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Free AccessEditorial

Bewegung in der frühen Kindheit

Published Online:https://doi.org/10.1026/2191-9186/a000420

Alarmierende Botschaften über die Zunahme übergewichtiger Kinder, Nachrichten über Besorgnis erregende motorische Defizite der heutigen Kindergeneration und Forderungen nach einer Funktionalisierung kindlichen Bewegens im Dienste der Optimierung von Bildungsprozessen und Gesundheitsförderung – solche Themen dominieren derzeit die wissenschaftlichen Diskurse um Bewegung in der frühen Kindheit. So dramatisierend und auch widersprüchlich die medialen Botschaften über den Bewegungsstatus von Kindern erscheinen mögen, sie geraten im Kontext steigender Inanspruchnahmequoten von Kindertagesbetreuung und hoher gesellschaftlicher Relevanz der frühen Bildung jedoch immer wieder in den Fokus der Frühpädagogik. Bewegung wird gegenwärtig in der Frühpädagogik ein großer Stellenwert zugeschrieben, wird in ihr doch eine Schlüsselfunktion im Sinne bildender, sozialer und gesundheitlicher Ressourcen in der kindlichen Entwicklung gesehen.

Für Bildungsprozesse in der frühen Kindheit können mit Franke (2018, S.270f.) in Anlehnung an Benner (2001) „Bildsamkeit und Selbsttätigkeit als konstitutive Prinzipien körperlicher Bewegungspraxen“ betrachtet werden. Dabei geht es um die Potenzialität des Körpers bzw. des Leibes in kindlichen Bildungsprozessen. Bewegung gilt als Medium der Gestaltung von Mensch-Welt-Verhältnissen.

In der Diskussion um Qualität in der Frühpädagogik wird Bewegung daher inzwischen als eine etablierte Bildungsdimension anerkannt. Dies dokumentiert sich u.a. im gemeinsamen Rahmenplan der Länder für die frühe Bildung in Kitas, in dem „Körper, Bewegung, Gesundheit“ einen Bildungsbereich darstellt (Jugendministerkonferenz, 2004). Auch in der akademischen Ausbildung von Kindheitspädagog_innen stellen Bewegungsbildung und -pädagogik einen integralen curricularen Bestandteil dar (vgl. Robert Bosch Stiftung, 2008). Und nicht zuletzt zeigt sich die wachsende Anerkennung des Themas Bewegung im multidisziplinären frühpädagogischen Feld (vgl. Mischo, 2017), in dem auch die Bewegungs- und Sportwissenschaften vertreten sind (vgl. Voss, 2019, S.7).

Von besonderem wissenschaftlichen Interesse sind mit Blick auf frühkindliche Erziehungs- und Bildungsprozesse derzeit sowohl interaktionale Bewegungspraxen zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern als auch die sozialisatorischen Wirkungen der Peers oder der familiären Milieus sowie Einflüsse der strukturellen Rahmenbedingungen auf Bewegungsmöglichkeiten und -aktivitäten von pädagogischen Fachkräften und Kindern in Kitas. Dennoch mangelt es oftmals an einer wissenschaftlichen Begleitung und an Ergebnissen zur Wirksamkeit bzw. Wirkung bewegungsfördernder Maßnahmen, wie sie inzwischen in zahlreichen Projekten und Programmen im Bereich der frühkindlichen Bewegungserziehung und -förderung erprobt werden. Bislang liegen „nur vereinzelte Studien über die frühkindliche Bewegungsentwicklung, wenige empirische Untersuchungen über lebensweltliche Bedingungen frühkindlicher Bewegungserfahrungen oder am Kind und seiner Perspektive ansetzende Forschung“ vor, wie im Positionspapier „Frühe Kindheit und Bewegung“ der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (2015) konstatiert wird. Zudem fehlen grundlegende Daten über die bewegungspädagogische Qualität in frühpädagogischen Arbeitsfeldern der Frühen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) sowie zur integrativen bzw. inklusiven Funktion von Sport und dessen gesellschaftspolitischer Verantwortung mit Blick auf Teilhabechancen von Kindern in den ersten Lebensjahren. Die empirisch fundierte bewegungs- und sportwissenschaftliche Forschung zur frühen Kindheit steht bislang noch in den Kinderschuhen und ihre Studien sind noch weitestgehend unverbunden. Der gleichermaßen unsystematische wie interessante Stand der Forschung spiegelt sich auch in den Beiträgen dieses Themenschwerpunktes wider:

Der erste Beitrag wirft einen funktionalen Blick auf Körper und Bewegung und widmet sich der motorischen Entwicklung von Kindern: Eva Michel, Sabine Molitor, Natascha Fahmer und Wolfgang Schneider fokussieren Kinder mit motorischen Auffälligkeiten. Die Autor_innen fragen nach der Relevanz von Einschätzungen des motorischen Entwicklungsstandes von Kindergartenkindern durch Eltern und pädagogische Fachkräfte für eine Prognose des motorischen Entwicklungsstands der Kinder in der Grundschule. Neben der Erhebung potentieller Prädiktoren wie z.B. Alter, Lokomotionsentwicklung, Body-Mass-Index und dem sozioökonomischen Status absolvieren die untersuchten fünf- und sechsjährigen Kinder längsschnittlich motorische und kognitive Tests. Daneben wird die motorische Entwicklung zu unterschiedlichen Messzeitpunkten durch Eltern und Fachkräfte beurteilt. Die Ergebnisse verdeutlichen Chancen und Grenzen früher Screenings und insbesondere den Nutzen eines sehr ökonomischen Kurzscreenings durch pädagogische Fachkräfte.

Jan Erhorn, Karoline Axt und Björn Brandes beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem Ansatz einer Sprachförderung mit Bewegung. Auf der Grundlage einer videografischen Studie werden die sprachanregenden und sprachförderlichen Interaktionen zwischen Kind und sprachfähiger Bezugsperson im Rahmen eines offenen Bewegungsangebots für drei- bis sechsjährige Kinder mit Deutsch als Zweitsprache rekonstruiert. Die spezifische Handlungsstruktur einer Sprachförderung mit Bewegung wird mit Hilfe von zwei Fallbeispielen illustriert und in ein Modell überführt, das die Herstellung und Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Handlungszusammenhanges und den Einsatz von sprachförderlichen und -unterstützenden Aktivitäten in der Interaktion in einen Zusammenhang bringt.

Bastian Walther und Iris Nentwig-Gesemann wenden sich der Frage zu, welche Bewegungserfahrungen und -praktiken aus der Perspektive vier- bis sechsjähriger Kita-Kinder mit einer besonders intensiven und von ihnen angestrebten Erfahrungsqualität verbunden sind. Ausgehend von einem soziologischen Bewegungskonzept und einem praxeologischen Forschungsansatz werden freie, also von Erwachsenen weder initiierte noch pädagogisch begleitete, soziale Bewegungspraktiken von Kindern rekonstruiert. In dieser innovativen Erforschung und Entwicklung von ‚Qualitätsstandards‘ aus Kindersicht zeigt sich die Bedeutung von Bewegungsräumen für Kinder, in denen sie sich gemeinschaftlich in spontane, aktionistische Bewegungspraktiken hineinspielen, sich der Bewältigung von anstrengenden und herausfordernden Aufgaben widmen, Risiken erproben und Räume mithilfe einer Vielfalt von Bewegungsmodi mit dem ganzen Körper erfahren und erkunden können.

Maria Schumann, Elvira Mauz und Anja Voss befragen in ihrem Beitrag Kindertageseinrichtungen auf ihre bewegungsförderlichen Potentiale für pädagogische Fachkräfte. Konkret widmen sie sich der Frage nach dem Wechselverhältnis von körperlicher Aktivität bzw. Bewegung und der Arbeitsfähigkeit von pädagogischen Fachkräften am Arbeitsplatz Kita. Den methodischen Zugang bildet eine repräsentative standardisierte schriftliche Befragung von pädagogischen Fach- und Leitungskräften in nordrhein-westfälischen Kindertageseinrichtungen. Die Ergebnisse münden in Ansatzpunkte für eine bewegungsfreundliche und -förderliche Gestaltung des Arbeitsplatzes Kita als wesentlichen Bestandteil eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements.

Literatur

Anja Voss, Iris Nentwig-Gesemann, ,