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Free AccessEditorial

Impfen gegen SARS-CoV-2 im Schneckentempo

Published Online:https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003702

Das Impftempo bei COVID-19 ist in der Schweiz langsam, selbst bei Verfügbarkeit von Impfstoffen. Das schränkt die Berechenbarkeit der Zukunft für Ungeimpfte, seien dies junge Erwachsene oder ältere Personen, für Betriebe und Organisationen, die Wirtschaft und die ganze Gesellschaft ein. Fehlende Berechenbarkeit und fehlender Kampfwille bei der Überwindung einer Gefahr wiederum erzeugen erhebliche Unruhe, Angst und manchmal Verzweiflung, individuell und kollektiv. Diese negativen Stimmungen lassen sich nicht immer kontrollieren, und es entsteht ein ungutes Gefühl der Wehr- und Hilflosigkeit.

Zwischen der Lieferung von Impfstoffen und den Impfungen ergeben sich gemäss Medienberichten wesentliche Verzögerungen. Zum Beispiel trafen grosse Mengen von Impfstoff unmittelbar vor Ostern in der Schweiz ein. In einzelnen Kantonen begann das Impfen teilweise erst nach einer Woche. Grossbritannien und Israel sind zwei Länder mit einem Bruttonationaleinkommen pro Kopf im Jahr 2019 von etwa der Hälfte des unseren [1]. Diese Länder haben im Vergleich zur Schweiz pro Kopf oder Patient_ in wesentlich weniger personelle und materielle Ressourcen im Gesundheitswesen und kämpfen zudem mit erheblichen anderen Problemen. Aber es wurde dort unmittelbar nach Eintreffen der Lieferungen rund um die Uhr geimpft. In Israel konnten zum Beispiel bereits wenige Stunden nach Eintreffen der Impfstoffe am Flughafen von Tel Aviv mit dem logistisch besonders heikel zu handhabenden Impfstoff von BioNTech/Pfizer Massenimpfungen durchgeführt werden. Befreundete General Practitioners in London erzählten mir bereits im Winter 2021, dass sie sich von den frühen Morgenstunden an bis in die Nachtstunden hinein um die Impfungen kümmerten, teilweise in Hubs/Knotenpunkten, im Wintermantel und mit kalten Fingern, aber – God save the Queen! – mit heissem Tee. In Israel konnten täglich bis zu 3 % der Bevölkerung geimpft werden. Es impften nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern auch Krankenpfleger_innen, MPAs, Rettungssanitäter_ innen, u.a., denn in den meisten Ländern mit weniger Ressourcen ist es eine seltsame Vorstellung, dass Ärztinnen und Ärzte persönlich impfen. Selbstverständlich sind Letztere für Komplikationen und spezielle Fragen in den Impfzentren jederzeit greifbar. In den USA hat man in der Woche nach Ostern, ab dem 5. April, die 1 %-Marke der in der Bevölkerung Geimpften pro Tag überschritten. Es wird beinahe überall geimpft, in Stadien, in der Shopping Mall, in der Apotheke, auf der Strasse, im Drivethrough. Ab dem 19. April 2021 können sich alle erwachsenen Amerikaner ohne Einschränkung impfen lassen, de facto je nach Ort oft schon jetzt. Motto: Speed trumps perfection! Geschwindigkeit triumphiert über Perfektion.

Im Gegensatz dazu präsentiert sich die Schweiz mit einer viel zu grossen Risikoaversion, einem unnötigen und verlangsamenden Perfektionismus und bedrückender, bürokratischer Komplexität und Trägheit. Mangelnde Effizienz ist hier aber in keiner Hinsicht zulässig, weder epidemiologisch, medizinisch, psychologisch, sozial, organisatorisch noch wirtschaftlich, und schon gar nicht ethisch. Denn mangelnde Effizienz und Geschwindigkeit kosten Leben. Bei Verfügbarkeit von Impfstoff muss es schnell gehen, innerhalb von Stunden soll das Impfen losgehen, unabhängig von Tageszeit, Wochenende, Feiertag oder was auch immer. Dafür stehen eine gewissenhafte Ärzteschaft und viele andere Menschen in Gesundheitsberufen jederzeit ein – die standhaften und improvisationserprobten Engländerinnen und Engländer können uns als Vorbild dienen; sie sind jederzeit einsatzbereit.

Bibliografie

Prof. Dr. med. Edouard Battegay, FACP, Facharzt Innere Medizin, ESH Specialist in Hypertension, Fellow SSPH + Herausgeber «Praxis», Leiter Innovation Hub, International Center for Multimorbidity and Complexity in Medicine (ICMC), Universität Zürich,