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Free AccessPsychologie für die Gesellschaft

Die Psychologie der terroristischen Radikalisierung: Wie sich Menschen radikalisieren und Prävention gestaltet werden kann

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000440

Die Ideologien und Ziele terroristischer Vereinigungen könnten kaum unterschiedlicher sein. Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) mit insgesamt zehn, überwiegend türkischstämmigen Toten hatte ein eindeutig fremdenfeindliches Motiv und kann daher dem Rechtsextremismus zugeordnet werden. Zu linksterroristischen Vereinigungen zählt die Rote Armee Fraktion (RAF), der 33 Morde, vorwiegend an Führungspersonen aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung, zur Last gelegt werden. Zudem gibt es nationalistische oder separatistische Vereinigungen, wie die ETA in Spanien, die diverse politische Ideale anstreben. Weiter finden sich Gruppen mit nur einzelnen Anliegen wie dem Tierwohl (z. B. die „Animal Liberation Front“, Großbritannien) oder dem Kampf gegen Abtreibung (z. B. die „Army of God“, USA), die aber keiner umfassenden Ideologie folgen. Schließlich sind als fünfte Form radikaler Gruppierungen solche mit religiösen Motiven zu nennen, wie die momentan hoch präsente Terrorgruppe „IS“ (Doosje et al., 2016). Neben all ihren Unterschieden haben terroristische Vereinigungen gemeinsam, dass sie symbolische oder physische Gewalt, meist gegenüber der Zivilbevölkerung, anwenden, um ihre Ziele durchzusetzen. Doch was treibt Menschen dazu, die eigenen Ziele nicht mit friedlichen Mitteln wie Demonstrationen oder Petitionen zu verfolgen, sondern zu gewaltsamen Maßnahmen wie Bombenanschlägen oder Entführungen zu greifen?

Die Begriffe Radikalisierung und Terrorismus können entlang eines Kontinuums definiert werden, auf dem Radikalisierung den Weg zum Terrorismus darstellt und Terrorismus die Ausübung von Gewalt zur Erreichung ideologischer Ziele beschreibt. Terroristen durchlaufen somit in der Regel einen Prozess, der sie mehr und mehr zu extremen Mitteln treibt, wobei nicht jede Radikalisierung zwingend in Terrorismus münden muss und nicht jeder Terrorist zwingend radikalisiert wurde.

Radikalisierung kann unterschiedlich schnell stattfinden und verschiedene Phasen umfassen. Teilweise handelt es sich um einen jahrelangen Prozess, in anderen Fällen hingegen scheint er nur wenige Monate zu dauern. Eine „Blitzradikalisierung“, über die gelegentlich in populärwissenschaftlichen Medien berichtet wird, ist demgegenüber fast nie zu beobachten. Der Begriff Terrorismus wird allerdings nicht einheitlich verwendet, sondern steht vielmehr in einem zeitlichen und politischen Kontext: Häufig wird Terrorismus als politisch motiviertes Schlagwort verwendet, um das Handeln der Opposition zu diskreditieren.

Warum sich ein Mensch radikalisiert, ist noch nicht vollständig bekannt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema liefert jedoch zunehmend Hinweise. Als gesichert gilt, dass demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht und sozioökonomischer Status eine wichtige Rolle spielen. Meist sind es junge Männer aus niedrigeren sozialen Schichten, die sich radikalisieren – mit Ausnahme von linksterroristischen Vereinigungen, denen vermehrt Frauen und Personen aus höheren sozialen Schichten angehören. Ein spezifisches demographisches Profil allein kann die Entstehung von Radikalismus jedoch nicht erklären. Statt der Frage nach dem „Wer“, scheint die Frage nach dem „Wie“ zentral. Der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Forschung legt zwei zentrale Ursachenkomplexe für Radikalisierung nahe: Einerseits scheint eine mangelhafte Befriedigung wichtiger Grundbedürfnisse Menschen zu radikalen Ansichten zu treiben, andererseits bilden intensive Gruppenphänomene die Grundlage für radikale Ansichten. In einem letzten Schritt scheinen spezifische Katalysatoren die Begehung eines gewalttätigen Terrorakts voranzutreiben.

Individuelle Ursachen von Radikalisierung

Die Wahrnehmung, dass man selbst ungerecht behandelt wird, scheint die Basis für einen Radikalisierungsprozess darzustellen (Moghaddam, 2005). Zudem nimmt das Streben nach Kontrolle eine wichtige Rolle ein. Ereignisse im eigenen Leben erklären, vorhersagen und beeinflussen zu können, folglich Kontrolle zu haben, ist ein zentrales Motiv jedes Menschen. Die eigene Umwelt als unkontrollierbar zu erleben, wird hingegen als sehr unangenehm empfunden, und Menschen sind bestrebt, dieses Gefühl zu reduzieren. Der Anschluss an eine radikale Vereinigung bietet eine einfache Möglichkeit, eigene Unsicherheiten zu reduzieren (Hogg, 2007). Durch starke Strukturen, direkte Führung und Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen innerhalb solcher Gruppierungen entstehen klare Normen und Regeln und tragen so zu einer Reduzierung persönlicher Unsicherheiten bei. Der Salafist Pierre Vogel beispielsweise nutzt diesen Effekt in seinem bekannten YouTube-Video, in dem er nach eigener Angabe den Islam in 30 Sekunden erklärt und einfache Verhaltensregeln vorgibt, die einen Eintritt in das Paradies garantieren sollen. Der Wunsch respektiert zu werden und „jemand zu sein“, also eine wichtige Funktion im Leben zu haben, bildet eine weitere grundlegende Motivation für Radikalisierung (Kruglanski et al., 2014). Dass das Streben nach persönlicher Bedeutsamkeit ein zentrales Motiv Radikalisierter ist, zeigt sich beispielsweise am Fall des Salafisten Nils D. aus Dinslaken, der seinem offenbar ziellosen Leben durch den Anschluss an den IS einen vermeintlichen Sinn gab.

Gruppenbezogene Ursachen von Radikalisierung

Extremistische Ideen entstehen in den häufigsten Fällen aufgrund der bedingungslosen Unterstützung der eigenen Gruppe. Über 95 % aller terroristischen Anschläge werden in Gruppen geplant oder ausgeführt (Doosje et al., 2016). Schließt sich eine Einzelperson mit ausgeprägten politischen Ideologien einer extremistischen Gruppe an, geht die Radikalisierung meist rasanter von Statten, da korrigierende Einflüsse von politisch Andersdenkenden ausbleiben (McCauley & Moskalenko, 2008).

Menschen verfügen nicht nur über eine persönliche, sondern auch über eine soziale Identität, die aus der Zugehörigkeit zu Gruppen entsteht und ein wichtiger Teil des Selbstkonzepts ist. Der Anschluss an eine Gruppe mit radikalen Ideologien kann eine starke soziale Identität stiften. Infolgedessen können sich Gruppenphänomene wie Polarisierung, Vorurteile oder ein kollektives Ungerechtigkeitsempfinden schnell verbreiten. Ebenso können in diesem Zuge kollektive Umwertungen stattfinden, z. B. dahingehend, dass Gewalt im Sinne der Ideologie ethisch wertvoll sei. Ein zentrales Gruppenphänomen stellt die subjektive Wahrnehmung dar, dass die eigene Gruppe von anderen unterdrückt wird. Die hohe persönliche Relevanz dieser wahrgenommenen Gruppenbedrohung machte auch ein radikaler niederländischer Moslem deutlich: „Ich bin besorgt über die Unterdrückung der Muslime. Ich fühle mit meinen Glaubensbrüdern. Der Islam ist wie ein Körper, der Schmerz wird von allen Körperteilen gefühlt. Daher spüre ich den Schmerz der Muslime.“ (Buijs, Demant & Hamdy, 2006, S. 65).

Katalysatoren für den letzten Schritt der Radikalisierung

Selbst wenn sowohl individuelle als auch gruppenbezogene Ursachenkomplexe vorliegen, stellt die tatsächliche Ausübung von Gewalt in der Regel eine hohe moralische Hürde dar. Es ist davon auszugehen, dass meist psychologisches „Training“ notwendig ist, um diese Hürde in einem letzten Radikalisierungsschritt abzubauen (z. B. Moghaddam, 2005). Einen Katalysator stellt der Prozess der Dehumanisierung dar: Mitglieder anderer Gruppen werden ihre menschlichen Eigenschaften abgesprochen und somit außerhalb moralischer Werte verortet. Dies wiederum legitimiert scheinbar Gewalt gegen sie. Ein weiterer Katalysator sind Prozesse der Desensibilisierung: Emotionale und physiologische Reaktionen auf Gewalt werden durch die graduelle Ausübung von Gewalt reduziert. Auch dies scheint in der Ausbildung von IS-Rekruten Anwendung zu finden.

Letztendlich sollte für den gesamten Radikalisierungsprozess beachtet werden, dass zwar problematische Konstellationen im Sinne von Risikofaktoren identifizierbar sind, diese jedoch auch unspezifisch sind. Sie sind einzeln und in ihrer Kombination auch in anderen Kontexten, wie zum Beispiel im Krieg, vorzufinden und können somit auch andere Konsequenzen als Terrorismus nach sich ziehen. Weiter sollte bedacht werden, dass sich insbesondere in wirtschaftlich und politisch instabilen Ländern, wie beispielsweise in Teilen Afrikas oder im Nahen Osten, die Unterstützung terroristischer Vereinigungen oft durch finanzielle Anreize oder militärischen Zwang bedingt und weniger durch die hier beschriebenen Prozesse.

Prävention und Möglichkeiten der Deradikalisierung

Das Wissen über Wirkfaktoren im Prozess der Radikalisierung hilft zu verstehen, wie Gegenmaßnahmen effektiv gestaltet werden könnten. Dabei muss zwischen verschiedenen Präventionsformen unterschieden werden.

Die Primärprävention spricht keine spezielle Zielgruppe an, sondern richtet sich an alle Menschen einer Gesellschaft. Hierbei gilt es, den zuvor beschriebenen Ursachen entgegenzuwirken. In Ländern mit instabilen wirtschaftlichen und politischen Systemen liegen Präventionsansätze eher in der Förderung von friedlichen und armutsfreien Lebensumständen mit Zugang zu Bildungsmöglichkeiten. In wohlhabenderen und politisch stabileren Ländern können gesellschaftliche Faktoren zentral sein. Um die Bedürfnisse nach Kontrolle und persönlicher Bedeutsamkeit zu erfüllen, sollte möglichst allen Bürgerinnen und Bürgern die Teilhabe am Sozial- und Berufsleben ermöglicht werden. In Zeiten eines zunehmenden sozialen Gefälles ist dies nicht überall gegeben. Vielmehr entstehen gerade in großen Städten Gruppen von „gesellschaftlich abgehängten“ Personen, die unter hoher ökonomischer und psychologischer Unsicherheit leiden, sich schwertun, eine bedeutsame Rolle innerhalb der Gesellschaft einzunehmen und sich in der Folge in Parallelgesellschaften zurückziehen. Im Brüsseler Stadtviertel Molenbeek, das durch eine hohe Armut und ein geringes Bildungsniveau gekennzeichnet ist, entstanden so in der jüngeren Vergangenheit mehrere terroristische Zellen, die im November 2015 die Anschläge in Paris und im März 2016 die Anschläge auf den Brüsseler Flughafen sowie eine Metrostation verübten. Fokussiert man auf islamistischen Terror in westlichen Kulturen ist es zudem zentral, die Ausübung eines gemäßigten Islams zu unterstützen und stärker ins gesellschaftliche Zentrum zu rücken.

Sekundärprävention richtet sich gezielt an Risikozielgruppen, also Personen, bei denen befürchtet wird, sie könnten sich terroristischen Vereinigungen zuwenden. Schulen in sozialen Brennpunkten können hierbei eine zentrale Rolle einnehmen. Präventiv wird in Deutschland bereits über Informationsveranstaltungen für Schülerinnen und Schüler gearbeitet, in welchen Aussteiger aus terroristischen Vereinigungen über ihre Erfahrungen berichten (vgl. „Wegweiser“-Projekt in Nordrhein-Westfalen).

Die Tertiärprävention richtet sich an Personen, die sich schon radikalisiert haben – daher spricht man auch von Deradikalisierung. Professionelle Deradikalisierungsprogramme können den Weg von radikalen Ansichten zurück zu gemäßigten Positionen unterstützten und werden bereits in verschiedenen Bundesländern und auf Bundesebene angeboten. Solche Programme adaptieren ihre Strategien meist an den psychischen Notwendigkeiten der Radikalisierten. Bei Fans oder „einsamen Wölfen“, solchen Personen also, die sich noch keiner radikalen Gruppe angeschlossen haben, geht es eher um die Unterstützung individueller Bedürfnisse und Entwicklungen (z. B. durch Jobangebote), wodurch an den individuellen Ursachen von Radikalisierung angesetzt wird. Dagegen werden Radikalisierte in Gruppen eher durch neue, gemäßigte soziale Umwelten (z. B. neue religiöse Gruppierungen) unterstützt, um die gruppenbezogenen Ursachen von Radikalisierung auszuhebeln. Allerdings sind wissenschaftliche Evaluationsstudien über die Wirksamkeit dieser Programme selten und schwierig durchführbar, da die Stichproben sehr klein und schlecht zugänglich sind. Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis ist hierfür zukünftig erforderlich.

In vielen westlichen Gesellschaften steht Radikalisierung aktuell in starkem medialem Fokus und ist häufig mit hoher Angst besetzt. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass in diesen Gesellschaften Terroranschläge recht seltene Ereignisse und andere Todesrisiken im Vergleich deutlich prävalenter sind. Nichtsdestotrotz wird uns der Kampf gegen den Terrorismus noch lange begleiten und stellt Menschen weltweit vor eine große Herausforderung. Es existieren jedoch durchaus Möglichkeiten, mit denen der Prozess der Radikalisierung verhindert oder durchbrochen werden kann. Um diese Maßnahmen so effektiv wie möglich zu gestalten, ist eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft wünschenswert.

Literatur

Moritz Valentin Fischer, M. Sc., Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Sozialpsychologie, Leopoldstraße 13, 80802 München, E-Mail
PD Dr. Michaela Pfundmair, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Abteilung für Sozialpsychologie, Universitätsstraße 65 – 67, 9020 Klagenfurt, Österreich, E-Mail