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Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000676

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (www.aufarbeitungskommission.de) bezieht hiermit Stellung zum Positionspapier „Mokros, A. et al., Rituelle sexuelle Gewalt – Eine kritische Auseinandersetzung mit fragwürdigen empirischen Belegen für ein fragliches Phänomen“ (Mokros, 2024) in dieser Ausgabe.

Seit Beginn der Kommissionsarbeit im Jahr 2016 wurde in Anhörungen und schriftlichen Berichten von Betroffenen sexueller Kindesmissbrauch in organisierten rituellen Tatkontexten beschrieben. Der Anteil beträgt ca. 5 % der insgesamt eingegangenen Anhörungen bzw. Berichte zu sexuellem Kindesmissbrauch. Auch in einer Befragung von Kownatzki et al. 2012 unter ambulanten Psychotherapeut_innen mit Zulassung der gesetzlichen Krankenkasse gaben 5 % an, Behandlungserfahrung mit Betroffenen solcher Gewaltformen zu haben. Mangels wissenschaftlich publizierter Studien zu dem Thema in Deutschland beauftragte die Kommission ein Forschungsprojekt zur erstmaligen Untersuchung von Erfahrungen, psychischen Belastungen und speziellen Versorgungsbedarfen von Menschen, die von organisierter und ritueller Gewalt berichten. Ziel war es, der Forschung anonyme und pseudonymisierte Selbstberichte von Betroffenen zur Verfügung zu stellen, die systematisch ausgewertet wurden. Grundsätzlich war der Forschungsansatz partizipativ und die Betroffenen wurden als sogenannte Erfahrungsexpert_innen verstanden. Ziel war es ausdrücklich nicht, Prävalenzzahlen und Glaubhaftigkeit zu untersuchen oder empirische Belege für das Phänomen rituelle Gewalt zu schaffen. Die Forschung verstand sich als ein Beitrag zu beginnender akademischer Forschung in dem Themenbereich und wurde einem Peer-Review-Verfahren als gängigem Prinzip der Qualitätssicherung in der Wissenschaft unterzogen.

Die Berichte der Studienteilnehmer_innen werden von Mokros et al. als Folge von Suggestionen, Scheinerinnerungen und angeblichen Verschwörungstheorien eingeordnet. Der Vorwurf mangelnder Belege für sexuellen Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen ist jedoch nicht haltbar. Beispielsweise war das Thema erst vor zwei Jahren Gegenstand eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens (Landgericht Kleve, Urteil vom 30. 12. 2021, Aktenzeichen 170 KLs 7/21). Für die britische Polizeibehörde Metropolitan Police Service ist „child abuse linked to faith or belief“, einschließlich ritueller Gewaltformen, eine eigene Kategorie sexuellen Kindesmissbrauchs (Metropolitan Police Service, 2023). Eines der weltweit bekanntesten Beispiele für das Phänomen ist die ehemalige christliche Sekte Colonia Dignidad, mit der sich die Aufarbeitungskommission seit längerer Zeit beschäftigt (Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, 2020).

Es ist bisher nicht abschließend geklärt, in welchem Ausmaß Gedächtnisfunktionen durch biografisch frühe, langanhaltende, interpersonelle Gewalterfahrungen beeinträchtigt werden können. Jedoch gibt es durchaus Evidenz dafür, dass Betroffene Erinnerungen an erlittene sexualisierte Gewalt über einen längeren Zeitraum nicht aus dem autobiographischen Gedächtnis abrufen können (Williams, 1994). Darüber hinaus gibt es Evidenz für psychogene retrograde autobiographische Amnesien, denen die Funktion zugeschrieben wird, betroffene Personen vor Erinnerungen an für sie sehr belastende Lebensereignisse zu schützen (Staniloiu et al., 2018). In unseren Anhörungen berichten Betroffene immer wieder, dass dies über lange Zeiträume für sie psychisches Überleben ermöglicht hat. Zudem gibt es kaum Wissen darüber, welche psychologischen Manipulationstechniken von Täter_innen in Kontexten von organisierter und ritueller sexualisierter Gewalt und Ausbeutung angewendet bzw. gezielt eingesetzt werden. International berichten Betroffene von organisierter sexualisierter Gewalt teilweise von gewalttätigen Formen der Konditionierung, die mit psychischer Manipulation und Kontrolle bis weit ins Erwachsenenalter einhergeht. Diese Berichte sollten nicht ignoriert werden und bedürfen der weiteren Abklärung und Erforschung. Damit möglicherweise assoziierte spezifische psychische Symptome lassen sich aktuell nur erfassen und noch nicht umfassend bewerten. Auch die Frage, ob sich Erkenntnisse aus Forschungsexperimenten zu induzierten Scheinerinnerungen auf die Komplexität realer wiederholter sexualisierter Gewalt übertragen lassen, wird sehr kontrovers diskutiert (vgl. z. B. Andresen, 2023, S. 642). Unbestritten ist, dass Suggestion in einer Psychotherapie einen Behandlungsfehler darstellt. Neben der Suggestion von Scheinerinnerungen an nicht existente Gewalterfahrungen kann eine solche Beeinflussung jedoch auch in der fälschlicherweise erfolgenden Verleugnung von real stattgefundenen Gewalterfahrungen liegen. Wer ohne jeden haltbaren Beleg Behauptungen über die Häufigkeit des Vorkommens von durch Psychotherapeut_innen suggerierten Scheinerinnerungen an organisierte rituelle Gewalt aufstellt, trägt nicht zu einer sachlichen Debatte bei.

Die von Mokros et al. eröffnete Debatte und damit verbundene interdisziplinäre Konflikte lassen sich ohne Respekt vor der Pluralität erkenntnistheoretischer Ansätze und unterschiedlicher Forschungsmethodologien nicht konstruktiv auflösen. Das Positionspapier von Mokros et al. mit seiner unverhältnismäßig scharfen Kritik an explorativen Studien führt letztlich eine andere Debatte, nämlich die über die (Un–)‌Glaubhaftigkeit der Aussagen Betroffener von sexuellem Kindesmissbrauch. Die Kritik von Mokros et al. richtet sich zwar vordergründig auf das Forschungsprojekt, will aber letztlich ein bestimmtes Verständnis der Glaubhaftigkeitsbegutachtung durchsetzen, ohne dabei alternative Perspektiven zu respektieren. Die Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch will und darf jedoch einer „hegemonialen Beanspruchung von Deutung und Wahrheit“ (Andresen, 2023, S. 643) nicht folgen „und erhält ihre Legitimation auch aus der Vernetzung mit Betroffenen“ (S. 643). Eine polarisierte Debatte und pauschalisierte Diskreditierungen von Fachkräften der psychosozialen Praxis, von Forschenden, Forschungsmethoden und Betroffenen verhindern daher einen sachlichen Diskurs und wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Diese aktuelle Auseinandersetzung ist aus Sicht der Kommission ein Rückfall in die sogenannten „memory wars“ der 1990er-Jahre in den USA und in die Debatte um den „Missbrauch mit dem Missbrauch“ der 1990er-Jahre in Deutschland. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass das Ausmaß sexuellen Kindesmissbrauchs, einschließlich damit verbundener Tatkontexte, Risiken und Vulnerabilitäten, in der Vergangenheit immer wieder massiv unterschätzt, nicht aber überschätzt wurde.

Die Aufarbeitungskommission lädt die Vertreter_innen der am Thema beteiligten Fachverbände, ganz explizit die rechtspsychologischen Verbände, zu einem sachlichen Austausch ein, der wissenschaftlichen Standards folgt, auf diffamierende Kritik verzichtet, gegenseitigen Respekt gewährleistet und die Fehlbarkeit der eigenen Position anerkennt. Wie ein konstruktiver Umgang mit der Thematik aussehen kann, belegen mittlerweile sechs Stellungnahmen von 24 Fachverbänden aus dem Bereich der psychosozialen Arbeit und Psychotherapie; eine Zusammenfassung findet sich in der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS, 2023). In diesem konstruktiven Sinne hat u. a. auch der Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs dezidiert Stellung bezogen (Betroffenenrat bei der UBSKM, 2023). Die fachliche Diskussion braucht im Interesse der Unterstützung von Betroffenen sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend den konstruktiven und interdisziplinären Dialog, zu dem die Aufarbeitungskommission auch künftig beitragen wird.

Die in dem Positionspapier kritisierte Studie wurde durch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) gefördert. Die Kommission hat den hier abgedruckten Kommentar eingereicht; er wurde von den Herausgebern der PRU als Entgegnung aus dem von der Kritik adressierten Personenkreis akzeptiert. Die Projektleitung hat auf einen eigenen Kommentar verzichtet.

Literatur