismus-Mausmodellen konnten Sgritta et al. (2019) zudem nachweisen, dass die Zufuhr von Lactobacillus reuteri in Versuchstieren sich positiv auf deren soziales Interaktionsverhalten auswirkte. Vermittelt wurde dieser Effekt hierbei über den Nervus vagus.

Auch im Hinblick auf eine potenzielle präventive Wirkung solcher Probiotika existieren interessante Befunde: So berichteten z. B. Pärtty, Kalliomäki, Wacklin, Salminen und Isolauri (2015) über eine Studie, in der 75 Säuglinge/Kleinkinder über die ersten 6 Lebensmonate entweder Placebo oder Lactobacillus rhamnosus erhielten. In einer Follow-up-Untersuchung 13 Jahre später erfüllten sechs der Proband_innen aus der Kontrollgruppe die Kriterien einer ASS, jedoch zeigte keine/r der Teilnehmenden aus der Interventionsgruppe Hinweise auf das Vorliegen einer ASS. Natürlich sind dies Ergebnisse aus sehr kleinen Populationen, aus denen gegenwärtig keine allgemeinen Empfehlungen für die klinische Praxis abgeleitet werden können. Gleichwohl würde sich hieraus bei Replikation solcher Ergebnisse innerhalb größerer, qualitativ hochwertiger RCTs ein für die behandelten Kinder recht gut verträglicher und kaum belastender Ansatzpunkt für frühe präventive Interventionen im Hinblick auf ASS oder auch andere Neuroentwicklungsstörungen (wie z. B. ADHS) ergeben.

Eine weitere, invasivere therapeutische Strategie, die auf eine Normalisierung der Dysbalance der Darmmikrobiota abzielt, stellt die bereits mehrfach erwähnte Stuhltransplantation dar. Diese kann entweder als klassische fäkale Mikrobiota-Transplantation (FMT) oder, nach dem Protokoll von Kang et al. (2017), als Mikrobiota-Transfer-Therapie (MTT) durchgeführt werden. Bei der klassischen Stuhltransplantation werden mindestens 50 g Fäces eines bzw. einer gesunden Spender_in benötigt, die in Kochsalzlösung oder Milch aufgelöst und nach erfolgter Filtration in Form von 200 bis 500 ml Injektionslösung entweder von oben (also z. B. über eine naso-gastro-duodenale Sonde) oder unten (kolorektaler Zugang) ins Duodenum des bzw. der Empfänger_in eingeführt werden. Zumeist wird das Verfahren einmalig durchgeführt, z. B. im Rahmen einer Behandlung einer Clostridium-difficile-Infektion nach Antibiotikaeinnahme. Hierbei wird aufgrund der Gefahr einer potenziellen Aspiration zumeist der Weg über End- und Mastdarm bevorzugt (Puricelli et al., 2021).

Das Protokoll der Mikrobiota-Transfer-Therapie (Kang et al., 2017) sieht zunächst eine 14-tägige Behandlung der Patient_innen mit Vancomycin vor, um potenziell im Darm vorhandene pathogene Keime vorab zu eradizieren. Eine Vancomycinbehandlung über einige Tage hatte im Vorfeld in einer kleinen Population von Kindern mit einer ASS zu einer vorübergehenden Besserung der GI-Beschwerden und der ASS-Symptomatik geführt (Sandler et al., 2000), welche jedoch einige Wochen nach Beendigung der antibiotischen Therapie rückläufig war. Im Anschluss erfolgt (nach einem vorangeschalteten Fastentag, inklusive einer Darmreinigung) über 7 bis 8 Wochen täglich die zunächst initial höher, später niedriger dosierte (orale oder rektale) Verabreichung von sogenannten menschlichen Standardmikrobiota (Kang et al., 2017, 2019, 2020), die unter strengen Ausschlusskriterien nach einem standardisierten Protokoll von gesunden Spender_innen gewonnen und weiterverarbeitet werden. Sowohl die klassische Stuhltransplantation als auch die beschriebene Mikrobiota-Transfer-Therapie sind verhältnismäßig nebenwirkungsarm (potenziell Aspirationsgefahr bei oraler Verabreichung, sehr selten toxisches Megakolon, Übertragung multiresistenter Keime bei unzureichender Untersuchung der Spender_innen). Die Ergebnisse der Studien sind vielversprechend (Hamilton, Weingarden, Sadowsky & Khoruts, 2012; Kang et al., 2017) im Sinne einer Verbesserung sowohl der GI-Beschwerden als auch der ASS-Symptomatik (v. a. von Ängsten und Irritabilität) und der Stuhlzusammensetzung – auch über den Follow-up-Zeitraum hinaus. Gleichzeitig fehlen große RCTs und Metaanalysen, um zu generellen therapeutischen Empfehlungen gelangen zu können. Hierbei ist als eine methodische Hürde bezüglich der Planung eines geeigneten Studiendesigns anzumerken, dass Studien unter Einbezug einer fäkalen Mikrobiotatherapie in Deutschland unter das Arzneimittelgesetz fallen und aufgrund von Berichten/Warnungen der Food and Drug Administration (FDA) über Todesfälle von Empfänger_innen nach Übertragung multiresistenter Bakterienstämme mit dem Transplantat hier sehr hohe Anforderungen an Spenderauswahl und -vorbereitung gestellt werden. Die Vorhaltung standardisierter, filtrierter und vorbereiteter Mikrobiota zahlreicher sorgfältig ausgewählter und auf potenziell pathogene Keime/Erkrankungen untersuchter Spender_innen zur oralen Verabreichung in z. B. Kapselform (Hamilton et al., 2012) kann hier zur Vereinfachung des Prozederes und zur Verbesserung der Vergleichbarkeit beitragen.

Neben der Möglichkeit der direkten Beeinflussung der Mikrobiota gibt es auch therapeutische Ansätze, die z. B. versuchen, die systemische Aufnahme potenziell schädlicher Stoffwechselprodukte der Mikrobiota aus dem Darm zu verhindern. Ein Beispiel für ein solches Vorgehen beschreiben z. B. Stewart Campbell et al. (2022), die in ihrer kürzlich erschienenen Arbeit die Ergebnisse präklinischer Studien sowie einer Phase-1-Studie mit der Studiensubstanz AB-2004 an Kindern und Jugendlichen mit ASS präsentieren. Bei der genannten Substanz handelt es sich um ein Adsorbens, das im Darm an toxische Metabolite der Mikrobiota wie z. B. Phenole bindet und deren systemische Aufnahme weitgehend verhindert. Die Rationale hinter dem Einsatz des genannten Stoffes basiert dabei auf der Beobachtung, dass die bei autistischen Patient_innen beschriebene Dsybiose der Mikrobiota zu einer Dysregulation des fäkalen Metaboloms und unter anderem einer erhöhten Ausscheidung von 4-Ethylphenylsulfat (4-EPS) im Urin führt (Needham et al., 2021). Diese Substanz beeinflusst die Funktionsweise von Nervenzellen und führt nach systemischer Aufnahme in Versuchstieren zu einer erhöhten Ängstlichkeit und Irritabilität sowie verstärktem sozialem Rückzug (F. Liu et al., 2019; Shultz et al., 2008). In Tiermodellen mit verstärkter Produktion von 4-EPS führte die Verabreichung von AB-2004 zu einer Abnahme des Metaboliten im Urin sowie zu einer Verminderung der assoziierten Verhaltensauffälligkeiten (Stewart Campbell et al., 2022). Ebenso konnte im Rahmen der genannten klinischen Phase-1-Studie nach 8 Wochen Behandlung mit AB-2004 neben einer Abnahme mikrobieller Metabolite im Urin eine Verbesserung der zuvor bestehenden GI-Beschwerden der 75 Proband_innen mit einer ASS ebenso wie auf der Verhaltensebene eine signifikante Reduktion von Ängstlichkeit und Irritabilität beobachtet werden (Stewart Campbell et al., 2022). Die Autor_innen gehen in diesem Zusammenhang darauf ein, dass es sich hierbei zwar um eine bei Menschen mit einer ASS häufig auftretende Symptomatik handelt, die Kernsymptome der ASS jedoch nicht direkt bzw. kaum beeinflusst werden. Sie argumentieren jedoch damit, dass bisher zugelassene pharmakotherapeutische Optionen wie z. B. Risperidon oder auch Aripiprazol, bei deutlich stärkerem Nebenwirkungsprofil als im Zusammenhang mit AB-2004 aufgetreten, ebenfalls eingesetzt werden (obwohl diese ebenfalls nicht primär die Kernsymptome der ASS ansprechen, sondern vielmehr Symptome von Ängstlichkeit und Irritabilität). Auch kann unter der Annahme, dass die Individuen mit einer ASS selbst ggf. nicht unter ihrer Art zu interagieren und kommunizieren leiden, von einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen durch Reduktion von Ängsten, Irritabilität und GI-Beschwerden ausgegangen werden. Diese genannten Studienergebnisse sind vielversprechend – zumal aufgrund der bisher berichteten guten Verträglichkeit der Substanz die Fortführung der Untersuchungen im Rahmen von Phase-2-Studien mit dem Ziel der Erlangung einer Zulassung wahrscheinlich ist. Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass der Einbezug der Mikrobiota und ihrer Stoffwechselprodukte in die Überlegungen zur pathophysiologischen Grundlage der ASS mehrere vielversprechende Ansatzpunkte liefert, um ergänzende, nebenwirkungsarme therapeutische und auch ggf. präventive Interventionen für Betroffene bzw. Risikopopulationen zu entwickeln.

Zusammenfassung und Ausblick

Zielsetzung der vorliegenden Übersichtsarbeit war es, eine Zusammenfassung bisheriger empirischer Befunde zu Mikrobiota und der ASS zu liefern und Implikationen für die klinische Praxis abzuleiten. Bei der ASS handelt es sich laut der derzeitigen Klassifikation um eine Neuroentwicklungsstörung, die bereits in der frühen Kindheit zur charakteristischen Kernsymptomatik mit (aus neurotypischer Sicht) Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Interaktion sowie Kommunikation und Sprache führt. Darüber hinaus zeigen die meisten Betroffenen repetitive und ritualisierte Verhaltensweisen sowie eine Beschäftigung mit Spezialinteressen. Die Symptomatik bedingt oft (aufgrund der nicht auf die im Rahmen der ASS auftretenden Besonderheiten ausgerichteten Bedingungen im sozialen Umfeld) massive Einschränkungen im allgemeinen Funktionsniveau und in der Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien und bedarf einer früh beginnenden intensiven verhaltenstherapeutischen und pädagogischen Förderung, um längerfristig eine verbesserte Anpassungs- und Integrationsfähigkeit ins soziale Umfeld erreichen zu können. Bezüglich der Ursachen der ASS wird von einer zum großen Teil genetisch bedingten Ätiologie (Tick, Bolton, Happé, Rutter & Rijsdijk, 2016; im Rahmen eines komplexen, heterogenen Erbganges unter Zusammenspiel zahlreicher häufig vorkommender Risikovarianten, seltenerer Mutationen mit größeren Effekten [wie z. B. CNVs] mit frühen Umweltrisiken (Bölte, Girdler & Marschik, 2019) ausgegangen (Freitag et al., 2021). Hierbei bestehen Überlappungen mit anderen Neuroentwicklungsstörungen mit Beginn in der Kindheit wie z. B. ADHS, aber auch mit anderen psychiatrischen Erkrankungen wie z. B. Schizophrenie oder Depression (Cross-Disorder Group of the Psychiatric Genomics Consortium, 2019). Aufgrund der beschriebenen komplexen Ätiologie und der großen Heterogenität wird, trotz großer Fortschritte im Bereich der genetischen Forschung in den letzten Jahren, die Diagnose der ASS weiterhin primär klinisch über standardisierte Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen (wie z. B. der Autism Diagnostic Observation Schedule [ADOS]) und Fragebögen/Interviews gestellt. Tests, die eine Diagnosestellung auf genetischer Basis ermöglichen würden, existieren (bisher) nicht. Da die pathophysiologischen/neurobiologischen Mechanismen hinter der Entstehung der ASS-Symptomatik weiterhin nicht vollständig verstanden sind, greifen auch die empfohlenen therapeutischen Maßnahmen primär auf der Symptomebene ein und haben zum Ziel, Verhalten zu modifizieren bzw. eine höhere Anpassungsfähigkeit herbeizuführen. Eine „Heilung“ kann hierdurch jedoch nicht erzielt werden. Der Einbezug der im Rahmen dieses Artikels zusammengetragenen Befunde zu den Zusammenhängen zwischen der Zusammensetzung der Darmmikrobiota, chronischen Entzündungsprozessen und GI-Beschwerden bei Patient_innen mit einer ASS und Zu- bzw. Abnahme der ASS-Symptomatik auf Verhaltensebene durch Beeinflussung der Mikrobiota oder ihrer Metabolite kann in diesem Zusammenhang das Bild der komplexen Ätiologie ergänzen und neue Ansatzpunkte für diagnostische Möglichkeiten und präventive/therapeutische Interventionen aufzeigen. Einschränkend ist hierbei zu sagen, dass viele der im Rahmen der vorliegenden Arbeit genannten Studien nur über eine geringe Anzahl von Proband_innen berichten konnten. Auch ist die Qualität der Studien bisher heterogen und die Methoden zu wenig vergleichbar, um diesbezüglich Empfehlungen aussprechen zu können. Aufgrund der recht guten Verträglichkeit der bisher untersuchten Interventionsoptionen bezüglich Darmmikrobiota (im Kontrast zur Antipsychotika-Therapie bzw. den sehr aufwendigen und kostspieligen verhaltenstherapeutischen Interventionen wie z. B. Applied Behavior Analysis) und der vielversprechenden ersten Ergebnisse (z. B. Stewart Campbell et al., 2022), ist in den nächsten Jahren mit vermehrten Studienanstrengungen in diesem Bereich zu rechnen, die die Erprobung geeigneter Substanzen/diätetischer Maßnahmen im Rahmen größerer, verblindeter RCTs einschließen.

Literatur