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Open AccessMini-Review

Stromunfälle

Published Online:https://doi.org/10.1024/1661-8157/a004046

Abstract

Zusammenfassung: Wenn Personen nach einem Stromschlag eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen, sollen insbesondere die Stromart (Gleichstrom vs. Wechselstrom), die Stromstärke (>1000V gilt als Starkstrom) sowie die Umstände des Ereignisses (Bewusstseinsverlust, Sturz) erfragt werden. Eine stationäre Rhythmusüberwachung wird bei Bewusstseinsverlust, EKG-Veränderungen, Arrhythmien, erhöhtem Troponin und generell bei Hochvoltunfällen (>1000V) empfohlen. In allen anderen Situationen kann gemäss dem Verletzungsmuster entschieden werden. Unter oberflächlichen Hautverbrennungen verbergen sich oft ausgedehnte thermische Gewebeschädigungen.

Electrical Accidents

Abstract: When persons seek medical help after an electrical injury, physicians have to inquire on the type (AC/DC) and strength of current (>1000V is considered “high voltage”) as well as the exact circumstances (loss of consciousness, falls) of the accident. In the advent of high-voltage accidents, loss of consciousness, arrhythmias, abnormal ECG or elevated troponin levels, in-hospital rhythm monitoring is warranted. In all other cases, the type of extra cardiac injury primarily directs the management. Superficial skin marks may disguise more extensive thermal injuries of inner organs.

Accidents d’électrisation

Résumé: Après un accident d’électrisation il est primordial de clarifier le type de courant (continu ou alternatif), l’intensité du courant (>1000V est considéré courant haute tension) et les exactes circonstances de l’accident (perte de conscience, chute). Après un accident avec du courant haute tension, une perte de conscience, une arythmie documentée, un ECG anormal ou une troponine élevée une hospitalisation et la surveillance du rythme cardiaque sont conseillés. Dans les autres situations il faut décider selon le mode lésionnel. Sous les brûlures électriques superficielles de la peux peuvent se cacher des lésions thermiques des tissues profonds beaucoup plus vastes.

Im Artikel verwendete Abkürzungen

ACS Akutes Koronar-Syndrom

ATLS Advanced Trauma Life Support

CK Kreatinkinase

EKG Elektrokardiogramm

ESC European Society of Cardiology

ESTI Eidgenössisches Starkstrominspektorat

Einleitung

Jährlich werden in der Schweiz knapp 550 Stromunfälle gemeldet, die jährliche Todesrate liegt gemäss ESTI bei 1% [1]. In den USA stellen sich jährlich knapp 10000 Patient_innen auf Grund eines Stromschlags in einer Notaufnahme vor, die Todesraten sind seit Längerem sinkend, was auf bessere Schutz- und Sicherungsmassnahmen elektrischer Kreisläufe zurückgeführt wird [2]. Jedoch ist mit einer hohen Dunkelziffer an Stromunfällen im Haushalt zu rechnen, welche nicht erfasst werden, bzw. nicht ärztlich behandelt werden. Auch werden in der aktuellen Literatur meist Daten aus Krankenhäusern präsentiert, die Datenlage im hausärztlichen Bereich ist bestenfalls als vage zu bezeichnen [3]. Der Grossteil der betroffenen Personen ist männlich und zwischen 30 und 40 Jahre alt, in knapp ⅔ aller Fälle ereignete sich der Stromunfall in Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz [4, 5, 6]. Im Bereich der Pädiatrie treten Stromunfälle meist bei Kleinkindern unter sechs Jahren auf [7]. Das Management von Patient_innen nach Stromunfall richtet sich primär nach der klinischen Präsentation und die durch den Strom verursachten Verletzungen. Das Spektrum reicht von asymptomatischen Patient_innen über schwere Brandverletzungen bis zum Kreislaufstillstand. In den letzten Jahren wurde die teils aufwändige Nachbeobachtung und Abklärung von Stromunfällen bei asymptomatischen Patient_innen zunehmend kritisch hinterfragt [4, 8, 9]. Der vorliegende Artikel soll den Praktizierenden eine Übersicht über die verschiedenen Aspekte und das Management von Patient_innen nach Stromunfall bieten.

Tabelle 1 Gegenüberstellung Tiefrisiko- und Hochrisiko-Stromunfälle

Definitionen und Pathophysiologie

Grundsätzlich werden Stromunfälle in Hochvolt- und Niedrigvolt-Unfälle unterteilt. Die Grenze liegt bei 1000 Volt Spannung, wobei dieser Grenzwert nicht wissenschaftlich untermauert ist. Neben der Stromspannung (Volt) sind Stromstärke (Ampere), Widerstand (Ohm), der Stromverlauf durch den Körper und die Stromart (Gleich- vs. Wechselstrom) relevante Parameter. Für Interessierte bietet der Review von Gentges et. al [10] eine ausführliche Übersicht und Erläuterungen zur Pathophysiologie des Stromunfalls.

Strom folgt immer dem Weg des geringsten elektrischen Widerstands durch den Körper. Bedingt durch den unterschiedlichen Aufbau von Körpergeweben und Organen und regionalen Unterschieden kann der Stromverlauf auch Umwege durch das Körperinnere nehmen und auf seinem Weg innere Organe schädigen. Die Eintrittsbarriere Haut bietet einen hohen Widerstand gegen Stromfluss. Aber diese kann bereits durch Feuchtigkeit relevant an elektrischem Widerstand verlieren [3]. Vor allem Blutgefässe und Nervenbahnen haben einen geringen Widerstand für elektrischen Strom. Der Strom fliesst im Körperinnern entsprechend bevorzugt durch diese Strukturen, was eine Schädigung dieser Strukturen und des umliegenden Gewebes bewirkt. Fliesst der Strom hingegen durch Gewebe mit hohem Widerstand (z.B. Knochen), wird mehr Strom in thermische Energie umgesetzt mit entsprechenden Verbrennungsfolgen und Nekrosen. Der Stromverlauf durch den Körper und die Stromart beeinflussen das Verletzungsmuster des Stromunfalls. Eine transthorakale Stromleitung (z.B. von Hand zu Hand) führt beispielsweise mit höherer Wahrscheinlichkeit zu kardialen Arrhythmien als ein Stromfluss von Hand zu Fuss [5]. Niedervoltunfälle bergen eher das Risiko von Herzrhythmusstörungen und sturzbedingten Traumata, Wechselstrom ist pro-arrhythmogener als Gleichstrom. Strominduzierte Muskelkrämpfe und Tetanien führen unter Umständen dazu, dass die Stromquelle nicht losgelassen werden kann und es dadurch zu einer prolongierten Stromexposition mit mehr strombedingten Schäden kommt. Oberflächliche Hautverbrennungen im Bereich des Stromkontakts sind häufig und korrelieren nicht mit einer potenziellen subkutanen Stromschädigung.

Hochvoltunfälle zeichnen sich vor allem durch schwere, thermisch induzierte Verletzungen aus. Neben grossflächigen Verbrennungen sind schwere innere Brandverletzungen im Bereich des Stromflusses möglich. Bei offenen Hochvoltleitungen, zum Beispiel im Bereich der Eisenbahninfrastruktur, sind Stromunfälle auch durch einen Lichtbogen möglich, einer Stromentladung über die Luft ohne direkten Kontakt der Patient_innen zum Stromleiter. Im Fall eines (sehr seltenen) Blitzschlags kommt es zu kurzen, aber extremen Stromflüssen (100000 Ampere und mehr), wobei hier zusätzlich noch Temperatureffekte durch das Plasma des Blitzes (bis 30000°C) und die Druckwelle der Entladung zu schwersten Verletzungen führen können.

Patientenmanagement

Präklinisch

Im präklinischen Management als Notärztin oder Ersthelfer steht ganz klar der Eigenschutz (Vorsicht bei herabhängenden Kabeln, feuchtem Untergrund) im Vordergrund! Neben weiterbestehender Spannung besteht auch die Möglichkeit einer Reaktivierung des Stromkreises mit entsprechender Gefährdung der Ersthelfer. Bei Unfällen im Hochvoltbereich (Eisenbahn!) sollte immer ein Fachexperte/eine Fachexpertin den Stromkreis inspizieren und sicher unterbrechen, bevor man sich den Patient_innen nähert und sie versorgt. Im Fall eines Kreislaufstillstands gelten die aktuellen Regeln des Advanced Cardiac Life Support (ACLS) [3].

Verletzungen und Verbrennungen sollten ebenfalls nach aktuellen Guidelines des Advanced Trauma Life Support (ATLS) behandelt werden, Atemwegssicherung ist insbesondere bei Verbrennungen im Kopf-Hals-Bereich früh anzustreben. Auch ist bei grossflächigen Verbrennungen (>20% Körperoberfläche bei Erwachsenen, >10% bei Kindern) eine direkte Einweisung in ein Verbrennungszentrum anzustreben.

Hausarztpraxis: Niedrigvolt-Stromunfall

Fallbeispiel 1

Ein 53-jähriger Mann erfährt bei der Renovation seiner Wohnung einen heftigen Stromschlag am rechten Arm. Kein Bewusstseinsverlust, keine erkennbare Verbrennung. Bei der Vorstellung in der Arztpraxis ist er aufgeregt, kreislaufstabil, und berichtet über Parästhesien der rechten Hand ohne Funktionseinschränkung. EKG und Troponinwerte sind unauffällig.

→ Dieser Patient kann ohne weitere Diagnostik und Überwachung entlassen werden.

In den meisten Fällen werden sich Patient_innen nach einem Niedrigvolt-Stromunfall in der Praxis vorstellen, häufige Symptome sind Schmerzen an der Ein- und Austrittsstelle, Taubheitsgefühl und lokale, kleine Verbrennungen [4]. Thoraxschmerzen und Tetanie bzw. Krämpfe werden häufiger bei transthorakalem Stromfluss berichtet [5]. In der Anamnese sollten Stromspannung (Volt), Kontaktdauer und Stromart (Gleichstrom oder Wechselstrom) erfragt werden, ebenso wie vorbestehende – insbesondere kardiale – Erkrankungen. Bei der körperlichen Untersuchung sollte nach Ein- und Austrittsmarken sowie Verbrennungen gesucht werden und diese analog zu anderen Verbrennungen wundversorgt werden. Das Ausmass der Hautveränderungen korreliert nicht mit Stromstärke oder -fluss, entsprechend sollten Schmerzen oder Veränderungen ausserhalb der Ein- und Austrittsmarken konsequent weiter begutachtet werden (Druckschmerzen? Schwellung? Sensibilitätsausfälle? Schmerzen bei passiver Bewegung? Hautveränderungen?). Stromunfälle sind insbesondere hinsichtlich kardialer Verletzungen zu evaluieren. Jede Patientin und jeder Patient sollte nach einem Stromunfall ein EKG erhalten und dieses mit Vor-EKGs auf neu aufgetretene Pathologien verglichen werden. Arrhythmien sind die häufigste kardiale Komplikation, wobei Wechselstrom ein höheres Risiko für das Auslösen von Kammerflimmern darstellt [3]. Die meisten Arrhythmien treten unmittelbar oder kurz nach dem Stromkontakt auf, anekdotenhafte Berichte beschreiben tödliche Arrhythmien innerhalb von 8–12 Stunden, wobei diese gemäss den Autoren fraglich in Zusammenhang mit dem Stromunfall zu sehen waren [11]. Rezente grössere Studien bestätigten dieses Phänomen auch nicht, sodass eine teure regelhafte stationäre EKG-Langzeitüberwachung nicht für jede Patientin und jeden Patienten obligat ist [4, 9, 12].

Eine ESC-Guideline von 2018 (Abb. 1) empfiehlt eine stationäre Rhythmusüberwachung bei dokumentierten Arrhythmien, Bewusstseinsverlust, Hochvolt-Unfällen, EKG-Veränderungen und Troponinanstieg [3]. Asymptomatische, unverletzte Patient_innen nach Niedrigvolt- Unfall und ohne Bewusstseinsverlust brauchen keine Rhythmusüberwachung.

Abbildung 1 Praktischer Algorithmus für das Management scheinbar gesunder Patient_innen nach einem Elektrounfall. Deutsche Übersetzung nach dem Algorithmus der European Society of Cardiology. Publiziert unter: «Electrical cardiac injuries: current concepts and management» [3].

Hinsichtlich Laborparametern gibt es keine suffiziente Evidenz bei Stromunfällen. Entsprechend sind diese im jeweiligen klinischen Kontext und mit bekannten Vorwerten zu interpretieren. Eine CK-Erhöhung über 400U/l kann als Zeichen einer tiefergehenden Verletzung gewertet werden [13]. Ein negatives Troponin macht eine myokardiale Beteiligung unwahrscheinlich, es sind jedoch keine Zeitintervalle für serielle Kontrollen oder die generelle Sinnhaftigkeit wie beim ACS definiert. Bereits initial erhöhte oder dynamische Troponinwerte, dokumentierte Arrhythmien oder neue EKG-Veränderungen machen eine Überwachung für ca. 24h jedoch sinnvoll. Kardiale Devices (Schrittmacher, Defibrillator) sind durch jeglichen Stromunfall potenziell geschädigt oder funktionsgestört und sollten auch bei asymptomatischen Patient_innen umgehend durch einen Fachperson überprüft werden [14].

Die Datenlage hinsichtlich Stromunfall und Schwangerschaft ist schlecht. Die Spontanabortrate liegt in einem weiten Feld zwischen 6% und 73% [3]. Fetale Rhythmusstörungen oder Herztod werden in Fallberichten beschrieben. Aufgrund der sehr geringen Evidenz ist ein vorsichtiger Zugang mit grosszügiger Indikation zur Hospitalisation und Nachüberwachung sowohl von Kind als auch Mutter sinnvoll. Die Wundversorgung von Strommarken erfolgt primär wie bei anderen Verbrennungen: Durch Kühlung der verbrannten Oberfläche werden Schmerzen gelindert und weitere Schäden durch Restwärme verhindert [15]. Ungewöhnliche Schmerzen oder Funktionsdefizite können auf unsichtbare Verletzungen in der Tiefe weisen.

Notfallstation: Hochvolt-Stromunfall

Fallbeispiel 2

Sie werden als Notärztin in ein Kraftwerk gerufen. Ein Mitarbeiter erlitt bei Reparaturarbeiten einen Stromschlag mit Bewusstseinsverlust ohne Kreislaufstillstand. Seine Kollegen haben den Unfallort bereits gesichert. Bei Ihrem Eintreffen ist der Patient wieder wach und weist eine längere Brandwunde am linken Oberschenkel auf. Er möchte weiterarbeiten.

→ Dieser Patient sollte sofort hospitalisiert werden.

Grundsätzlich gelten auch beim Hochvolt-Unfall dieselben Hinweise und Empfehlungen wie bei Niedrigvolt-Stromunfällen. Kontakt mit einer Hochvoltquelle bedeutet nicht automatisch eine schwere Verletzung, da wie oben beschrieben, viele Faktoren auf das Krankheits- und Verletzungsbild Einfluss nehmen. Bei Hochvolt-Stromunfällen rücken das thermische Trauma, zusätzliche sekundäre Verletzungen (Schädel-Hirn-Trauma, Frakturen, Luxationen, Blutungen) und die Wundversorgung aber deutlich in den Vordergrund. Die Indikation zur Atemwegssicherung ist neben den üblichen Kriterien des ACLS und ATLS auch bei Verbrennungen/Verletzungen im Gesichtsbereich grosszügig zu stellen, Hintergrund ist eine zu erwartende Schwellung des Gewebes in Kombination mit einem schwer abgrenzbaren Verletzungsmuster im Körperinneren. Die i.v.-Volumengabe sollte rasch und grosszügig begonnen werden und orientiert sich an den Prozent der verbrannten Körperoberfläche und den Vitalparametern Blutdruck, Puls und Urinausscheidung [10]. Die Parkland-Baxter-Formel kann als Berechnungshilfe verwendet werden.

Diese Patientenpopulation benötigt meist eine weitere intensivmedizinische Betreuung, bei grossflächigen Verbrennungen (>20% Erwachsener, >10% Kind) ist die Verlegung in ein Verbrennungszentrum anzustreben. Diese Patient_innen benötigen oft auch Fasziotomien, Hauttransplantationen und ein hohes Level an Intensivmedizin.

Key messages
  • Stromunfälle sind oft harmlos. Wenn Patient_innen deswegen eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen, empfiehlt sich die Durchführung eines EKGs und die Messung des Troponins.
  • Neben den offensichtlichen Hautverbrennungen sollen ausserdem tiefe Verletzungen entlang von Nerven und Blutgefässen sowie Sturzfolgen gesucht werden.
  • Eine stationäre Rhythmusüberwachung wird bei Bewusstseinsverlust, EKG-Veränderungen, Arrhythmien, erhöhtem Troponin und generell bei Hochvoltunfällen (>1000V) empfohlen.

Lernfragen

Frage 1. In welchen Situationen sollten Personen nach einem Elektrounfall hospitalisiert werden? (Mehrfachantwort)

  • a)
    Bei lokalisierten, oberflächlichen Verbrennungen
  • b)
    Nach einem Bewusstseinsverlust
  • c)
    Bei neuen EKG-Veränderungen
  • d)
    Bei Schmerzen an der Eintrittstelle
  • e)
    Bei einer Creatininkinase(CK)-Erhöhung auf 2 × die obere Norm

Frage 2. Bei Starkstromunfällen (>1000 Volt) … (Einfachantwort)

  • a)
    … können tiefe Verletzungen, besonders entlang von Blutgefässen und Nerven auftreten.
  • b)
    … wird immer eine Hospitalisation empfohlen.
  • c)
    … treten oft sekundäre Verletzungen infolge von Stürzen auf.
  • d)
    … ist mit stärkeren Verbrennungen zu rechnen.
  • e)
    Alle Antworten sind richtig.

Antworten zu den Lernfragen

1. Antworten b) und c) sind richtig.

2. Antwort e) ist richtig.

Bibliografie