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Free AccessOriginalarbeit

Interprofessionelle Zusammenarbeit von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen in der Primärversorgung

Eine qualitative Studie

Published Online:https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000942

Abstract

Zusammenfassung.Hintergrund: Es bedarf einer Stärkung der interprofessionellen Zusammenarbeit von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen in der Primärversorgung von Menschen mit chronischen Krankheiten und Pflegebedarf. Ziel: Mit dieser Studie wurde untersucht, a) wie Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen ihre Zusammenarbeit in der Primärversorgung wahrnehmen und b) welche Entwicklungsperspektiven der Zusammenarbeit aus ihrer Sicht existieren. Methoden: Es wurden Expert_inneninterviews mit sieben Hausärzt_innen und acht Pflegefachpersonen der ambulanten Pflege durchgeführt und mittels der inhaltlich strukturierten, qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Ergebnisse: Die Befragten beider Berufsgruppen berichten, dass ihre Zusammenarbeit durch eine schlechte gegenseitige Erreichbarkeit behindert ist. Sie betonen zugleich ihre Wertschätzung gegenüber dem fachlichen Austausch mit der anderen Berufsgruppe. Gleichwohl differieren die Wahrnehmungen zur Fachkompetenz der Pflegefachpersonen. Zur Verbesserung ihrer Zusammenarbeit empfehlen die Befragten die Etablierung interprofessioneller Besprechungen und eine Zusammenarbeit in räumlicher Nähe für den regelmäßigen fachlichen Austausch. Sie versprechen sich davon einen gemeinsamen Vertrauens- und Kompetenzaufbau und die Erweiterung des Verantwortungsbereichs von Pflegefachpersonen in der Primärversorgung. Schlussfolgerungen: Verbindliche Kommunikationsstrukturen, die Zusammenarbeit in räumlicher Nähe und Erweiterung des Verantwortungsbereichs von Pflegefachpersonen bieten hohes Potential für die Stärkung der Primärversorgung in Deutschland.

Interprofessional collaboration of general practitioners and nurses in primary care: A qualitative study

Abstract.Background: There is a need to strengthen interprofessional collaboration of general practitioners and home care nurses in the primary care of people with chronic diseases and long-term care needs. Aim: This study investigated a) how general practitioners and nurses in Germany perceive their collaboration in primary care and b) which development perspectives of collaboration exist from their point of view. Methods: Expert interviews were conducted with seven general practitioners and eight home care nurses. The data were analysed using thematic-structured qualitative content analysis. Results: The interviewees from both professional groups report that their collaboration is hindered by poor mutual accessibility. At the same time, they emphasise their appreciation of the professional exchange with the other professional group. Nevertheless, the perceptions of the professional competence of home care nurses differ. To improve their cooperation, the interviewees recommend the establishment of interprofessional meetings and cooperation in spatial proximity for regular professional exchange. They expect this to lead to a joint development of trust and competence and to an expansion of the area of responsibility of home care nurses in primary care. Conclusions: Binding communication structures, cooperation in spatial proximity and an expansion of the area of responsibility of home care nurses offer high potential for strengthening primary care in Germany.

Was ist zu dieser Thematik schon bekannt?

Die Zusammenarbeit von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen ist von Kommunikationsmustern geprägt, die einer Teamarbeit entgegenstehen.

Welchen Erkenntniszugewinn leistet die Studie?

Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen beschreiben gemeinsam geteilte Vorstellungen zur Stärkung ihrer interprofessionellen Zusammenarbeit.

Einleitung

Für eine bedarfsgerechte Versorgung von Menschen mit chronischen Krankheiten und Pflegebedarf sind in der Primärversorgung aufeinander abgestimmte Gesundheitsleistungen von Hausärzt_innen, Pflegefachpersonen, Physiotherapeut_innen, Pharmazeut_innen, Sozialarbeiter_innen und weiteren Berufsgruppen notwendig (EXPH, 2014; Samuelson et al., 2012). In Deutschland tragen 63.049 Hausärzt_innen und 185.440 Pflegefachpersonen in ambulanten Pflegediensten die medizinische und pflegerische Primärversorgung (Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2021; Statistisches Bundesamt, 2020). Allerdings stellt sich ihre Koordination, Kommunikation und Kooperation herausfordernd dar. Gemeinsame Besprechungen über die Patient_innenversorgung bilden eher die Ausnahme (vgl. van den Bussche et al., 2013). Häufig ist die Zusammenarbeit von einem ineffizienten und unzureichenden Informationstransfer, einem Mangel an Gesprächskultur und kooperativen Absprachen sowie schlechter Erreichbarkeit der anderen Berufsgruppe geprägt (Block et al., 2012). Pflegefachpersonen nehmen eine fehlende Wertschätzung seitens der Hausärzt_innen und Hierarchiedenken wahr (Drewelow et al., 2022).

Zugleich sind Allgemeinmedizin und Pflege von einem Fachkräftemangel betroffen, der insbesondere die Sicherstellung der Versorgung im ländlichen Raum gefährdet (Hämel & Schaeffer, 2013; Schaeffer & Hämel, 2020). Vor diesem Hintergrund werden vermehrt kooperative Versorgungsmodelle in der Primärversorgung, wie beispielsweise integrierte Gesundheitszentren, gefordert und in die Praxis umgesetzt (Schaeffer & Hämel, 2020; van den Bussche, 2019). Für deren Gelingen ist die Stärkung der interprofessionellen Zusammenarbeit beider Berufsgruppen von hoher Bedeutung (Mulvale et al., 2016). Diese kann zu einer höheren Versorgungsqualität führen (Carron et al., 2021) und den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Patient_innen verbessern (Loussouarn et al., 2021).

Primärversorgung zeichnet sich, als erste Anlaufstelle für Patient_innen in das Gesundheitssystem, durch universell zugängliche, integrierte und personenzentrierte, umfassende Gesundheitsleistungen aus, die durch ein Team unterschiedlicher Professionen erbracht werden (EXPH, 2014). Während Bemühungen zur Stärkung der Primärversorgung in Deutschland zunächst auf die Einführung von Versorgungsassistent_innen in der Hausarztpraxis (VERAHs) und ähnliche Assistenzen fokussierten (Gisbert Miralles et al., 2020), werden mittlerweile auch Ansätze zur Stärkung der interprofessionellen Zusammenarbeit mit Pflegefachpersonen erprobt, wie die Übertragung ärztlicher Aufgaben, der Einsatz digitaler Kommunikationstechnologien und die Einführung neuer pflegerischer Rollen (z.B. Community Health Nurses – CHNs) (Bundesministerium für Gesundheit, 2021). Allerdings stehen in Deutschland eine kaum voranschreitende Akademisierung der Pflegepraxis und eine hürdenreiche Entwicklung von Rollen für Pflegefachpersonen in der Primärversorgung dem Ausbau interprofessioneller Primärversorgungsansätze entgegen (Herrmann & Hämel, 2019; Meng et al., 2022).

Als förderlich für eine verbesserte interprofessionelle Zusammenarbeit von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen gelten klar definierte Rollen und geteilte Verantwortlichkeiten. Ebenso förderlich sind Erleichterungen des Informationsflusses durch beispielsweise regelmäßige Treffen, offene Kommunikationskanäle und den Einsatz digitaler Technologien (McInnes et al., 2015). Allerdings schränken tradierte Rollenkonzepte, rechtliche Rahmenbedingungen und Vergütungsregelungen die Umsetzung dieser Maßnahmen ein (Drewelow et al., 2022; Rawlinson et al., 2021). Studien deuten jedoch auch darauf hin, dass Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen unabhängig vom organisatorischen oder politischen Kontext, individuelle Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer Zusammenarbeit entwickeln (Mulvale et al., 2016). Hierfür bedarf es bestimmter Voraussetzungen, wie ein persönliches Interesse und Kenntnisse über die Fähigkeiten der anderen Profession (Sangaleti et al., 2017; Supper et al., 2015).

Ziele

Angesichts wachsender Bemühungen um eine abgestimmte und ineinandergreifende, medizinische und pflegerische Primärversorgung in Deutschland, ist es notwendig, Sichtweisen, Handlungsweisen und Interpretationen der beteiligten Berufsgruppen zu eruieren. Ziel unserer Studie war es herauszufinden, a) wie Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen ihre Zusammenarbeit in der Primärversorgung wahrnehmen und b) welche Entwicklungsperspektiven der Zusammenarbeit aus ihrer Sicht existieren.

Methode

Aufgrund unseres Forschungsinteresses am exklusiven, berufsbezogenen Wissen von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen wählten wir ein qualitatives Forschungsdesign und führten Expert_inneninterviews mit Personen beider Berufsgruppen durch (Meuser & Nagel, 2009). Die Datenauswertung erfolgte in Anlehnung an die inhaltlich strukturierte, qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018).

Sampling und Feldzugang

Die Expert_innenauswahl erfolgte mittels einer Vorab-Festlegung der Samplestruktur. Ziel war eine möglichst gleichmäßige Beteiligung von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen, auch um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Gruppen analysieren zu können (Flick, 2018). Darüber hinaus sollten Personen unterschiedlichen Geschlechts und aus städtischen und ländlichen Regionen interviewt werden. Aus forschungspragmatischen Gründen wurde die Rekrutierung auf zwei Regionen in Deutschland – Westfalen und Südniedersachsen – begrenzt. Eingeschlossen wurden Studienteilnehmer_innen, die a) zum Zeitpunkt der Datenerhebung als Fachärzt_innen in einer Hausarztpraxis oder als Angehörige eines bundesrechtlich geregelten Pflegeberufs gemäß Pflegeberufegesetz in einem ambulanten Pflegedienst tätig waren, b) über eine mindestens einjährige Berufserfahrung in ihrer Institution verfügten und c) im regelmäßigen Kontakt zur jeweils anderen Profession standen. Um Einblicke in die Regelversorgung zu bekommen, wurden Personen ausgeschlossen, die in Modellprojekten zur Weiterentwicklung der interprofessionellen Zusammenarbeit oder der Implementation von Advanced Practice Nursing Rollen in der Primärversorgung tätig waren. Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen wurden über persönliche Kontakte und Gatekeeper_innen (Vertreter_innen von Hausarztverbänden, Pflegedienstleitungen) mittels einer Kurzinformation zur Studie kontaktiert.

Datenerhebung

Im Zeitraum von November 2020 bis April 2021 wurden Interviews mit sieben Hausärzt_innen (sechs Fachärzt_innen für Allgemeinmedizin, eine Fachärztin für Innere Medizin) und acht Pflegefachpersonen (eine Altenpflegerin, sieben Gesundheits- und Krankenpfleger_innen, davon zwei mit einer Weiterbildung zur Pflegedienstleitung) durchgeführt (siehe Tab. 1). Die Interviews erfolgten persönlich, telefonisch oder via Zoom und dauerten durchschnittlich 50 Minuten (Spannweite: 28–88). Der Leitfaden kam bei beiden Berufsgruppen gleichermaßen zur Anwendung. Er bestand aus offenen Fragen, die auf das Betriebs- und Kontextwissen der Expert_innen (Meuser & Nagel, 2009) zu a) bestehenden Strukturen der Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen der ambulanten Pflege und b) möglichen neuen Formen der Arbeitsteilung und Zusammenarbeit zielten. Die Befragten wurden gebeten, ihre Erfahrungen und Sichtweisen anhand von konkreten Situationen und Beispielen zu schildern, um Erzählungen aus dem Arbeitsalltag anzuregen.

Tabelle 1 Merkmale der Interviewpartner_innen

Datenauswertung und Reflexivität

Die Interviews wurden unter Beachtung der von Kuckartz (2018) formulierten Transkriptionsregeln vollständig transkribiert. Die anonymisierten Transkripte wurden mithilfe der Software MAXQDA 2020 (VERBI) in einem zweistufigen Verfahren der Kategorienbildung und Codierung ausgewertet. Die erste Codierung erfolgte mit den aus unseren Forschungsfragen, deduktiv hergeleiteten Hauptkategorien „Sichtweisen auf die aktuelle Zusammenarbeit“ und „Vorstellungen zur Stärkung der Zusammenarbeit“. Im zweiten Kodierungsprozess wurden für jede Hauptkategorie induktiv Subkategorien entwickelt. Zur Erhöhung der internen Studiengüte (Kuckartz, 2018) wurde die Subkategorienbildung mehrfach im Team von Erst- und Letztautor_in diskutiert und revidiert, bis Konsens erzielt wurde. Anschließend wurden professionsspezifische, thematische Zusammenfassungen für alle Subkategorien erstellt, die als Ausgangspunkt für Gegenüberstellungen und die weitere Analyse dienten (Kuckartz, 2018). In einem Seminar mit Masterstudierenden der Gesundheitswissenschaften wurden (Zwischen-)Ergebnisse präsentiert und diskutiert. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Qualifikationen und Erfahrungen der Studierenden (z.B. Pflegefachpersonen mit Berufserfahrung in der ambulanten Pflege) erfolgte kontinuierlich eine kritische Hinterfragung der Vorannahmen und Interpretationen der Ergebnisse dieser Studie. Auf diese Weise konnte eine hohe Reflexivität erreicht werden. Im Autor_innenteam, an dem sich sechs Masterstudierende sowie die beiden Dozent_innen (Erst-/Letztautor_in) des Seminars beteiligten, wurden die Ergebnisse schließlich konsentiert.

Ethische Anforderungen

Die Befragten wurden im Vorfeld des Interviews mittels einer Teilnehmerinformation über die Studie und den Interviewablauf informiert. Sie bekamen ausreichend Bedenkzeit sowie die Möglichkeit, offene Fragen zu klären. Unter Zusicherung von Freiwilligkeit und Anonymität bzw. Vertraulichkeit erklärten die Interviewpartner_innen schriftlich ihre Teilnahmebereitschaft. Ein positives Ethikvotum zur vorliegenden Studie erteilte die Ethik-Kommission der Universität Bielefeld (Nr. 2020–182).

Ergebnisse

Im Folgenden werden die Ergebnisse anhand des Kategoriensystems dargelegt (siehe Tab. 2). Dabei werden in den einzelnen Abschnitten zunächst die von den befragten Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen gemeinsam geteilten Sichtweisen dargestellt und dann, falls erforderlich, ergänzende oder unterschiedliche professionsspezifische Auffassungen dargelegt. Zitate der Hausärzt_innen sind mit einem „H“, die der Pflegefachpersonen mit einem „P“ gekennzeichnet.

Tabelle 2 Kategoriensystem

Sichtweisen auf die aktuelle Zusammenarbeit

Die Befragten berichten über ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit auf Basis eines nahezu täglichen Kontakts zwischen Hausarztpraxis und ambulantem Pflegedienst. Die Kontaktaufnahme gehe hier überwiegend von den Pflegefachpersonen aus. Diese treten an Hausärzt_innen heran, wenn sie eine (schleichende) Verschlechterung des Allgemeinzustandes bei Patient_innen wahrnehmen oder akute Gesundheitsprobleme auftreten, die aus ihrer Sicht medizinisch abgeklärt werden müssen. Hinzu kommen routinemäßige Kontaktaufnahmen zu Anforderungen von Verordnungen über häusliche Krankenpflege, Medikamentenplänen und Rezepten. Primärer Anlass der Kontaktaufnahme der Hausärzt_innen zu ambulanten Pflegediensten sind wiederum Erstverordnungen oder Anpassungen von Verordnungen und Medikamentenplänen nach Patient_innenkonsultationen. Die Pflegefachpersonen kritisieren, dass sie üblicherweise nicht vergütete Mehrarbeit leisten, wenn sie beispielsweise Folgeverordnungen vorbereiten und Medikamentenpläne auf Fehler prüfen: „im Prinzip machen wir die Arbeit der Hausärzte [P7]“.

Schlechte Erreichbarkeit der anderen Berufsgruppe

Die Befragten beider Berufsgruppen beklagen, dass sie sich gegenseitig nur schlecht erreichen können. Oftmals laufe daher der patient_innenbezogene Informationsaustausch zwischen ihnen über Mitteilungen an die Patient_innen und Angehörigen. Die Befragten sind sich bewusst, dass über diesen Weg teilweise unvollständige Informationen weitergeleitet, aber auch Missverständnisse entstehen können, beispielsweise „wenn die Pflegekraft dem Patienten sagt, was ich [als Hausarzt] verordnen soll“ [H4]. Missverständnisse sind aus Sicht der Befragten auch darauf zurückzuführen, dass Hausärzt_innen immer weniger Hausbesuche durchführen, bei denen ein gemeinsames Treffen erfolgen könnte: „die Ärzte machen definitiv zu wenig Hausbesuche“ [P6].

Wertschätzung des fachlichen Austauschs

Alle Befragten geben an, sowohl über sehr gute als auch über ausgesprochen schlechte Kooperationsbeziehungen zur anderen Berufsgruppe zu verfügen, wobei die eher positiven Erfahrungen überwiegen. Sie schätzen die Zusammenarbeit insbesondere dann, wenn diese auch von einem regelmäßigen fachlichen Austausch und einer vertrauensvollen Kommunikation begleitet ist. Für die Pflegefachpersonen ist es wichtig, dass Hausärzt_innen die Therapievorschläge von Pflegefachpersonen bei der weiteren Versorgungsplanung berücksichtigen, allerdings „muss manchmal viel Überzeugungsarbeit geleistet werden“ [P1]. Für die Hausärzt_innen ist die fachliche Expertise der Pflegefachpersonen von zentraler Bedeutung für eine gute Kooperationsbeziehung: „Ich möchte da nicht nur einen Dienstleister haben, sondern ich möchte jemand mit Kompetenz haben“ [H6].

Unterschiedliche Wahrnehmungen zur Fachkompetenz von Pflegefachpersonen

Insgesamt werden unterschiedliche Wahrnehmungen zur Fachkompetenz der Pflegefachpersonen deutlich. Für die befragten Hausärzt_innen ist die gewünschte Umsetzung einer vertrauensvollen und teambasierten Zusammenarbeit erschwert, da sie bei einigen Pflegefachpersonen einen Mangel an Fachkompetenz wahrnehmen. Teilweise fehle es den Pflegefachpersonen an Grundwissen über bestimmte Krankheiten und es werde keine Verantwortung für Patient_innen übernommen: „nur ausführen und sagen, das sind Entscheidungen, die darf ich [als Pflegefachperson] nicht treffen und dann beschäftige ich mich auch gar nicht damit“ [H5]. Die Hausärzt_innen beobachten häufig auch ein geringes Vertrauen der Pflegefachpersonen in ihre eigene Expertise: „Ich finde auch so die Kompetenz der Pflege, die macht sich auch zu klein“ [H6]. Die Hausärzt_innen machen das daran fest, dass Pflegefachpersonen oft mit Kleinigkeiten an sie herantreten, die sie mit pflegerischer Kompetenz selbst lösen könnten: „Ich weiß ja, dass in der Pflege viel gelernt wird, das sind ausgebildete Kräfte, die aber ihre ganze Kompetenz immer nur abgeben“ [H4]. Davon auszunehmen sind aus Sicht der Hausärzt_innen allerdings Pflegefachpersonen, die über Spezialisierungen verfügen, insbesondere im Bereich der Wundversorgung und Palliativversorgung: „das sind die einzigen Pflegekräfte, von denen man Rückmeldung kriegt und auch mit denen spricht – das sind wirklich Partner, mit denen man zusammenarbeiten kann“ [H4].

Die befragten Pflegefachpersonen hingegen betrachteten sich selbst als fachkompetent – sie nehmen allerdings eine fehlende Anerkennung pflegerischer Expertise seitens einzelner Hausärzt_innen wahr. Sie bedauern dies und die aus ihrer Sicht damit einhergehende mangelnde Bereitschaft der Hausärzt_innen zur Zusammenarbeit. Die Pflegefachpersonen kritisieren, dass ihre Expertise seitens der Hausärzt_innen unberücksichtigt bleibe: „man macht als Pflegekraft Vorschläge und wird einfach nur belächelt“ [P8]. Ähnlich verweist ein Teil der befragten Hausärzt_innen auf eine teilweise mangelnde Kooperationsbereitschaft ihres Berufsstands: „ich sehe sicherlich einige Kollegen, die sich ungern von Pflegefachpersonal was sagen lassen“ [H2].

Eine Ausnahme stellt die Wundversorgung dar, denn auf diesem Gebiet bescheinigen alle Befragten den Pflegefachpersonen eine gegenüber den Hausärzt_innen höhere Expertise: „die Pflegeperson, die den ganzen Tag Wunden versorgt, die weiß natürlich viel besser was zu tun ist“ [H4].

Vorstellungen zur Stärkung der Zusammenarbeit

Die Zusammenarbeit von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen erachten alle Befragten als deutlich verbesserungswürdig: „die [Zusammenarbeit] ist nicht kategorisch hoffnungslos oder nicht zielführend, denn es funktioniert ja irgendwie, aber es könnte wesentlich besser sein und wesentlich effizienter“ [P7]. Laut den Befragten fehlt ein regelmäßiger Austausch über die aktuelle Situation der Patient_innen und (pflegenden) Angehörigen, was dazu führen kann, dass nicht frühzeitig genug auf deren Bedürfnisse und Veränderungen eingegangen wird und in der Konsequenz die Versorgungsqualität leide.

Regelmäßige interprofessionelle Besprechungen

Gefragt nach möglichen Wegen zur Verbesserung ihrer Zusammenarbeit kommen alle Befragten auf Potentiale eines regelhaften Rahmens für den gemeinsamen Austausch zu sprechen. So wären aus Sicht aller Befragten fest verankerte, interprofessionelle Besprechungen zielführend. Diese könnten per Telefon oder Video durchgeführt und müssten zudem entsprechend vergütet werden: „wenn es nicht bezahlt wird, wird es zu 99,9% nicht gemacht“ [H5]. In diesen Besprechungen können die aktuelle Situation und Probleme der Patient_innen sowie deren weitere Versorgung besprochen werden: „dass man wirklich miteinander arbeitet und sich gegenseitig austauscht“ [P8]. Hinsichtlich des Umfangs empfehlen die Hausärzt_innen halbstündige Besprechungen, die monatlich oder einmal im Quartal pro Pflegedienst stattfinden, die Pflegefachpersonen wünschen sich demgegenüber einen wöchentlichen bis monatlichen Austausch.

Zusammenarbeit in räumlicher Nähe

Als weitere sinnvolle Maßnahme führen einige Befragte aus beiden Berufsgruppen die Zusammenarbeit „unter einem Dach“ an. Sie verstehen darunter gemeinsame Organisationsstrukturen, die ihnen einen kontinuierlichen und detaillierten Informationsaustausch, reduzierten administrativen Arbeitsaufwand sowie ein insgesamt effizienteres Arbeiten bieten sollen. Ihrer Einschätzung nach würde dies zweifellos auch zu einer verbesserten Patient_innenversorgung führen: „je besser die Kommunikation und Kooperation ist, umso mehr profitieren natürlich auch die Patienten“ [H7]. Die engere Zusammenarbeit kann laut den Hausärzt_innen über die Anstellung von Pflegefachpersonen in Hausarztpraxen erfolgen, die dann ähnliche Aufgaben wie VERAHs durchführen. Ein Hausarzt sieht dies allerdings kritisch, da Pflegefachpersonen dann kaum originär pflegerische Tätigkeiten durchführen würden: „weil in der Praxis eben nicht nur Pflege ist, sondern wir haben eine ganz andere Versorgung: viel Verwaltung, organisatorische Sachen, Impfen, EKGs schreiben“ [H4]. Auch ein Teil der befragten Pflegefachpersonen stellt hierzu Überlegungen an. Aus ihrer Sicht sollten Pflegefachpersonen keineswegs ersatzweise für VERAHs tätig werden, sondern genuin pflegerische Aufgaben wahrnehmen können. Um dies zu gewährleisten, wäre eine engere Zusammenarbeit von ambulanten Pflegediensten unter einem Dach mit Hausärzt_innen in Gemeinschaftspraxen oder in lokalen Versorgungszentren sinnvoll: „das ist absolut ein Traum (…) ein Ärztehaus, wo man irgendwo auch den Bereich der ambulanten Pflege hätte“ [P7].

Gemeinsamer Vertrauens- und Kompetenzausbau

Aus Sicht aller Befragten würde eine vermehrte direkte Zusammenarbeit zwischen Medizin und Pflege den gemeinsamen Vertrauens- und Kompetenzaufbau unterstützen. Für die Befragten erscheint es wesentlich, die Arbeitsweisen, -strukturen und -bedingungen der anderen Berufsgruppe zu kennen, damit dies gelingen kann: „Grundsätzlich ist es so, dass man lernen muss, was es bedeutet, was Pflegekräfte machen“ [H1]. Dies kann auch Missverständnisse ausräumen: „die andere Seite, die eigentlich keine andere Seite sein sollte, näher kennenzulernen und dann zu sagen: so, lass uns zusammenarbeiten, keiner nimmt dem anderen irgendwas weg“ [H5]. Der kontinuierliche Kompetenzausbau beider Berufsgruppen sollte durch gemeinsame Fortbildungen erfolgen: „dass man bei Schulungen auch die Pflegekräfte hinzuzieht“ [P8].

Erweiterung des Verantwortungsbereichs von Pflegefachpersonen

Die Befragten versprechen sich von einem erweiterten Aufgabenprofil von Pflegefachpersonen einen Gewinn für beide Seiten. Wichtig wäre es hier aber auch, dass die Pflegefachpersonen dann mehr Verantwortung in der Versorgung übernehmen (können), was nur auf Basis einer gemeinsamen Vertrauensbeziehung gelingen kann: „mehr Verantwortung [für Pflegefachpersonen], aber dann muss man auch enger zusammenrücken“ [H7]. So könnten Pflegefachpersonen eigenständig Bedarfsmedikation verabreichen und sich eigenverantwortlich für das Wundmanagement zeigen: „wenn die [Pflegefachpersonen] die Wundversorgung übernehmen mit der gesamten Budgetkompetenz und allem, das wäre doch bestens“ [H4]. Da die Pflegefachpersonen regelmäßig in der Häuslichkeit der Patient_innen sind, könnten sie zudem vermehrt Voruntersuchungen und Blutentnahmen vor Ort durchführen und damit die hausärztlichen Praxisteams entlasten: „Tests, Demenztests und alles, was zum Arzt hinführen würde“ [P4]. Bei einer Übertragung ärztlicher Aufgaben an Pflegefachpersonen ist den Befragten eine weiterhin klare Abgrenzung wichtig: „wenn wir was verändern, muss trotzdem klar bleiben, wer was macht und wer welche Verantwortung und Haftung hat“ [H7].

Diskussion

Laut den Befragten unserer Studie ist die aktuelle Zusammenarbeit von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen in der Primärversorgung durch eine schlechte gegenseitige Erreichbarkeit beeinträchtigt. Im Unterschied zu vorherigen Studien (Block et al., 2012; van den Bussche et al., 2013), die betonen, dass insbesondere Pflegefachpersonen mit Hausärzt_innen oft nicht zeitnah Rücksprache halten können, sehen sich die befragten Hausärzt_innen unserer Studie bei Pflegefachpersonen vor das gleiche Problem gestellt. Durch einen daraus resultierenden mangelnden Informationsfluss wird eine wichtige Grundlage für die Sicherstellung einer kontinuierlichen Versorgung (Haggerty et al., 2003) eingebüßt. Dies ist umso mehr zu betonen, als die Befragten eine hohe Wertschätzung gegenüber dem fachlichen Austausch mit der anderen Berufsgruppe signalisieren.

Im Zusammenhang damit ist allerdings zu beachten, dass die Fachkompetenz von Pflegefachpersonen von den Befragten unserer Studie durchaus unterschiedlich bewertet wird. Während die Pflegefachpersonen die Fachkompetenz ihrer Berufsgruppe hervorheben, erkennen Hausärzt_innen bei einigen Pflegefachpersonen einen Mangel an Fachkompetenz. Die Hausärzt_innen vermuten hier strukturell bedingte Probleme und ungenutzte Potentiale bei den Pflegefachpersonen, da sie speziell mit weiterqualifizierten Pflegefachpersonen, beispielsweise Wundmanager_innen, besonders positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit gemacht haben. Laut Drewelow et al. (2022) vermuten Hausärzt_innen ungenutztes Potential bei Pflegefachpersonen, das sie aufgrund rechtlicher Beschränkungen ihrer Tätigkeiten nicht verwirklichen können.

Der mit unserer Studie verbundene Erkenntniszugewinn liegt insbesondere in den gemeinsam geteilten Vorstellungen beider Berufsgruppen zur Stärkung ihrer Zusammenarbeit. Unsere Studie verweist auf eine wachsende Bereitschaft von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen, in räumlicher Nähe zusammenzuarbeiten und im Rahmen interprofessioneller Besprechungen einen verbindlichen, regelmäßigen fachlichen Austausch zu leisten. Dies schafft aus Sicht der Befragten Möglichkeitsräume für einen gemeinsamen Vertrauens- und Kompetenzaufbau und die Erweiterung des Verantwortungsbereichs und Aufgabenprofils von Pflegefachpersonen. Eine Zusammenarbeit „unter einem Dach“ oder in virtuellen Netzwerken fördert nicht zuletzt auch die gemeinsame informelle Kommunikation (Neugebauer et al., 2022), die wiederum eine interprofessionelle Lernkultur begünstigt, in der die Berufsgruppen „von- und übereinander“ lernen können (Morgan, Pullon & McKinlay, 2015; Schoeb & Staffoni, 2019).

Wichtig ist den Befragten unserer Studie, dass zugleich Verbindlichkeit, Rollenklarheit sowie Rechtssicherheit und Refinanzierungsmöglichkeiten für interprofessionelle Zusammenarbeit geschaffen werden. Damit geben die Ergebnisse unserer Studie wichtige Hinweise für die Implementation integrierter, kooperativer Versorgungsmodelle in der Primärversorgung in Deutschland (Schaeffer & Hämel, 2020). Zugleich stimmen sie mit den Erkenntnissen internationaler Studien und den dort aufgezeigten Gelingensbedingungen interprofessioneller Zusammenarbeit überein (Samuelson et al., 2012; Schoeb & Staffoni, 2019).

Unsere Studie verweist aber auch darauf, dass interprofessionelle Zusammenarbeit beide Berufsgruppen herausfordert. Hausärzt_innen erscheinen aufgrund ihrer privilegierten Position in der Primärversorgung in Deutschland besonders in der Verantwortung, entsprechende Veränderungen zu initiieren (Schmitz et al., 2020). Andere Studien zeigen jedoch, dass Hausärzt_innen die Zusammenarbeit durchgehend positiver bewerten als Pflegefachpersonen (Block et al., 2012; van den Bussche et al., 2013). Daher könnte aus Sicht der Hausärzt_innen geringerer Handlungsbedarf bestehen. Wichtig ist, dass Pflegeforschung und -praxis sich verstärkt der Analyse und Verbesserung der interprofessionellen Zusammenarbeit in der Primärversorgung annehmen und Perspektiven von Pflegefachpersonen Berücksichtigung finden.

Weitere Forschung zur Ausgestaltung der interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen ist dringend erforderlich. So sollte die Umsetzung der Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf Pflegefachpersonen (§64d SGB V) und der Festschreibung vorbehaltender Tätigkeiten für die Pflege im neuen Pflegeberufegesetz stets auch mit Blick auf die Konsequenzen für interprofessionelle Zusammenarbeit analysiert werden. Darüber hinaus bietet den Ergebnissen unserer Studie zufolge die Etablierung integrierter Gesundheitszentren wie auch von Community Health Nurses in der Primärversorgung ein hohes Potential für die Stärkung der interprofessionellen Zusammenarbeit von Medizin und Pflege.

Limitationen

Limitierend an dieser Studie ist, dass nur wenige Studienteilnehmer_innen im ländlichen Raum praktizierten und durch unser Samplingverfahren möglicherweise insbesondere Personen an der Studie teilnahmen, die generell offen für eine interprofessionelle Zusammenarbeit waren. Gleichwohl sind gerade ihre Perspektiven interessant, um Ansatzpunkte für eine Stärkung der Zusammenarbeit zu identifizieren. Bei der Interviewauswertung wurde eine Datensättigung deutlich, da sich die Eigenschaften der thematischen Kategorien hinreichend detailliert entwickelten. Allerdings muss bezüglich der Gütesicherung einschränkend beachtet werden, dass wir (Zwischen-)Ergebnisse der Studie mit Masterstudierenden, aber nicht mit Expert_innen außerhalb des Forschungsprojekts diskutiert haben.

Schlussfolgerungen

Die Befragten unserer Studie signalisieren ein hohes Interesse und eine ausgeprägte Akzeptanz an gemeinsamen Kommunikations- und Organisationsstrukturen von Hausärzt_innen und Pflegefachpersonen der ambulanten Pflege. Durch die Förderung und Umsetzung dieser Maßnahmen eröffnen sich Möglichkeitsräume zur Erweiterung von Verantwortungsbereichen und Rollenprofilen von Pflegefachpersonen in der Primärversorgung mit potenziell positiven Auswirkungen auf die interprofessionelle Zusammenarbeit und Versorgungsqualität.

Unser besonderer Dank gilt allen Personen, die an dieser Studie teilgenommen haben. Wir danken darüber hinaus allen Seminarteilnehmenden für ihre Mitarbeit bei der Erstellung des Interviewleitfadens, Rekrutierung potenzieller Interviewpartner_innen, Interviewdurchführung und -transkription sowie für die erste Datenanalyse. Ein ausdrückliches Dankeschön geht an Anne Böhle, Leon Brinkmeyer, Nils Brinkmeyer, Daria Bula, Viktoria Daniel, Andrea Dietrich, Tanja Dietsch, Julia Droste, Ilknur Özer Erdogdu, Patricia Gjonaj, Boris Glaveski, Juliane Holzgräwe-Eichmann, Ricarda Knäble, Kim Kötter-Orthaus, Hanno Lüttmann, Christina Mersmann, Nils Ohde, Antonia Repsch, Lisa Schreiber, Marina Steinhüser, Damla Turp, Rebecca Wenniges und Leah Ziegenbein.

Literatur