Skip to main content
Open AccessÜbersichtsarbeit

Bewegung als Neuromodulator: Wie körperliche Aktivität die Physiologie der adoleszenten Depression reguliert

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000954

Abstract

Zusammenfassung: In der Behandlung der adoleszenten Depression gewinnt körperliche Aktivität aufgrund der Auswirkungen auf die Neuropathologie an Bedeutung. Aktuelle wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass körperliches Training auf die biologischen Auswirkungen von Depression im Jugendalter einwirkt. Neben psychosozialen und genetischen Einflüssen werden verschiedene neurobiologische Faktoren diskutiert. Eine Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HHN-Achse) mit einer anhaltend erhöhten Konzentration von Kortisol gehört zu den Erklärungsmodellen. Neuere Studien sehen neuroimmunologische Prozesse und eine verminderte Konzentration an Wachstumsfaktoren als ursächlich. Diese Veränderungen könnten sowohl zu einem Ungleichgewicht in der Erregungs- und Hemmungsbalance der Hirnrinde führen als auch hirnmorphologische Veränderungen bedingen. Regelmäßiges körperliches Training scheint der Dysregulation der HHN-Achse entgegenzuwirken und die Kortisolspiegel zu normalisieren. Die Freisetzung von pro-inflammatorischen Zytokinen wird gehemmt und die Expression von Wachstumsfaktoren zur Neurogenese im adulten Gehirn angeregt. Mit der Gestaltung des sportlichen Trainings (Ausdauer- oder Kraftsport, Gruppen- oder Einzelsport, Häufigkeit, Dauer, Intensität), sollte erreicht werden, dass biologische und psychosoziale Faktoren synergistisch zusammenwirken. Diese offenen Fragen gilt es zu lösen, wenn es um die Integration sportlicher Aktivität in die Leitlinien zur Behandlung depressiver Störungen bei Kindern und Jugendlichen geht.

Movement as a Neuromodulator: How Physical Activity Influences the Physiology of Adolescent Depression

Abstract: In the context of adolescent depression, physical activity is becoming increasingly recognized for its positive effects on neuropathology. Current scientific findings indicate that physical training affects the biological effects of depression during adolescence. Yet the pathophysiology of adolescent depression is not yet fully understood. Besides psychosocial and genetic influences, various neurobiological factors are being discussed. One explanation model describes a dysfunction of the hypothalamus-pituitary-adrenal axis (HPA axis) with a sustained elevation in cortisol concentration. Recent studies highlight neuroimmunological processes and a reduced concentration of growth factors as causative factors. These changes appear to lead to a dysregulation of the excitation and inhibition balance of the cerebral cortex as well as to cerebral morphological alterations. Regular physical training can potentially counteract the dysregulation of the HPA axis and normalize cortisol levels. The release of proinflammatory cytokines is inhibited, and the expression of growth factors involved in adult neurogenesis is stimulated. One should ensure the synergistic interaction of biological and psychosocial factors when designing the exercise schedule (endurance or strength training, group or individual sports, frequency, duration, and intensity). Addressing these open questions is essential when integrating physical activity into the guidelines for treating depressive disorders in children and adolescents.

Abkürzungen

ACTH

Adrenocorticotrophes Hormon

BDNF

Brain Derived Neurotrophic Factor

CRH

Corticotropin Releasing Hormon

CRP

C-Reaktives Protein

DLPFC

dorsolateraler präfrontaler Kortex

EEG

Elektroenzephalogramm

EIG

Exzitations-/Inhibitions-Gleichgewicht

GWAS

Genome-Wide Association Studies

HHN

Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse

IFG-1

Insulin-Like Growth Factor 1

IL1/IL6/IL10

Interleukin 1/6/10

NNR

Nebennierenrinde

rTMS/TMS

repetitive transkranielle Magnetstimulation

SSRI

selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

TNF-α

Tumornekrosefaktor-alpha

VEGF

Vascular Endothelial Growth Factor

WHO

Weltgesundheitsbehörde

5-HTTLPR

Serotonin-Transporter-Promoter-Polymorphismus

Einleitung

Die „Global Burden of Disease“-Studie schätzt die Häufigkeit einer depressiven Störung über alle Altersgruppen hinweg auf 3.4 bis 4.2 % ein. Differenzierter betrachtet steigt das Risiko einer depressiven Störung ab dem 15. Lebensjahr. Während die Prävalenz unter 14 Jahren knapp 1 % beträgt, gleichen sich die Häufigkeiten im mittleren bis späten Jugendalter denen von Erwachsenen an (Global Burden of Disease Collaborative Network, 2021).

Depressive Symptomatik im Kindes- und Jugendalter ist häufig reaktionär auf einschneidende Lebensereignisse. Wie bedeutend Umweltveränderungen für die mentale Gesundheit Heranwachsender sein können, fasst der Rapid Review des Robert Koch-Instituts „zur Veränderung der psychischen Gesundheit der Kinder- und Jugendbevölkerung im Verlauf der COVID-19-Pandemie“ zusammen (Schlack et al., 2023). Regelmäßige Datenerhebungen zeigten zum Teil eine Verdopplung der Angst- und Depressionssymptomatik bei Jugendlichen im Vergleich zu vorpandemischen Prävalenzen (Ravens-Sieberer et al., 2023). Die Problematik psychischer Störungen Heranwachsender ist von globaler Relevanz. Psychische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter persistieren häufig bis ins junge Erwachsenenalter und das Erreichen von Bildungs- und Berufserfolg wird erschwert (Herrman et al., 2022; Wickersham et al., 2021). Neben dem Leidensdruck bei den Betroffenen und deren Bezugspersonen entstehen auch hohe gesundheitsökonomische Kosten (Petito et al., 2020; Pourahmadi et al., 2019).

Häufig wird bei der adoleszenten Depression die Diagnose verspätet und teilweise erst im Erwachsenenalter gestellt (Cook, Peterson & Sheldon, 2009). Denn Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen und Lustlosigkeit treten auch bei gesunden Jugendlichen pubertätsbedingt auf und werden deshalb nicht unmittelbar mit einer Depression assoziiert (Herpertz-Dahlmann, Bühren & Remschmidt, 2013; Wickersham et al., 2021). Neben den Symptomkriterien einer depressiven Episode äußert sich die adoleszente Depression unter anderem durch stark vermindertes Selbstvertrauen, Apathie, Pessimismus, tiefe Traurigkeit, Affektlabilität, Ängste, Irritierbarkeit, Impulsivität und Leistungsminderung. Und häufig stehen andere Symptome, wie zum Beispiel Schulabsentismus, psychosomatische Beschwerden, Essstörungen oder Angststörungen, komorbide im Vordergrund und maskieren die Depression (Herrman et al., 2022; Mudra & Schulte-Markwort, 2020).

Die Ätiologie depressiver Erkrankungen wird heute als multifaktorieller Prozess im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Modells verstanden. Psychosoziale, genetische, neurobiologische und hirnmorphologische Prozesse spielen laut aktuellem Stand der Forschung zusammen (Brakemeier, Normann & Berger, 2008; Gadad et al., 2018). Folglich sollten die Diagnostik und Behandlung einer Depression die Heterogenität der Pathogenese berücksichtigen. Unentdeckte und somit unbehandelte depressive Episoden haben oft gravierende Auswirkungen auf den späteren Lebensweg (Clayborne, Varin & Colman, 2019; Guyer, Silk & Nelson, 2016). So ist bei Betroffenen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit an Rückfällen und Chronifizierung zu rechnen. Jeder fünfte jugendliche Todesfall in Deutschland (jeder 10. weltweit) tritt infolge von selbstschädigendem/suizidalem Verhalten auf (Global Burden of Disease Collaborative Network, 2021; Hawton, Saunders & O’Connor, 2012; Statistisches Bundesamt, 2021). Diese Datenlage unterstreicht die Dringlichkeit ausreichender und effektiver Therapieangebote.

Im Konsens der weltweiten Leitlinien zur Depression wird ein gestufter Behandlungsansatz empfohlen, welcher von psychosozialen Interventionen über Psychotherapie zu pharmakologischer Behandlung reicht. Die nichtpharmakologische Therapie kann alleine oder in Kombination mit medikamentöser Behandlung durchgeführt werden (Dolle & Schulte-Körne, 2013; Emslie, 2012). Metaanalysen zeigen mittlere bis signifikante Effekte für empfohlene psychotherapeutische Ansätze (Cuijpers et al., 2021; Klein, Jacobs & Reinecke, 2007; Zhou et al., 2015) sowie mäßige Effekte für medikamentöse Behandlungen mit dem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Fluoxetin (Cipriani et al., 2016). Im Vergleich zur adulten Depression ist die Wirksamkeit medikamentöser Therapien bei Jugendlichen begrenzt. Zudem gibt es bisher nur eine Zulassung von Fluoxetin ab einem Alter von 8 Jahren mit der Indikation einer Depression (Bridge et al., 2005; Feeney et al., 2022; Garland, 2004; Huscsava, Reinhardt, Plener, Fegert & Kölch, 2020; Vitiello, 2009). Andere Substanzen, wie zum Beispiel Citalopram, Escitalopram oder Sertralin, werden zwar immer häufiger genutzt, bisher jedoch „off-label“ (Huscsava et al., 2020). Medikamentöse Behandlungen sind außerdem nicht nebenwirkungsfrei und bergen potenziell ein erhöhtes Risiko für suizidale Gedanken und Verhaltensweisen, vor allem zu Beginn der Behandlung (Cipriani et al., 2016; Gründer, Veselinović & Paulzen, 2014; Hegerl, 2007; Pinna, 2015). Es bleibt als Resümee, dass die derzeitige Leitlinientherapie nur bei einem Teil der jugendlichen Patient_innen mit Depression ausreichend wirksam ist (March et al., 2007).

In Abgrenzung zu anderen Störungsbildern hat bei der Depression die körperliche Aktivierung und die damit verbundene Abnahme der Antriebslosigkeit eine besondere Relevanz. Die Erfassung von Daten zur mentalen Gesundheit während der Pandemie zeigt bei Kindern und Jugendlichen insbesondere bei depressiven Symptomen einen deutlichen Rückgang, nachdem die Maßnahmen zur Einschränkung der Mobilität (wie Schulschließungen, Sperrung von Sportanlagen, Verbot von sozialen Treffen usw.) aufgehoben wurden (Ravens-Sieberer et al., 2023; Santomauro et al., 2021). Neben den sozialen Wirkfaktoren ist davon auszugehen, dass in Abgrenzung zu anderen affektiven Störungen die Möglichkeit und die Notwendigkeit zur physischen Aktivierung und Mobilität einen wichtigen Aspekt in der Behandlung und Prävention von Depression darstellen.

Die Erwachsenen-Leitlinien zur Depression unterstützen sportliche Aktivität als ergänzende Therapieoption und sprechen eine starke Empfehlung für aerobes Ausdauertraining, Krafttraining oder deren Kombination aus (Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung & Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, 2022). In den amerikanischen und britischen Leitlinien zur Behandlung von Depression bei Kindern und Jugendlichen wird bei leichterer Symptomatik die Behandlung durch Sport und Johanniskraut empfohlen (American Psychological Association, 2019; NICE guideline, 2019). Die deutsche Leitlinie zur Behandlung der Depression bei Kindern und Jugendlichen befindet sich derzeit in Bearbeitung. Es ist zu hoffen, dass aufgrund der Zunahme evidenzbasierter Studien eine Empfehlung zu sportlicher Aktivität ausgesprochen wird (Schulte-Körne, Klingele, Zsigo & Kloek, 2023).

Während ein starker Konsens für den Nutzen sportlicher Aktivierung bei Depression besteht, gibt es noch wenige studienbasierte Empfehlungen über die optimale Art und den Umfang der Aktivität, wobei mehr Bewegung insgesamt mit einem höheren Nutzen (Senken der kardiometabolischen Risikofaktoren, der Insulinresistenz, des Blutdrucks und Verbesserung der Knochengesundheit sowie des Selbstwerts) assoziiert wird (Smith et al., 2014). Unbestritten wirkt sich körperliche Aktivierung positiv auf die gesunde körperliche, psychosoziale und geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus (Graf, Bagheri & Ferrari, 2015; Timmons et al., 2012). Depressive Episoden durch zu hohe Anforderungen im Leistungssport müssen davon getrennt betrachtet werden und stehen nicht im Fokus dieser Arbeit (Markser & Bär, 2019). Interessanterweise ist im Gegensatz zu der Annahme, mehr und intensivere Bewegung sei förderlich, gerade die Abnahme von leichter körperlicher Bewegung in der Langzeitbeobachtung ein Risikofaktor, da sie mit einer Zunahme von genereller Inaktivität im Alltag verbunden ist (Kandola, Lewis, Osborn, Stubbs & Hayes, 2020).

In biologischer Hinsicht ist das Jugendalter auch aufgrund der Reorganisation der Hirnstruktur eine sensible Phase. Die Reifung der präfrontalen grauen Substanz „hinkt“ der Reifung der weißen subkortikalen Substanz hinterher (Konrad, Firk & Uhlhaas, 2013). Die Prozesse von Pruning, Neurogenese und synaptischer Reorganisation werden durch (soziales) Lernen, Priming, aber auch körperliche Aktivität, beeinflusst (Wietasch, 2007). Zu den Reorganisationsprozessen im Gehirn addieren sich nicht nur die hormonellen Schwankungen (mit intensiven und unbeständigen Gefühlen), sondern auch die pubertären körperlichen Entwicklungen (Ahmed, Bittencourt-Hewitt & Sebastian, 2015; Konrad et al., 2013), im Verlauf derer das Risiko einer Depression (besonders bei Mädchen) steigt (Stumper & Alloy, 2023). Der besondere Stellenwert der pubertären Körperlichkeit könnte damit ein besonderes Potenzial für die Sporttherapie in dieser Altersgruppe bedeuten (Herpertz-Dahlmann et al., 2013; Stumper & Alloy, 2023). Aufgrund der biologischen Prozesse, die durch sportliches Training induziert werden, kann Sporttherapie auf verschiedenste pathophysiologische Faktoren einer Depression im Jugendalter einwirken und über psychosoziale Effekte hinaus eine entscheidende Rolle in der Reduktion depressiver Symptome spielen.

In dem vorliegenden Beitrag soll anhand aktueller Forschungsergebnisse gezeigt werden, wie sportliches Training den pathologischen Manifestationen einer adoleszenten Depression entgegenwirkt. Nach einer Zusammenfassung der neuesten Erkenntnisse zur Pathophysiologie wird gezeigt, an welchen Stellen sportliches Training angreift und antidepressiv wirkt. Abschließend wird die Rolle der Sporttherapeut_innen dargestellt, die die Schnittstelle zwischen neuro-psycho-pathologisch indizierter Sportintervention und der Realität der oft an Antriebsmangel leidenden und nicht selten motivationslosen Jugendlichen überbrücken müssen.

Die Neuropathologie der (adoleszenten) Depression

Die Forschung zu den neurobiologischen Korrelaten der Depression befindet sich in ständiger Weiterentwicklung. Neben der „klassischen“ Monoaminmangelhypothese sind aktuell diskutierte Theorien die der neuroendokrinologischen Dysbalancen, die (Neuro-)Immunhypothese und die Neurotrophin-Hypothese. Als Risikofaktoren werden verschiedene neurobiologisch relevante Genvarianten diskutiert. Das unter anderem durch die mangelnde Neuroneogenese entstehende „Cognitive Impairment“ wird als krankheitsinhärente Folge gesehen.

Neuroendokrinologische Dysbalancen mit Einfluss auf das neuronale Exzitations-/Inhibitions-Gleichgewicht (EIG)

Auch bei Kindern und Jugendlichen zeigen Studien einen Zusammenhang zwischen chronischem Stress und der Entwicklung von Depressionen (Hammen, Brennan & Shih, 2004; Monroe & Hadjiyannakis, 2002). Ein Biomarker für diesen Zusammenhang ist das Stresshormon Kortisol. Kortisol als Glukokortikoid steuert lebenswichtige Aufgaben im Körper. Bei Bedarf wird es in der Nebennierenrinde (NNR) synthetisiert und im Blut ausgeschüttet. Das Corticotropin Releasing Hormon (CRH) regelt den Bedarf und wird selbst über Signalwege und Rückkopplungsmechanismen im Hypothalamus ausgeschieden. Erhöhte CRH-Ausschüttung regt das Adrenocorticotrophe Hormon (ACTH) an und stimuliert die NNR zur Produktion und Ausschüttung von Kortisol. Kortisol greift in unterschiedliche Stoffwechselvorgänge des Körpers ein und spielt eine entscheidende Rolle bei der körperlichen Reaktion auf Stress. Zu den Symptomen eines dysregulierten Kortisollevels gehören Veränderungen in Stimmung, Appetit, Schlafverhalten, Sexualtrieb und Motivation (Zajkowska et al., 2022). Während akuter Stress eine vorübergehende negative Rückkopplung der HHN-Achse auslöst, führt andauernder Stress zu einer chronisch hyperaktiven HHN-Achsen-Aktivität. CRH wird vom Hypothalamus ausgeschüttet und regt weiterhin die Kortisolproduktion in der Nebenniere an (Pitchot, Herrera & Ansseau, 2001). Dies hat eine erhöhte zerebrale Kortisolkonzentration zur Folge (Lopez-Duran, Kovacs & George, 2009; Nestler et al., 2002). Die genannten Dysregulationen stellen einen Risikofaktor in der Genese, Persistenz und Rezidiven depressiver Störungen dar (Guerry & Hastings, 2011; Holsboer, 2000; Kennis et al., 2020; Southwick, Vythilingam & Charney, 2005; Van Rossum et al., 2006).

Der Zusammenhang von Depression und Kortisol bei Kindern und Jugendlichen ist im Vergleich zu Erwachsenen-Populationen weniger intensiv beforscht. Neben Schlafqualität, Tageslicht und Alltagsanforderungen wird die Ausschüttung des Stresshormons bei Heranwachsenden zusätzlich durch entwicklungsbedingte hormonelle Schwankungen beeinflusst (Van der Voorn, Hollanders, Ket, Rotteveel & Finken, 2017). Eine aktuelle Metaanalyse von Zajkowska et al. (2022) stellt dar, dass ein erhöhter morgendlicher Kortisolspiegel der Depression vorausgeht. Unabhängig davon, ob es sich um eine erste Episode oder ein Rezidiv handelt. Kennis et al. (2020) berichten dagegen von erhöhter Kortisolkonzentration in späteren Stadien der Depression. Insgesamt gesehen zeigt die Studienlage uneinheitliche Befunde, sodass die Ergebnisse vorsichtig interpretiert werden müssen (Schmidt, Laessle & Hellhammer, 2013; Zajkowska et al., 2022).

Die übermäßige Aktivität der HHN-Achse wirkt sich auch auf die Erregbarkeit neuronaler Systeme aus (Croarkin et al., 2013). Während eine vorübergehende Erregbarkeit, bedingt durch katecholaminerge Neuromodulation, eine rasche und effektive Stressantwort begünstigt, ist eine dauerhafte kortikale Erregbarkeit ursächlich für die Aufhebung der neuronalen Homöostase. Es kommt zu einer Verschiebung des EIG, was sich in der Interaktion mit einem erhöhten Kortisolspiegel neurotoxisch auswirkt und zusätzlich eine pro-inflammatorische Reaktion auslöst (Hassamal, 2023; LeDuke, Borio, Miranda & Tye, 2023)

In TMS-Studien und im Tiermodell konnten Nachweise für die Störung des EIG im Kortex in Verbindung mit adoleszenten depressiven Episoden gefunden werden (Biermann et al., 2022; Fogaça & Duman, 2019; H.-L. Wang et al., 2019). Eine aktuelle Metaanalyse von Hu, Tan, Hirjak und Northoff (2023) bietet einen topografischen Überblick zu den morphologischen Auswirkungen bei depressiven Patient_innen durch pathophysiologische Veränderung der kortikalen Konnektivität. Auf der Verhaltensebene sind diese Veränderungen mit Antriebslosigkeit, Anhedonie, Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Ruhelosigkeit assoziiert (Guerry & Hastings, 2011; LeDuke et al., 2023; Macêdo, Sato, Bressan & Pan, 2022).

Die (neuro)immunologische Hypothese

Neben der chronisch erhöhten Kortisolkonzentration und den Auswirkungen der HHN-Hyperaktivität wurden auch Veränderungen auf Immunprozesse beobachtet. Systematische Veränderungen immunologischer Biomarker in der Pubertät sind mögliche Moderatoren von depressiven Phasen und stehen in Assoziation mit depressiogener Wirkung (Moriarity et al., 2019; Stumper et al., 2020). Im Rahmen der Neuro-Immun-Hypothese der Depression wird argumentiert, dass länger anhaltende hohe Kortisolspiegel einen Wechsel von der anti-inflammatorischen Wirkung von Kortisol hin zu einer pro-inflammatorischen provozieren (Troubat et al., 2021). In der Folge kommt es zu einer vermehrten Ausschüttung pro-inflammatorischer Zytokine, wie unter anderem des Tumornekrosefaktors-alpha (TNF-α) und der Interleukine 1 und 6 (IL1, IL6; Colasanto, Madigan & Korczak, 2020; D’Acunto, Nageye, Zhang, Masi & Cortese, 2019), sowie einem Anstiegs des Akute-Phase-Proteins C-Reaktives Protein (CRP; Kautz et al., 2020). Die enorme Bedeutung neuroimmunologischer Prozesse in der Entstehung des depressiven Syndroms wurde ursprünglich in Zytokintherapien von Patient_innen mit viraler oder maligner Grunderkrankung deutlich (Hodes, Kana, Menard, Merad & Russo, 2015; Müller & Schwarz, 2007). Ohne prophylaktische Vorbehandlung mit Antidepressiva entwickelte etwa ein Drittel der interferonbehandelten Patient_innen eine klinisch-relevante Depression (Hauser et al., 2002). Depressiogene Nebenwirkungen werden auch in der Zytokinbehandlung von Autoimmunerkrankungen wie etwa der Multiplen Sklerose verzeichnet (Patten et al., 2005). Im Gegenzug wurde in pharmakologischen Studien mit anti-inflammatorischen Substanzen eine Linderung der depressiven Symptomatik bei Jugendlichen beobachtet (Berk et al., 2020).

Die Neurotrophin-Hypothese mit ihren Effekten auf die Neuroplastizität

Die Dysregulation der HHN-Achse und des Immunsystems verändert nachhaltig Funktionen des zentralen Nervensystems. Eine chronische systemische Entzündung, induziert durch pro-inflammatorische Zytokine und erhöhte Glukokortikoidkonzentrationen, ist mit reduziertem Spiegeln neuronaler Wachstumsfaktoren assoziiert (Dantzer, O’Connor, Freund, Johnson & Kelley, 2008). Zu den wichtigsten neuronalen Wachstumsfaktoren gehören der Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF), der Insulin-Like Growth Factor 1 (IGF-1) und der Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF). Genannte Wachstumsfaktoren spielen eine wichtige Rolle für die Entstehung, Entwicklung und Aufrechterhaltung synaptischer Verschaltungen im zentralen Nervensystem und sind maßgeblich an der adulten Neurogenese beteiligt (Jin et al., 2002; Murray, Holmes & Zajac, 2011; Sonntag et al., 2013). Der BDNF stimuliert die Neuroplastizität und prolongiert das Überleben der Nervenzellen. Psychischer Stress hemmt die Bildung in der Präsynapse und somit die Ausschüttung in den synaptischen Spalt. Eine reduzierte Verfügbarkeit dieser Signalmoleküle wirkt sich in Form dendritischer Atrophie, reduzierter Neurogenese und Neuronenuntergang aus. Hirnmorphologisch bedeutet dies Volumenverlust in Lern- und Gedächtnisarealen, wie etwa dem Hippocampus und präfrontalem Kortex. Strukturelle Bildgebung bestätigt geringere Volumina vor allem im Bereich des Hippocampus, Gyrus parahippocampalis und entorhinalem Kortex sowie vergrößerte Volumina der präfrontalen Region bei depressiven Jugendlichen im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen (Serafini et al., 2014; Straub et al., 2019; Wunram et al., 2020). Dieser Volumenverlust wird mit den Auswirkungen von reduzierten Spiegeln neuronaler Wachstumsfaktoren bei Betroffenen assoziiert (Carniel & da Rocha, 2021; Sharma, Da Costa E Silva, Soares, Carvalho & Quevedo, 2016). Auch Serotonin scheint einen Einfluss auf die Neurotrophine zu haben: Verminderte Serotoninspiegel führen zu niedrigeren Neurotrophinspiegeln und einer verminderten Neuroplastizität (Cowen, 2007; Kraus, Castrén, Kasper & Lanzenberger, 2017; Mosiołek, Mosiołek, Jakima, Pięta & Szulc, 2021). Symptomatisch werden diese Veränderungen mit Beeinträchtigungen der kognitiven Funktionen in Verbindung gebracht (Frodl et al., 2014; Oliver, Pile, Elm & Lau, 2019).

Depression als neurokognitives Defizit

Neben der „psychomotor retardation“, die mit einer körperlichen Verlangsamung in der Depression einhergeht, kann es zu einer Verlangsamung der Denkabläufe kommen (Buyukdura, McClintock & Croarkin, 2011; Damme et al., 2022; Perini et al., 2019). Kognitive Defizite bei depressiven Patient_innen sind mit erheblichen Schwierigkeiten im täglichen Leben und einer geringeren Lebensqualität verbunden. Nicht selten bestehen sie über die Remission hinaus und nehmen mit wiederkehrenden Episoden und altersbedingt zu. Ähnlich wie bei Erwachsenen sind bei depressiven Kindern und Jugendlichen kognitive Einschränkungen durch Schwierigkeiten bei Aufgaben der Exekutivfunktionen (Inhibition, Daueraufmerksamkeit, kognitive Flexibilität) sowie bei Lern- und Gedächtnisaufgaben gekennzeichnet (Wagner, Müller, Helmreich, Huss & Tadić, 2015).

Angesichts der noch nicht abgeschlossenen neuronalen Reifung präfrontaler Hirnregionen ist es jedoch wichtig, die pathophysiologischen Erklärungsansätze separat für die Adoleszenz zu betrachten (Oliver et al., 2019). Spannend ist in diesem Zusammenhang die Diskussion zu transienten kognitiven Defiziten, irreversiblen Beeinträchtigungen und neurokognitiver Vulnerabilität als Risikofaktor in der Entstehung sowie für Rezidive depressiver Episoden (Hammar, Ronold & Rekkedal, 2022).

Bildgebungsstudien bei depressiven Jugendlichen sind gering, geben aber Hinweise auf morphologische Risikoprofile in Hirnarealen der Kognition, moderiert durch strukturelle und funktionelle Biomarker (Lai, 2019; Marrus et al., 2015; Pizzagalli & Roberts, 2021; Roberson-Nay et al., 2006; Singh, Leslie, Packer, Weisman & Gotlib, 2018; Wunram et al., 2020). Ähnlich wie bei Erwachsenen zeichnen sich die neuronalen Korrelate durch gesteigertes Volumen im präfrontalen Kortex und durch reduziertes Volumen im Hippocampus und den parahippocampalen Strukturen aus (Kempermann, Chesler, Lu, Williams & Gage, 2006; Straub et al., 2019). Funktionelle Unterschiede fanden sich zusätzlich in frontostriatalen, frontocingulären, frontolimbischen, parietotemporalen und kortiko-kortikalen Strukturen (Cheng et al., 2016; Kaiser, Andrews-Hanna, Wager & Pizzagalli, 2015; Pizzagalli, 2011).

Trotz der wachsenden Literatur über die kognitiven Defizite der jugendlichen Depression, bleiben viele Fragen offen: Was reguliert sich nach der Genesung, welche sind nach der Remission noch vorhanden, welche sind auch ohne depressive Stimmung vorhanden?

Die Depression modulierende Genvarianten

Verschiedene Genvarianten der Wachstumsfaktoren (BDNF-Polymorphismen), aber auch des Serotonin-Transporter-Gens (Polymorphismus 5-HTTLPR), werden als Risikovarianten für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Depression im Erwachsenen- und Jugendalter gewertet (Moncrieff et al., 2022). Genetische Prädispositionen für einen schweren Verlauf wurden für Erwachsene bei Träger_innen der BDNF-Variante p.Val66Met beobachtet. Im MET-Allel des BDNF-Gens wird die Aminosäure Methionin anstelle der Aminosäure Valin eingebaut (Brunner, 2017). Vulnerabel sind sowohl Träger_innen der homozygoten (Met/Met) als auch der heterozygoten (Met/Val) BDNF-Variante p.Val66Met (J. Chen, Li & McGue, 2013; Wheeler et al., 2018). Vermutlich werden depressive Auswirkungen durch eine schwächere hippocampale Neurogenese und eine deutlich stärkere Aktivierung der HHN-Achse und Kortisolausschüttung unter Stress bei Träger_innen der BDNF-Variante p.Val66Met gegenüber Träger_innen der Val/Val-Varianten begünstigt (de Assis & Gasanov, 2019; Goodyer, Croudace, Dudbridge, Ban & Herbert, 2010; Hopkins, Davis, VanTieghem, Whalen & Bucci, 2012). Zurzeit muss man akzeptieren, dass die Ergebnisse bezüglich genetischer Assoziationen mit spezifischen „risk loci“ inkonsistent bleiben (Ferreira Fratelli et al., 2021; Flint, 2023). Mit der Weiterentwicklung der genetischen Diagnostik wurden in Genome-Wide Association Studies (GWAS) mittlerweile 178 „genetic risk loci“ und 200 Kandidatengene identifiziert. Die Ergebnisse der GWAS und auch ihre Korrelationen mit verschiedenen Phänotypen der Depression erlauben jedoch zum derzeitigen Zeitpunkt noch keine genaue ätiologische Einordnung (Jermy, Glanville, Coleman, Lewis & Vassos, 2021).

Einfluss sportlicher Aktivität auf die Pathophysiologie der Depression

Untersuchungen und Metaanalysen beschreiben insgesamt eine positive Resonanz auf sporttherapeutische Interventionen bei depressiv erkrankten Jugendlichen, auch wenn diese aufgrund der inhärenten Antriebslosigkeit nicht leicht zu Aktivität zu motivieren sind (Oberste et al., 2020; Wunram et al., 2018). Klinisch wurden signifikante antidepressive Effekte gefunden, die auch über das Ende der Intervention hinaus einen Langzeiteffekt darstellten (Brown, Pearson, Braithwaite, Brown & Biddle, 2013; Carter, Morres, Repper & Callaghan, 2016; Jarbin, Höglund, Skarphedinsson & Bremander, 2021; Larun, Nordheim, Ekeland, Hagen & Heian, 2006; Oberste et al., 2020; Wunram et al., 2018). Die antidepressive Wirksamkeit zeigte sich vor allem bei Sportaktivitäten mit zumindest mittlerer Intensität (Larun et al., 2006; Oberste et al., 2020). Aber auch sporttherapeutische Interventionen mit geringer Intensität könnten gezielt auf pathophysiologische Mechanismen der Depression bei Jugendlichen einwirken und eine chronische Stressantwort unterbinden (Budde et al., 2018). Doch wo und wie sportliche Aktivität neurobiologisch gesehen die Effekte entfaltet, ist komplex und noch nicht abschließend geklärt. In den Kölner Interventionsstudien „Mood Vibes“ und „Balancing Vibrations“ wurde und wird versucht, dieser Frage vor dem Hintergrund der oben dargelegten Forschungsliteratur und pathophysiologischen Theorien nachzugehen. Es werden die Hypothesen untersucht, dass körperliche Aktivität langfristig Kortisolspiegel und Entzündungsparameter (neuroendokrinologische und neuroimmunologische Erklärungstheorien der Depression) senkt und zu einer Steigerung der Neurotrophine führt (Neurotrophin-Hypothese). Klinisch werden sowohl eine Steigerung der Gedächtnisfunktionen und der exekutiven Funktionen erwartet als auch eine therapeutisch relevante Besserung dysfunktionaler Kognitionen, des Selbstwertes und des Antriebs, um nur einige Symptome der Depression zu nennen, für die eine Besserung unter sportlicher Aktivität postuliert wird (Oberste et al., 2018). Auf der elektrophysiologischen Ebene wird eine Re-Equilibrierung der EIG im dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC) erwartet (Biermann et al., 2022; Oberste et al., 2019) (Abbildung 1).

Abbildung 1 Sportliche Aktivität wirkt auf verschiedenen Ebenen – molekular, genetisch, zellulär, immunologisch und kognitiv – und initiiert damit den Umkehrprozess von der Pathologie in die Genesung.

Die neuroendokrinologische Wirkung sportlicher Aktivität auf die HHN-Achse und das EIG

In der Übersichtsarbeit von 2017 erläutern C. Chen et al. (2017) anschaulich das Phänomen des „Exercise Cortisol Paradox“. Obwohl sowohl chronischer Stress als auch sportliche Aktivität zunächst zu erhöhten Kortisolspiegeln führen, scheinen sie über verschiedene Wege in die Regelkreisläufe einzuwirken: Kortisol als „Stressor“ wirkt schädlich und bei Sport förderlich (C. Chen et al., 2017). Eine Hochregulation der Dopaminspiegel im präfrontalen Kortex und eine Hochregulation der Glukokortikoidrezeptoren scheinen eine negative Feedbackregulation der HHN-Achse bei Sport zu bewirken, die die depressive Symptomatik, die Kognition und die Neuroneogenese verbessert. Langfristig wäre damit bei einer regelmäßigen sportlichen Aktivität eine Senkung der Kortisolspiegel zu erwarten (Grandys et al., 2016). Nabkasorn et al. (2006) wiesen dies zum Beispiel bei depressiven jugendlichen Mädchen nach (Verringerung des 24-h-Kortisols im Urin).

Damit einhergehend ermöglicht regelmäßiger Sport, eine Dysbalance des EIG im DLPFC wieder zu regulieren. Die damit wiederhergestellte neurophysiologische Homöostase wird ebenfalls mit einer Besserung depressiver Symptomatik in Verbindung gebracht (Bender et al., 2005; Biermann et al., 2022). Auch Milani et al. (2010) beobachteten einen indirekten Einfluss auf die chronische Hyperexzitabilität des Kortex. Sportliche Aktivierung scheint die kortikale Erregbarkeit zusätzlich durch die Aktivierung des Motorkortex direkt zu beeinflussen (Leung et al., 2015; Lulic et al., 2017). Regelmäßige sportliche Aktivierung hat damit das Potenzial, überaktive Vernetzungen zu normalisieren und in Richtung einer wieder funktionierenden Homöostase zu modulieren. Neben der Methode der TMS-EEG-Diagnostik in der jugendlichen Depression gibt es auch Untersuchungen zu antidepressiven Behandlungen mittels repetitivem TMS (rTMS; Brakemeier, Wilbertz, et al., 2008; Herwig et al., 2007; Hoeppner et al., 2010) und Theta-Burst-Stimulationen (Grossheinrich et al., 2009).

Die (neuro)immunologische Wirkung von Sport

Die Wirkung sportlicher Aktivität auf immunologische Prozesse wirkt sich auf zahlreiche somatische Erkrankungen aus dem (auto)immunologischem Spektrum aus (Li & Wang, 2023). Auch neuro-psychiatrische Erkrankungen wie die Depression scheinen (wie einleitend dargelegt) mit einer chronischen niedriggradigen Inflammation einherzugehen und profitieren aus dieser Sicht von einer anti-inflammatorischen Wirkung sportlicher Aktivität (Zimmer et al., 2019). Studien belegen den Zusammenhang einer bewegungsarmen Lebensweise und einer gesteigerten Expression pro-inflammatorischer Zytokine und somit der Entwicklung einer chronischen niedriggradigen systemischen Inflammation (Krüger, 2017). Auch hier lässt der Anschein ein „Paradoxon“ vermuten: Akute sportliche Belastung triggert zunächst einen systemischen Entzündungsreiz durch eine kurzfristige Steigerung der IL-6-Konzentration (Gleeson et al., 2011). Diese vorübergehende Wirkung hat mittelfristig jedoch eine systemische entzündungshemmende Funktion, indem sie eine erhöhte Expression von IL-1-Rezeptoragonisten, löslichen TNF-α-Rezeptoren und IL-10 hervorruft (Petersen & Pedersen, 2005; Walsh et al., 2011). Darüber hinaus führt eine regelmäßige sportliche Aktivität zu einer Senkung der basalen Zytokinkonzentrationen, unter anderem von IL-6 und TNF α (Wunram, Oberste, Hamacher, et al., 2021). Damit wirkt kontinuierlicher Sport auf immunologischer Ebene anti-inflammatorisch, also gegensätzlich („paradox“) zu akutem, kurzfristigem Sport.

Weitere positive Wirkungen sportlicher Aktivität auf immunologische Prozesse konnte durch eine Reduktion des CRPs beobachtet werden (Hayashino et al., 2014). Aktuelle Studien verdeutlichen, dass der antidepressive Effekt sportlichen Trainings auch bei depressiven Jugendlichen an (neuro)immunologische Prozesse gekoppelt sein könnte (Paolucci, Loukov, Bowdish & Heisz, 2018; Wunram, Oberste, Hamacher, et al., 2021). Im Unterschied zu Ergebnissen bei Erwachsenen wurden bessere Effekte für Ausdauer- im Vergleich zu Krafttrainingsinterventionen und für moderate im Vergleich zu intensiven Belastungen beobachtet (Oberste et al., 2020). Die neuroimmunologische Verbesserung durch Sport wirkt offenbar zusätzlich durch eine Steigerung der neuronalen Wachstumsfaktoren (C. Chen et al., 2017; Guyer et al., 2016).

Die neurotrophe Wirkung von Sport unter Einfluss der Genvariabilität

Im Erwachsenenbereich, und zunehmend auch bei Kindern und Jugendlichen, wird die neurotroph-antidepressive Wirkung von Sport untersucht (Kempermann et al., 2010; Matta Mello Portugal et al., 2013; Yau, Lau & So, 2011). In den meisten Arbeiten wird dargelegt, wie Sport über eine Erhöhung der Wachstumsfaktoren BDNF und IGF-1, aber auch VEGF neurotroph und darüber antidepressiv wirkt (Dinoff et al., 2016; Jeon & Ha, 2015; Oberste et al., 2020; Szuhany, Bugatti & Otto, 2015; Szuhany & Otto, 2020). Die Studienlage bei Jugendlichen ist deutlich geringer, deutet aber in die gleiche Richtung (Wunram, Oberste, Ziemendorff, et al., 2021). Einschränkend ist hier zu erwähnen, dass die meisten Studien über die neurotrophe Wirkung von Sport im Jugendbereich an Gesunden durchgeführt wurden. Sie konnten die Hochregulierung von Wachstumsfaktoren (Kempermann, 2012; Kempermann et al., 2010) und hirnmorphologische Anpassungsreaktionen durch regelmäßige Sportinterventionen (ähnlich dem Erwachsenenbereich) replizieren (Cho, So & Roh, 2017; Heinze et al., 2021; Herting, Keenan & Nagel, 2016; Jeon & Ha, 2015). Bereits moderate sportliche Belastungen führten zu messbarer Hochregulierung neurotropher Faktoren (Jeon & Ha, 2015). Eine Erklärung für eine positive Korrelation zwischen Belastungsintensität und BDNF-Spiegeln könnte auch die durch Aktivität verursachte Laktatbildung sein (Schiffer et al., 2011). Genvarianten, wie zum Beispiel die BDNF-p.Val66Met-Variante, könnten die Expression der Wachstumsfaktoren unterschiedlich mediieren. Bei depressiven Erwachsenen profitierten Träger_innen des Val-66-Met-Allels in den meisten Studien weniger von der durch Sport induzierten Neurogenese im Hippocampus (Herting et al., 2016; Hopkins et al., 2012; Mata, Thompson & Gotlib, 2010).

Die Forschung zur genetischen Modulation der Wirkung sportlicher Betätigung auf (adoleszente) Depression steht noch am Anfang (Choi et al., 2020; de Geus, 2021; Johnson, Mortensen & Kyvik, 2020; Soler et al., 2022; Y. Wang & Ashokan, 2021). Sie eröffnet Möglichkeiten, genetische Prädiktoren bei der Gestaltung von Sportprogrammen zu berücksichtigen und damit deren Effektivität zu maximieren (Y. Wang & Ashokan, 2021). Angesichts der zügigen Fortschritte in der genetischen Diagnostik und Therapie in anderen medizinischen Disziplinen sollte man diese Thematik nicht außer Acht lassen. Präzisere Ergebnisse in genetischen Modellen könnten die Möglichkeit einer personalisierten Medizin eröffnen, indem man prädiktiv bestimmen könnte, für wen Sporttherapie wirksam ist (de Geus, 2021). Bei Jugendlichen sind Interventionsstudien, die den Effekt von Sport auf Wachstumsfaktoren, Neuroplastizität und Depressivität messen und zusätzlich die Moderation genetischer Varianten einbeziehen, gering bis inexistent. Laut unseres Wissens sind die Studien „Mood Vibes“ und „Balancing Vibrations“ der Uniklinik Köln die ersten, die diese Themen angehen (Oberste et al., 2018; Wunram, Oberste, Ziemendorff, et al., 2021).

Sport als neurotropher Enhancer der depressionsbedingt geminderten Kognition

Der positive Einfluss körperlicher Aktivität auf Neurogenese und kognitive Funktionen konnte für unterschiedliche Hirnareale und verschiedene Denkbereiche gezeigt werden (u. a. Exekutivfunktionen, Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis; Kempermann, 2012).

Mehrere Querschnittsstudien bei Kindern und Jugendlichen verknüpfen strukturelle und funktionelle hirnmorphologische Veränderungen mit dem Fitnesslevel (siehe Übersichtsarbeit von Belcher et al., 2021). Eine Assoziation zeigte sich vor allem zwischen kardiovaskulärer (aerober) Fitness und Hirnvolumina kortikaler Strukturen (Belcher et al., 2021; Chaddock-Heyman et al., 2015; Esteban-Cornejo et al., 2019; Herting et al., 2016). Untersuchungen mit präpubertären Stichproben geben Aufschluss zu bewegungsassoziierten Effekten auf subkortikale strukturelle und funktionelle Konnektivität und bringen diese in Verbindung mit verbesserter Lern- und Gedächtnisleistung (Belcher et al., 2021). Belcher et al. (2021) formulieren die Hypothese, dass sportliche Betätigung die Ausreifung und intrinsische Vernetzung des Präfrontalkortex sowie dessen Verknüpfung zu kortikolimibischen und frontoparietalen Netzwerken fördert. Damit könnte indirekt ein Einfluss auf die Reifung der exekutiven Funktionen und der Selbstregulationsfähigkeit durch Sport erreicht werden. Die vorhandenen Daten zur Beantwortung dieser Frage in Bezug auf depressive Stichproben, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, sind noch begrenzt (Feng et al., 2023). Aber auch hier geben einige Studien Hinweise auf positive hirnmorphologische Veränderung durch Bewegung in kognitions-assoziierten Netzwerken (Lin et al., 2020; Zhao et al., 2020).

Die neurobiologischen Erklärungsansätze zu den sportassoziierten kognitiven Effekten werden potenziell moduliert durch (1) molekulare und zelluläre Vorgänge (z. B. Neurogenese, Zellteilung, Zellkommunikation), durch (2) physiologische Biomarker (z. B. graue und weiße Substanz, Blutfluss,- volumina), und durch (3) periphere Biomarker (z. B. Wachstumsfaktoren, Inflammationsmarker; Kempermann, 2012; Lubans et al., 2016; Overall, Walker, Fischer, Brandt & Kempermann, 2016). Klinisch relevant in diesem Zusammenhang ist die Frage, ob neurokognitive Defizite bei depressiven Jugendlichen durch Sport nicht nur aufgeholt werden können, sondern ob dadurch auch eine neurokognitive Vulnerabilität gesenkt werden kann (Belcher et al., 2021; Hammar et al., 2022).

Fazit zur Neurophysiologie des Sports in der adoleszenten Depression

Die dargestellten Erkenntnisse zeigen die positiven Auswirkungen sporttherapeutischer Interventionen bei depressiven Jugendlichen unter einem neurophysiologischen Blickwinkel. Klinisch sind diese biologischen Mechanismen assoziiert mit signifikanten antidepressiven Effekten, auch in der Langzeitbeobachtung, über das Ende der Interventionen hinaus. Besonders effektiv erwiesen sich Sportaktivitäten mittlerer Intensität. Doch selbst sporttherapeutische Interventionen mit geringer Intensität konnten gezielt auf pathophysiologische Mechanismen der Depression bei Jugendlichen einwirken.

Die antidepressive Wirkung der Sporttherapie beruht auf multifaktoriellen neurobiologischen Mechanismen (siehe Abbildung 1). Es ist von entscheidender Bedeutung, die Effekte nicht sequenziell zu betrachten. Sporttherapie wirkt gleichzeitig an verschiedenen Stellen der pathophysiologischen Prozesse und setzt eine Umkehrung hin zu einer gesunden Regulation in Gang. Obwohl sowohl chronischer Stress als auch Sport vorübergehend zu erhöhten Kortisolspiegeln führen können, bewirkt regelmäßige sportliche Aktivität eine negative Rückkopplungsregulation der HHN-Achse. Ebenso löst akute sportliche Belastung vorübergehende Entzündungsreaktionen aus, regelmäßiger Sport führt jedoch langfristig zu einer Senkung von Entzündungsmarkern wie IL-6 und TNF-α. Darüber hinaus stimuliert regelmäßiger Sport die Produktion neurotropher Faktoren und trägt potenziell zur Steigerung kognitiver Funktionen bei. Dies kann nicht nur zur Minderung der depressiven Symptomatik führen, sondern auch die kognitiven Funktionen verbessern und möglicherweise die neurokognitive Vulnerabilität reduzieren.

Die zugrundeliegenden neurobiologischen Mechanismen sind von genetischer Variabilität beeinflusst, deren Rolle noch nicht vollends verstanden ist und die weiterer Forschung bedarf.

Implikationen für die bewegungstherapeutische Praxis

Die dargestellten neurophysiologischen Mechanismen können ihre Wirksamkeit erst entfalten, wenn sie in der Praxis in effektiver Art und Weise umgesetzt werden. Zu dieser „Translation“ der Wissenschaft gehört mehr als die neurobiologischen Wirkungen. Die sportwissenschaftlichen Fragen der Umsetzung der Trainings und die sporttherapeutischen Fragen, die für die Patient_innen von Bedeutung sind, müssen integriert werden. Das Schaffen einer Synthese zwischen Optimierung der Bewegungseinheiten und einer Maximierung der Adhärenz, bei bestmöglicher Wirksamkeit, ist die Herausforderung.

Aus Sicht der Therapeut_innen

In der Praxis stellt sich nun die Frage der optimalen Konzeption der Trainings, um maximale synergistische Wirkungen zwischen Neurobiologie und Psychologie zu erreichen. Hier sind noch viele Fragen offen (Oberste et al., 2020). Welche Art der Bewegung (Ausdauer- oder Kraftsport), welche Intensität (wieviel Watt/Kilo) und welche Frequenz sind optimal? Die Forschungsergebnisse in diesem Bereich sind noch nicht befriedigend (Paolucci et al., 2018). Einige Studien deuten darauf hin, dass die Trainingseinheiten aus biologischer Sicht mindestens eine moderate Intensität aufweisen sollten und Ausdauersport möglicherweise Kraftsport vorzuziehen ist. Es gibt jedoch noch keine klaren Ergebnisse bezüglich der Trainingsfrequenz, der Dauer der Einheiten und der Gesamtdauer der Intervention (Oberste et al., 2020). Angesichts dieser Unklarheiten bieten auch gängige Aktivitätsempfehlungen lediglich grobe Richtlinien. Die aktuellen Empfehlungen des Bundesministeriums für Gesundheit (2022) zu Bewegung für Kinder und Jugendliche stützt sich auf die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO; World Health Organization, 2019, 2020) und die nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung (Rütten & Pfeifer, 2017). Laut WHO werden mindestens 60 Minuten pro Tag mäßig bis starke aerobe Aktivität sowie muskel- und knochenstärkende Übungen an mindestens 3 Tagen pro Woche empfohlen. In den nationalen Empfehlungen raten Rütten und Pfeiffer (2017) zu 90 Minuten Bewegung moderater bis hoher Intensität, wovon 60 Minuten auch Alltagsaktivitäten (z. B. mindestens 12 000 Schritte) sein dürfen (Bundesministerium für Gesundheit, 2022).

Aus Sicht der Jugendlichen

Die Therapie der (adoleszenten) Depression wird jedoch nicht allein durch (neuro)biologische Faktoren bestimmt (Malhotra & Sahoo, 2018). Sporttreiben ist ein komplexes bio-psycho-soziales Phänomen. Daher müssen neben der optimalen Dosierung sportlicher Aktivität bezüglich ihrer biologischen Auswirkungen ebenso die relevanten psychosozialen Aspekte integriert werden, um synergistisch wirken zu können. Eine scheinbar optimal ausgerichtete sporttherapeutische Intervention auf biologischer Ebene könnte wirkungslos sein, wenn sie die subjektive Situation und die spezifischen psychosozialen Aspekte der Jugendlichen nicht ausreichend berücksichtigt. So sollte zumindest eine neutrale Einstellung gegenüber der Effektivität der Sporttherapie der Jugendlichen erreicht werden, um keinen „Nocebo-Effekt“ hervorzurufen (Wunram et al., 2022). Zudem sind individuelle Unterschiede in der subjektiven Belastbarkeit, im psychophysischen Aktivierungsgrad oder unterschiedliche Motive und Erwartungen sowie Differenzen im physischen Selbstkonzept der Jugendlichen zu berücksichtigen (Thimme, Deimel & Hölter, 2021). Subjektiv bedeutsame Erfolgserlebnisse und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit können ebenfalls eine Rolle spielen (Sunesson, Haglund, Bremander, Jarbin & Larsson, 2021; Wunram et al., 2018). Eine weitere große Herausforderung ist das Aufrechterhalten, d. h. das langfristige Einbinden körperlicher Aktivität in den Alltag. Gerade depressiv erkrankte Jugendliche sind krankheitsbedingt schwieriger in die Aktivität zu bringen. Zusätzlich mangelt es häufig an einem aktivitätsunterstützenden Umfeld (Sunesson et al., 2021).

Aufgrund der depressionsinhärenten Schwierigkeit, Jugendliche zu aktivem Sporttreiben zu motivieren, wurden und werden in den Kölner Studien „Mood Vibes“ und „Balancing Vibrations“ Jugendliche mit Vibrationsplattentraining behandelt. Die Ergebnisse sind vielversprechend und es bleibt die Hoffnung, dass nach Besserung der Symptomatik, die Jugendlichen auch zu aktiver gestalteten Sportmethoden motiviert werden können (Wunram et al., 2018).

Eine weitere Idee ist, die Empfehlungen zur körperlichen Aktivität bei jugendlicher Depression niedrigschwellig zu belassen und an die Leitlinien der Adipositas anzulehnen. Hier werden als primäre Ziele „die Verringerung der körperlichen Inaktivität (z. B. Medienkonsum, TV/Computer), die Steigerung der Alltagsaktivität und die Anleitung zum körperlichen Training“ genannt (Deutsche Adipositas Gesellschaft & Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, 2019).

Ein zusammenfassender Ausblick der Synthese zwischen Neurophysiologie und Praxis

Aufgrund der beschriebenen Erkenntnisse über die positiven neurophysiologischen Wirkungen von Sport auf die jugendliche Depression lässt sich eine eindeutige Empfehlung zur Integration sportlicher Aktivität als Therapieoption (zumindest als Add-on) aussprechen. Wie in der vorliegenden Übersichtsarbeit dargestellt, ist Bewegung vielfältig therapeutisch wirksam. Sie verbessert die Neuroendokrinologie und -immunologie, die Neurogenese, die Neurokognition und die kortikale Erregbarkeit.

Trotz oder auch aufgrund dieser vielfältigen neurobiologischen Effekte scheint Sport nicht für alle Jugendlichen gleichartig wirksam zu sein. Und nicht alles ist Neurobiologie, was therapeutisch wirkt. Psychologische Mechanismen wie die Selbstwirksamkeit, die Beherrschung einer Sache, positive Erwartungen an den Sport, positive soziale Interaktionen oder Vorbildfunktionen der Trainer_innen sind ebenfalls wichtig und müssen synergistisch mit der Neurobiologie genutzt werden. Daraus ergeben sich große Herausforderungen bei der klinischen und therapeutischen Umsetzung.

Aufgrund unserer positiven Ergebnisse zur Add-on-Therapie depressiver Jugendlicher mit einfach auszuführendem Vibrationsplattentraining schlagen wir vor, Sport als Add-on-Therapie dringend in die neuen Behandlungsleitlinien der adoleszenten Depression aufzunehmen. Es wäre wünschenswert, wenn in einem weiteren Schritt diese antidepressiv wirkenden Sportbehandlungen als Regelleistungen der Krankenkassen übernommen werden könnten, bevor die Jugendlichen gesund genug sind, Sport wieder in ihren sozialen Alltag zu integrieren.

Literatur