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Kommentare zu . Die integrative Lerntherapie: Therapieform zur Behandlung von Lernstörungen. Lernen und Lernstörungen, 6 (2), 65–73

Mehr Ressourcenorientierung und mehr Lerntherapie in Schule

Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000218

Der vorliegende Text enthält sehr wertvolle Beschreibungen zur lerntherapeutischen Diagnostik und Förderarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Auf dem Hintergrund, Integrative Lerntherapie als eine neue Therapieform zu etablieren und in vorhandene Kostensysteme zu integrieren, ist konsequent, dass im 1. Teil „Klassifikation und Diagnostik“, „Komorbiditäten und Folgeerkrankungen“ sowie „Symptomatik“ ausführlich dargestellt werden.

Im 2. Teil ist Integrative Lerntherapie profund und schwergewichtig zusammengefasst: Das systemische Wirkungsgefüge mit den wesentlichen Kategorien wie Psychologie, Medizin, Pädagogik, Fachdidaktiken Deutsch und Mathematik sowie Linguistik, die Beziehungskompetenz dabei als Klammer. Damit ist die (neue) Therapieform „Integrative Lerntherapie“ in ihrer Notwendigkeit erwiesen und legitimiert.

In Ergänzung sollten meines Erachtens zwei Grundsätze der Integrativen Lerntherapie in der Darstellung einen größeren Raum einnehmen: die Grundhaltung der Ressourcenorientierung sowie die systemische Sicht und Arbeitsweisen. Zudem ergibt sich für mich die Frage, ob und wie der vorliegende Text erweitert werden kann, um der aktuellen Entwicklung von Lerntherapie und Schule sowie der Realität der meisten lerntherapeutischen Praxen gerecht zu werden, denn die dort betreuten Kinder erfüllen mehrheitlich nicht die aufgeführten Bedingungen.

Ressourcenorientierung

Dieser so wichtige Ansatz der Lerntherapie und der damit verbundene Anspruch sollten konzeptionell ausführlicher reflektiert werden, gerade wenn der defizitorientierte Blick aus den Finanzierungsgründen so groß sein muss.

  • Das gilt besonders für die Diagnostik als „Schatz- und Kompetenz-Suche“: Lerntherapie braucht neben (test-)statistischen Aussagen und Einordnungen eine umfassende informelle, qualitative Orientierung am aktuellen, individuellen Entwicklungsstand.
  • Die im Text beschriebene feine, kleinschrittige Förderung sucht ständig Fortschritte, d.h. jede Lerntherapie-Stunde impliziert Verlaufsdiagnostik; neue Stärken und neue Schwächen werden erkannt und werden für die Zusammenarbeit gewichtiger als der Eingangsbefund.
  • Die Ressourcensuche bezieht sich beim systemischen Arbeiten konsequenterweise auch auf Eltern, Lehrkräfte und andere.
  • Mein Grundverständnis von „ressourcenorientierter Haltung“ sagt mir, eine ressourcenorientierte Sichtweise muss sich auch in der Darstellung niederschlagen und darf nicht unter Überschriften wie „Klassifikation und Diagnostik“ doch einen defizitorientierten „Geschmack“ bekommen.

Systemische Lerntherapie

Obwohl im Text Lerntherapie systemisch gedacht und dargestellt ist (Wirkungsgefüge), spitzt sich Vieles auf das Kind und seine möglichen Defizite zu.

  • „Komorbiditäten und Folgeerkrankungen“, „Symptomatik“ und „organische und neurophysiologische Ursachen“ bekommen einen hohen Stellenwert. Abgesehen davon, dass „Ursachen“ (Bender et al., S. 66) nicht unbedingt in eine systemische Welt-Betrachtung gehören und dass also derartige Formulierungen nicht weich und vorsichtig genug sein können, müssten (vorsichtig formuliert) eine „nicht-zu-diesem-Kind-passende Didaktik“ und mitunter unzureichende schulische Rahmenbedingungen deutlicher mit gesehen und benannt werden, zumal ja die Arbeit mit Lehrkräften zu den Tätigkeiten der Lerntherapeutinnen und -therapeuten gehört.
  • Die Arbeit mit dem Umfeld wird benannt. Sie sollte zur Veranschaulichung von Lerntherapie als systemische Unterstützung meines Erachtens allerdings einen größeren Raum einnehmen, der ihrer Bedeutung angemessen ist. Gespräche mit den Eltern machen einen nicht unerheblichen Teil von Lerntherapie aus; z.B. wie die Eltern für ihr Kind bei Hausaufgaben, in der Freizeit und in etlichen anderen tagtäglichen Situationen ihre Einstellung und ihr Verhalten positiver gestalten können oder wie sie entlastet und/oder für Gespräche mit der Schule gestärkt werden können. Ebenso erzielen Gespräche mit den Lehrkräften große Wirkungen: vom alltäglichen Umgang mit Fortschritten und Fehlern, über Verhandlungen und Vorschläge zum Nachteilsausgleich bis hin zu einer Art Coaching.

Meine systemische Grundüberzeugung und -erfahrung: Jedes „gute Gespräch mit dem Umfeld“ ist mindestens ebenso wertvoll wie eine „gute Stunde mit dem Kind“.

Die folgenden Aspekte überfordern vielleicht die Darstellung der „Therapieform Lerntherapie“. Gleichzeitig haben sie meines Erachtens für lerntherapeutische Praxis sowie für die Zukunft der Lerntherapie enorme Bedeutung. Mit dem Text sind „circa sechs bis acht Prozent der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen“ erfasst (Bender et al., S. 65; auf S. 67 ergibt sich eine größere Zahl) – was ist mit der noch weit größeren Zahl an Kindern, die schon jetzt im System Schule oder in den lerntherapeutischen Praxen gefördert werden?

Lerntherapie in Schule

(Wie) passt die „Therapieform zur Behandlung von Lernstörungen“ zu den vorhandenen Fördersystemen in Schulen? Qualitativ hochwertige Lernförderung, durchgeführt von Lerntherapeutinnen und -therapeuten, leistet an vielen Schulen schon jetzt einen erheblichen Beitrag zur Prävention von LRS und Dyskalkulie, so dass „behandlungswürdige Lernstörungen“ gar nicht erst auftreten oder zumindest erheblich reduziert werden. Gerade weil die Effektivität von Lerntherapie so groß ist, sollten sich sehr viele Bemühungen darauf richten, die Kompetenzen von Lerntherapeutinnen und -therapeuten in das System Schule zu integrieren, ohne sich auf die definierten Schülerinnen und Schüler mit LRS oder Dyskalkulie zu beschränken. Und auch in allen späteren Schulstufen und -formen bis hin in die berufsbildenden Schulen sowie in der Alphabetisierung stellen sich lerntherapeutische Kompetenzen als sehr wertvoll heraus.

Daraus ergibt sich die Frage, wie die präventiven und die anderen Vorteile von Lerntherapie in die Fördersysteme zu integrieren sind. Für Prävention liegt (noch) keine relevante Symptomatik vor, für Lerntherapie in höheren Klassen bietet die vorliegende Definition eben nur bei einer schwerwiegenden diagnostizierten Lernstörung einen Ansatz.

Realität der Lerntherapeutischen Praxen

Bundesweit wird der weitaus größere Teil der Lerntherapien in den Praxen von Eltern bezahlt, selbst wenn bei einigen Kinder und Jugendliche die Kriterien für die Eingliederungshilfe vorliegen würden. Die meisten Kinder und Jugendlichen mit Lerntherapiebedarf erfüllen diese ganz sicher nicht.

(Wie) kann es gelingen, für diese große Menge von Schülerinnen und Schüler in der Schule bzw. in den Praxen eine angemessene konzeptionelle Einbettung zu formulieren? Womöglich hilft es, wenn Lerntherapie in einen engeren Zusammenhang mit der bildungs- und sozialpolitischen Herausforderung Inklusion gebracht wird. In den dafür erforderlichen multiprofessionellen Teams können Lerntherapeutinnen und –therapeuten einen konstruktiven Beitrag leisten. Im Rahmen von Ganztagsbeschulung und Inklusion ist dann eine (auch finanzielle) Kooperation von Schule und Jugendhilfe möglich.

Literatur

  • Bender, F., Brandelik, K., Jeske, K., Lipka, M., Löffler, C., Mannhaupt, G. …… von Orloff, M. (2017). Die Integrative Lerntherapie. Therapieform zur Behandlung von Lernstörungen. Lernen und Lernstörungen, 6 (2), 65–73. LinkGoogle Scholar

Dr. Jochen Klein, KREISEL e.V. Institut für Weiterbildung und Familienentwicklung, Ehrenbergstr. 25, 22767 Hamburg, Deutschland,