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Free AccessNachrichten

Nachruf auf Dirk Hellhammer

1947 – 2018

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000449

Kaum jemand konnte Menschen so sehr für die Psychobiologie begeistern wie Dirk Hellhammer. Nach jedem seiner Lehraufträge an der Universität Basel brachen junge Menschen nach Trier auf, um dort zu lernen und zu forschen. Auch in Trier selber ließen sich Generationen von Studentinnen und Studenten von seinem Enthusiasmus und seiner Vision einer psychologisch und biologisch begründeten Psychosomatik anstecken. Sie machten das Forschungszentrum für Psychobiologie und Psychosomatik (FPP) zu einer führenden Nachwuchsschmiede der biologisch orientierten Psychologie mit einer Ausstrahlung weit über Deutschland hinaus.

„Gehirn und Verhalten“ war nicht nur der Titel seines ersten Buches, sondern auch das Programm zu Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit. Rasch weitete er seinen Fokus aus und nahm auch den restlichen Körper in seine Arbeit auf, insbesondere die hormonelle Steuerung bzw. Fehlsteuerung, ohne dabei jedoch die entscheidende Bedeutung des Wechselspiels mit der Umwelt aus den Augen zu verlieren. Zudem betrieb Hellhammer Wissenschaft nicht als „l‘art pour l‘art“, sondern mit festem Blick auf die Anwendung. Für echten Fortschritt muss Wissenschaft sich bewähren. Wenn das nicht nur in der Theorie und Empirie der Fall ist, sondern auch in der Welt außerhalb des Labors, dann ist der Gewinn für alle Seiten am größten. In seiner Arbeit ergänzten sich Grundlagen und Anwendung ebenso wie idiographische und nomothetische Ansätze.

Dirk Hellhammer wurde in Hannover geboren. Da sein Vater Bauingenieur im Wasserbau war, zog es die Familie an Orte von Wasser- und Schifffahrtsämtern. Die Volksschule besuchte er in Lingen an der Ems, das Gymnasium in Rheine und Ibbenbüren, wo er 1966 die Abiturprüfung ablegte. Im Anschluss an die Bundeswehrzeit ging es südwärts. Nach bestandenem Aufnahmetest konnte er ab 1969 in Würzburg Psychologie studieren. Dort erwarb er 1974 das Diplom in Psychologie. Parallel zum Studium hatte er sich in der in der Biochemie umgesehen und von 1971 – 1972 als Stipendiat und Diplomand am Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung gearbeitet. Dennoch blieb er in der Regelstudienzeit – noch bevor diese überhaupt eingeführt wurde. In Frankfurt arbeitete er dann auch von 1974 – 1977 mit einem Stipendium an seiner Dissertation. Im Jahr 1978 promovierte er in Würzburg zum Dr. phil. mit dem Hauptfach Psychologie und den Nebenfächern Philosophie und Physiologie. Zudem schloss er 1980 seine Ausbildung in Verhaltenstherapie ab.

In dem knappen Jahrzehnt von 1977 – 1986 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent in Münster, NATO-Forschungs-Stipendiat an der Indiana University und Leiter der Arbeitsgruppe Verhaltensneuroendokrinologie in der Münsteraner Forschungsgruppe für Reproduktionsmedizin der Max-Planck-Gesellschaft (ab 1981). Seine Habilitation in Physiologischer und Klinischer Psychologie erfolgte 1984 in Münster. Zwei Jahre später wurde er dann auf die Professur für Klinische und Physiologische Psychologie an der Universität Trier berufen. Hier baute er in kurzer Zeit das FPP auf, das er über Jahrzehnte leitete. Der ungewöhnliche Erfolg seiner Arbeit machte ihm dort ab 2001 die Gründung des Postgraduiertenstudiums und später des Forschungsinstituts für Psychobiologie möglich. Zugleich wechselte er auf die neu eingerichtete Professur für Theoretische und Klinische Psychobiologie. Trotz auswärtiger Rufe und attraktiver Angebote, blieb er der Universität Trier bis zum Ende seiner Laufbahn treu. Auch der Ruf auf einen Lehrstuhl in Münster, von wo er seine Karriere begonnen hatte, und das Angebot Department Chair am Chandler Medical College in Lexington (USA) zu werden, konnten ihn nicht zum Verlassen Triers bewegen.

Dort konnte er mit einem Kooperationsvertrag mit der Caritas Trägergesellschaft Trier (CTT) eine umfangreiche anwendungsnahe klinische Forschung aufbauen. Die Ergebnisse kamen den Patientinnen und Patienten unmittelbar zugute, wobei die Schwerpunkte in den Bereichen Gynäkologie, Magen-Darmerkrankungen, Schlafstörungen, Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters, Schmerzstörungen, Allergien und Krebserkrankungen lagen. Im Laufe der Zeit hatte das Forschungszentrum bis zu 15 Abteilungen mit mehr als 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Es gilt bis heute als eines der auch international führenden psychobiologischen Forschungsinstitute. Eine Affäre um die CTT, mit der er über Jahre erfolgreich zusammengearbeitet hatte, beeinträchtigte dann vorübergehend auch Hellhammers Karriere, „an seiner Reputation als Wissenschaftler änderte das aber nichts“ (Trierischer Volksfreund am 5. 1. 2018). Seit 2002 war er Lehrbeauftragter an der Universität Basel und ab 2013 arbeitete er mit dem von seiner Frau Juliane Hellhammer geleiteten Stress-Zentrum Trier zusammen.

Dirk Hellhammer war ein sehr aktives Mitglied der Fachgruppen Klinische und Biologische Psychologie der DGPs. Er war regelmäßig als Gutachter zahlreicher europäischer und außereuropäischer Fördereinrichtungen und als Rezensent und Fachvertreter in Editorial Boards verschiedenster nationaler und internationaler Fachzeitschriften tätig. Überdies war er im wissenschaftlichen Beirat einer großen Zahl von Forschungszentren, Universitäten und Unternehmen. Er erhielt zahlreiche wissenschaftliche und öffentliche Auszeichnungen, darunter den Deutschen Psychologie Preis (1999) und den Lifetime Achievement Award sowie die Ehrenmitgliedschaft der International Society for Psychoneuroendocrinology (2012), der er von 2002 – 2005 als Präsident diente. Er war Fellow mehrerer wissenschaftlicher Fachgesellschaften, u. a. der Academy of Behavioral Medicine Research (USA) und des American College for Neuropsychopharmacology (USA). Eine ganz besondere Leistung stellt darüber hinaus sein außerordentlich erfolgreiches Mentoring des wissenschaftlichen Nachwuchses dar. Viele seiner rund 60 Doktorandinnen und Doktoranden haben inzwischen eigene erfolgreiche wissenschaftliche Karrieren gemacht. Die Liste seiner Schülerinnen und Schüler liest sich wie ein „Who is Who“ der internationalen Psychobiologie, sie treiben nun das Fach und seine Nachbardisziplinen voran.

Seine Forschungsschwerpunkte lassen sich in vier Bereiche gliedern: Zunächst tierexperimentelle Hirnforschung, dann klinisch-psychobiologische Forschung und Entwicklung von Labormethoden und darauf aufbauend dann die Erarbeitung des von ihm als erstes translationales Diagnostiksystem der Stressmedizin konzipierten Neuropattern-Verfahrens. Die frühen tierexperimentellen Arbeiten befassten sich mit der Interaktion von Neuronen und Gliazellen, dem septo-hippocampalen System sowie Hirnfunktionen, die mit stressbedingten körperlichen Erkrankungen zusammenhängen. In seiner klinischen Forschung beschäftigte er sich zunächst vorrangig mit Ulcus pepticum, Anorexia nervosa, Colitis ulcerosa und Infertilität. Später charakterisierte seine Arbeitsgruppe dann hypocortisoläme Erkrankungen (Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom, Burnout, etc.) als abgrenzbares Spektrum psychosomatischer Gesundheitsstörungen.

Sehr große Wirkung entfaltete seine Arbeitsgruppe dann mit der Etablierung und Entwicklung wesentlicher Labormethoden der Psychoendokrinologie. Insbesondere die Cortisolmessung im Speichel, der „Trier Social Stress Test (TSST)“, die intranasale Applikation von Oxytocin und die Erfassung des Cortisolpeaks am Morgen als bedeutsamster Stressindikator der basalen Hormonfreisetzung brachten die psychobiologische Forschung voran. Tausende von Zitationen und die Karrieren seiner daran beteiligten Schüler und Schülerinnen liefern eindrucksvolle Belege des Erfolgs dieser wegweisenden Arbeiten.

Im Jahr 2003 nahm er die Nachrufe auf Frederick Kanfer und Herbert Weiner und das mit ihrem Tod verbundene Ende der Gründungsepoche von Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin zum Anlass einer Zwischenbilanz. Die Tatsache, dass trotz aller Fortschritte noch immer unklar blieb, ob „Störungen von Organfunktionen in einem direkten Zusammenhang mit psychischen Ereignissen stehen“ führte ihn zu der Erkenntnis, „dass wir … versuchen müssen, anwendungsnahe Ordnungssysteme zu entwickeln, welche gleichermaßen der psychologischen und biologischen Wirklichkeit gerecht werden“. Hellhammer legte die große Kluft zwischen Grundlagenforschung und klinischer Anwendung schonungslos offen. Er machte sich daran, diesen Graben zum beiderseitigen Vorteil durch die Entwicklung konzeptioneller Endophänotypen und darauf aufbauender Diagnostik- und Interventionsverfahren zu überbrücken. Damit nutzten Hellhammer und sein Team das Verständnis psychobiologischer Systeme einschließlich ihrer funktionellen Rolle im Umweltkontext und in der klinischen Praxis zur Strukturierung klinisch relevanter Informationen. Als Ergebnis dieser letzten Arbeitsphase entwickelte er u. a. mit seiner Frau Juliane das Diagnostiksystem Neuropattern. Dieses orientiert sich an der Hess′schen Unterscheidung von ergotropen und trophotropen Systemen, ergänzt um die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse als glandotropes System sowie die noradrenergen und serotonergen ZNS-Bahnen. Hellhammer geht davon aus, dass das Zusammenspiel dieser drei Systeme mit Hirnregionen, die v. a. emotional-motivationale und kognitive Komponenten repräsentieren, die elementaren Prozesse der Stressreaktion steuert. Insgesamt wurden 13 verschiedene konzeptionelle Endphänotypen definiert und den drei Systemen zugeordnet. Zur Erfassung dient ein Testset mit Fragebögen, Salivetten zur Cortisolmessung im Speichel und einem kleinen EKG-Gerät zur Messung der Herzfrequenzvariabilität. Um die komplexen Ergebnisse für die Versorgung ambulanter Patienten zu veranschaulichen, wurde die „Stresstriangel“ entwickelt. Jede Ecke der Triangel stellt den Zustand eines der drei Stresssysteme dar. Bei einem gesunden Menschen sollten alle drei Systeme im Gleichgewicht miteinander und im Normbereich sein. Bei stressbezogenen Gesundheitsstörungen treten Dysregulationen (Hyperaktivität, Hyperreaktivität oder Hypoaktivität) auf. Mittels der Stresstriangel lassen sich diese Abweichungen nach oben und nach unten dreidimensional darstellen und Interventionen begründen. Erste empirische Überprüfungen des Anspruchs auf bessere Therapieeffekte mit Hilfe von Neuropattern wurden in den letzten Jahren veröffentlicht.

Hellhammers Forschung fand ihren Niederschlag in über 500 wissenschaftlichen Publikationen. Gleich mehrere seiner Originalarbeiten gehören zu den meistzitierten Artikeln der Psychoneuroendokrinologie, darunter fünf Arbeiten mit jeweils über 1000 Zitationen im Web of Science. Sein Konzept der Psychobiologie als idealer Grundlage der Erforschung stressbezogener Gesundheitsstörungen beeindruckte auch ältere Kollegen im In- und Ausland. Hellhammer baute weitgespannte internationale Netzwerke auf, wobei er zum Nutzen des Faches und des Nachwuchses Freundschaften und fachliche Zusammenarbeit gleichermaßen pflegte. Wohin man in der akademischen Welt auch kam, konnte man gefragt werden „how′s Dirk?“.

Dirk Hellhammer war ein humorvoller, herzlicher Familienmensch, sein Interesse an Kindern (nicht nur den eigenen) und seine Fähigkeit, dauerhafte Beziehungen zu ihnen aufzubauen waren beeindruckend. Er pflegte Freundschaften intensiv, schrieb Gedichte und war den schönen Seiten des Lebens nicht abgeneigt. Einer der von ihm meistzitierten Aussprüche war „the academic life is rather pleasant“. Auch am Ende seines Lebens und von Krankheit gezeichnet, war er noch bewundernswert positiv, zukunftsgewandt und interessiert. Am 1. Dezember 2018 hat Dirk Hellhammer nach langer, schwerer Krankheit sein Leben im Kreis seiner Familie beendet. Um ihn trauern seine Frau Juliane, vier Kinder und deren Familien, seine Schülerinnen und Schüler sowie Freunde und Kolleginnen und Kollegen. Das Fach verliert einen zentralen Wegbereiter, Vertreter und Förderer der psychobiologischen Forschung in Deutschland, Europa und der Welt.

Für die Deutsche Gesellschaft für Psychologie Jürgen Margraf