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Free AccessEditorial

Sportpsychiatrie und -psychotherapie im Breitensport

Sports Psychiatry in Popular Sports

Published Online:https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003864

Die Entwicklung der Sportpsychiatrie als medizinische Fachdisziplin nahm Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in den USA ihren Ursprung. Im deutschen Sprachraum ist die Entwicklung der Sportpsychiatrie und -psychotherapie eng mit dem gleichnamigen Referat der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) verbunden, das sich im Jahr 2010 gründete.

In der Schweiz gründete sich neun Jahre später mit der Schweizerischen Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP) die erste nationale und erst zweite spezifische Fachgesellschaft nach der International Society for Sports Psychiatry (ISSP).

Während der Fokus der Sportpsychiatrie in den USA und in anderen Ländern sowie der ISSP weiterhin auf psychischer Gesundheit und Erkrankungen im Leistungssport liegt, wurden vor allem im deutschen Sprachraum und in der Schweiz von Anfang an zwei Tätigkeitsfelder von Sportpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen diskutiert und hervorgehoben: (i) psychische Gesundheit und Erkrankungen im Leistungssport und (ii) Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen.

Diese beiden und etablierten Tätigkeitsfelder waren Inhalt im ersten Themenheft Sportpsychiatrie und -psychotherapie in der «Praxis» Ausgabe 4/2022.

Sportpsychiatrische Inhalte werden in der Medizin aber schon sehr viel länger diskutiert und aufgenommen als es die eingangs beschriebene Entwicklung vermuten lässt. Als ein schönes und bemerkenswertes Beispiel hierfür ist der Vortrag über «Sportübertreibungen» zu nennen, gehalten von Geheimrat Prof.Dr.Kraus, Berlin, auf dem 1. sportärztlichen Kongress vom 21. bis 23.09.1912 in Oberhof/Thüringen, Deutschland; und aus der sportpsychiatrisch-psychotherapeutischen Perspektive lässt der Titel an die Sport- und Bewegungssucht denken.

Sportspezifische psychische Störungen und Erkrankungen im Breitensport

Sportpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen sind in ihren Sprechstunden nicht selten mit suchthaftem Sport- und Bewegungsverhalten ihrer Patient_innen konfrontiert, das vermutlich mehrheitlich im Breitensport und nicht im Spitzen- und Leistungssport zu finden ist und sich somit nicht (zufriedenstellend) in eines der beiden etablierten Tätigkeitsfelder einfügen lässt.

Weitere sportspezifische psychische Störungen und Erkrankungen im Breitensport, die häufig auch den Tätigkeitsfeldern von Sportpsychiater_innen und -psychotherapeut_innen zugeordnet werden, sind die Muskeldysmorphie oder der Medikamentenmissbrauch im Freizeitsport, aber auch bestimmte Aspekte gestörten Essverhaltens und der Essstörungen.

In der Behandlung einer Essstörung haben Ärzt_innen, Psychiater_innen und Psychotherapeut_innen sich schon immer neben dem Ess- auch mit dem Sport- und Bewegungsverhalten ihrer Patient_innen auseinandersetzen müssen. Dies ist ein weiteres Beispiel für sportpsychiatrisch-psychotherapeutische Inhalte in der Medizin sowie der Psychiatrie und Psychotherapie, noch vor der Entwicklung der eigentlichen Sportpsychiatrie und -psychotherapie als medizinische Fachdisziplin. Eine zusätzliche sportpsychiatrische Expertise könnte bei diesen schwer behandelbaren Erkrankungen hilfreich sein, zum einen in der störungsspezifischen Behandlung der «Sport- und Bewegungsstörung» bei diesen Patient_innen, aber auch im therapeutischen Einsatz von körperlicher Aktivität in den Behandlungskonzepten.

Eine Einordnung dieser weiter genannten psychischen Störungen und Erkrankungen in die beiden etablierten Tätigkeitsfelder von Sportpsychiater_innen und -psychotherapeuten_innen – im Leistungs- und Gesundheitssport – ist ebenfalls nicht möglich und sinnvoll, sodass es eines weiteren Tätigkeitsfeldes bedarf: sportspezifische psychische Störungen und Erkrankungen im Breitensport.

Dieses 2. Themenheft Sportpsychiatrie und -psychotherapie in der «Praxis» soll diesem dritten Tätigkeitsfeld der Sportpsychiatrie und -psychotherapie vorbehalten sein.

Die Beiträge in diesem Heft sind erneut mit der Massgabe des Praxisbezugs und der Relevanz für die tägliche Arbeit praktisch tätiger Arzt_innen geschrieben und sollen die Bedeutung von sportpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Inhalten ausserhalb der Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Sportpsychiatrie und -psychotherapie und in der Praxis ein weiteres Mal aufzeigen.

Einen besonderen Schwerpunkt in diesem zweiten Themenheft nimmt dabei der Medikamentenmissbrauch im Breitensport ein.

Gebrauch von IPED im Breitensport

Image- and Performance-Enhancing Drugs (IPED) ist der Überbegriff für eine Gruppe von Substanzen und Medikamenten, die zur Optimierung von Aussehen und Leistung und in den meisten Fällen ohne medizinische Indikation und Verschreibung eingenommen werden. Zu den bekanntesten IPED-Vertretern gehören die anabol androgenen Steroide (AAS, Anabolika).

Der Gebrauch von Substanzen und Medikamenten zur Verbesserung der Leistung wird vor allem im Leistungssport wahrgenommen und diesem zugeordnet, ist aber auch im Breitensport von grosser Bedeutung und übertrifft den Leistungssport dabei in Hinblick auf die Zahl der Konsumierenden und die insgesamt verwendeten Mengen bei weitem.

Der Gebrauch von AAS ist in der Bodybuildingszene weit verbreitet, und als Risikogruppen für den Gebrauch gelten neben Leistungssportler_innen und Bodybuilder_innen junge Männer und auch Freizeitsportler_innen und Fitnessstudionutzer_innen.

Paradoxerweise wird von einigen Anwendenden der IPED- und AAS-Gebrauch als Unterstützung ihres «gesunden» Lebensstils betrachtet, die gesundheitlichen Folgen des Gebrauchs werden verdrängt und nicht wahrgenommen.

Medizinische Versorgungsangebote werden von den Konsumierenden häufig aus Angst vor Stigmatisierung oder Scham nicht oder nur selten aufgesucht, und das Wissen von Freund_innen, bestimmten (nicht medizinischen) Internetseiten und Social Media Accounts oder auch der Steroiddealer_innen wird von den IPED-Anwendenden als nicht weniger verlässlich betrachtet als das Wissen von Ärzt_innen.

Insbesondere praktisch tätige Ärzt_innen und Allgemeinmediziner_innen sind häufig in ihren Sprechstunden mit Patient_innen und den Folgen des IPED-Gebrauchs konfrontiert, sodass ihnen eine zentrale Rolle zukommt, um den Gebrauch bei ihren Patient_innen zu erkennen, diesen in geeigneter Weise anzusprechen, aber auch nachzufragen sowie mit den Folgen des Gebrauchs fachgerecht umzugehen. Dazu gehört ebenso das Verständnis, dass der Gebrauch von AAS zu einer Abhängigkeit führen kann und die anabolen, androgenen und hedonistischen Effekte es den Betroffenen schwer machen, den Gebrauch zu sistieren. So bedarf es neben weiteren medizinischen Spezialisten, wie Kardiolog_innen und Endokrinologen_innen, auch des Einbezugs von Suchtmediziner_innen und Psychiater_innen und Psychotherapeut_innen. Letztere auch in Hinblick auf die weiteren und schweren psychischen und verhaltensassoziierten Störungen, die mit dem Gebrauch von IPED und AAS einhergehen.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in vielen Ländern – im Leistungssport und Breitensport – erschweren zudem häufig den Zugang zu medizinischen Dienstleistungen für IPED- und AAS-Konsumierende. Wünschenswerterweise sollten die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Zukunft das Wissen um die Abhängigkeitsentwicklung bei bestimmten Substanzen und Medikamenten sowie die Prinzipien der Schadensminimierung auch im Sportkontext mehr berücksichtigen, ohne dabei die Grundprinzipien der Dopingbekämpfung im Sport in Frage zu stellen.

All diese Aspekte werden umfangreich in zwei Mini-Reviews und einem klinischen Kurzstandard zum IPED- und AAS-Gebrauch aufgenommen. Online steht zusätzlich eine englische Version dieser Artikel zur Verfügung. In einer breit angelegten Forschungsinitiative möchten wir zudem in den nächsten Jahren verschiedene Themen zum IPED-Gebrauch im Breitensport ansprechen.

Ich wünsche Ihnen auch mit diesem zweiten Themenheft Sportpsychiatrie und -psychotherapie eine interessante und «bewegende» Lektüre.

Mit sportlichen Grüssen

Malte Christian Claussen