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Sexualisierte Gewalt, Übergriffe und Fehlverhalten von Angehörigen der Heil- und Pflegeberufe gegen Kinder und Jugendliche im ambulanten und stationären Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Published Online:https://doi.org/10.1026/0942-5403/a000354

Abstract

Zusammenfassung.Theoretischer Hintergrund: Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und Übergriffen im Gesundheitswesen ist ein Thema, das von den relevanten Berufsgruppen noch nicht umfassend bearbeitet wurde. Fragestellung: Ziel dieses Beitrages ist es, einen Überblick über Formen und Ursachen von Gewalt durch medizinisches Personal zu geben. Methode: Auf der Grundlage einer selektiven Literaturrecherche sowie Fallvignetten aus der beruflichen Praxis werden Formen und Ursachen von Gewalt im medizinisch-therapeutischen Kontext dargestellt und eine Systematisierung von Tätertypen vorgenommen. Ergebnisse: Professionelles Fehlverhalten von Angehörigen der Gesundheitsberufe kann sich in verschiedenen Formen zeigen. Ebenso sind die Ursachen von Gewalt vielfältig. Diskussion und Schlussfolgerung: Die Interventionen nach Fehlverhalten müssen individuell angepasst werden. Die Kinderschutzkompetenzen von Fachkräften müssen gestärkt und Schutzmaßnahmen in Institutionen implementiert werden.

Sexual Abuse and Misconduct Toward Children and Adolescents by Health Professionals in Inpatient and Outpatient Child and Adolescent Psychiatry

Abstract.Background: Although sexual abuse and misconduct in health care have increasingly become the focus of both society and research, the issue of protection of children and adolescents from violence and abuse in health care has not yet been comprehensively addressed by the relevant professional groups. Apart from so-called ”scandals,” there is a lack of systematic data collection on the frequency and the implementation of safeguarding measures against sexual abuse and violence in the medical-therapeutic field. Objective: This article provides an overview of the various forms and causes of violence by health care professionals. Methods: Based on a selective literature search, we provide details on different forms of abuse and causes of violence in the medical-therapeutic context as well as a systematization of perpetrators. Case vignettes from practice are used to show the variety of possible assaults and to give examples of individual and structural causes of violence. Results: Professional misconduct by health care professionals can be attributed to different forms of violence: emotional, sexual abuse, physical abuse, and neglect. For sexual abuse, we distinguish boundary violations, sexual assaults, and targeted acts against sexual self-determination. The use of violence can have very different reasons, at the individual level, such as personal problems, high levels of stress at work, and a lack of knowledge of clinical standards; but it can also occur on the structural or societal level. The former encompasses negative attitudes against certain vulnerable population groups, while the latter include a lack of awareness of the issue of violence or work overload of professionals. Different measures are necessary, depending on the form and reason for misconduct. Some become perpetrators because of personality and situation, in the first case because of their general orientation to relationships and sexual desires toward children, mostly at a specific predilection age. Perpetrators ensuing from situations do not have a primary sexual orientation toward children and adolescents but exploit structures and processes. They can better be deterred by establishing institutional standards and regulations for protection in institutions. Discussion and Conclusion: Interventions after misconduct and violence must be individually adapted. Preventive measures must be targeted. The abusive use of coercive measures must be considered especially in the field of child and adolescent psychiatry. Institutional prevention and guidelines for intervention are necessary to protect and empower health care professionals. In the training of professionals, the principles of child protection should be taught and the competencies for developing an institution as a place of protection against violence promoted. The Federal Joint Committee (G-BA) has made clear specifications for implementing safeguarding measures in clinics and practices.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und Missbrauch in der Krankenbehandlung ist eine Thematik, welche noch nicht umfassend in den entsprechenden Berufsgruppen angekommen ist. Abseits von sogenannten „Skandalen“ und „Einzelfällen“ fehlt es noch an mehr systematischen Datenerhebungen zur Häufigkeit (vgl. Beitrag Rassenhofer, Korger, Fegert & Hoffmann, 2021) sowie der Umsetzung von Schutzkonzepten vor (sexualisierter) Gewalt im medizinisch-therapeutischen Bereich (vgl. Beitrag Hoffmann, Fegert, König, Maier & Herberhold, 2021). Dabei zeigen die bereits vorliegenden Untersuchungen zu Häufigkeiten bei Repräsentativbefragungen in der Allgemeinbevölkerung, dass sexualisierte Gewalt, Übergriffe und Fehlverhalten, gerade im Bereich der kinder- und jugendpsychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung gehäuft vorkommen.

Um die Misshandlungsformen einordnen zu können und Interventionen abzuleiten, ist es notwendig, die verschiedenen Formen zu systematisieren sowie mögliche Ursachen für Gewalt und Übergriffe zu kennen. Hierfür wird im ersten Teil des vorliegenden Beitrages eine Systematisierung vorgestellt. Nachfolgend werden kurze Fallvignetten aus dem kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich geschildert und eingeordnet.

Der zweite Abschnitt des Beitrages beschäftigt sich mit einer möglichen Einteilung von Tätern und führt diese ebenfalls anhand eines Fallbeispieles aus.

Systematisierung von Misshandlungs-formen und Ursachen für Gewalt im medizinisch-therapeutischen Kontext

Systematisierung der Misshandlungsformen

Im Bereich des Kinderschutzes wird für die Einteilung der verschiedenen Misshandlungsformen im Kontext von Gewalt in der Familie häufig die der American Centers for Disease Control verwendet (Leeb, Paulozzi, Melanson, Simon & Arias, 2008) genutzt. Diese kann in modifizierter Form auch für entsprechende Übergriffe im medizinisch-therapeutischen Kontext verwendet werden.

In der genannten Einteilung wird unterschieden zwischen der Kindesmisshandlung (Handlung), in den Formen körperliche (physische) Misshandlung, psychische (emotionale/seelische) Misshandlung und sexuellem Missbrauch, und der Vernachlässigung (Unterlassung) in den Formen unterlassene Fürsorge und unterlassene Beaufsichtigung.

Übertragen auf Übergriffe und Fehlverhalten durch Fachkräfte im medizinisch-therapeutischen Kontext kann entsprechend unterschieden werden zwischen Misshandlung durch Fachkräfte im medizinisch-therapeutischen Kontext und Vernachlässigung durch Fachkräfte im medizinisch-therapeutischen Kontext. Weitere Formen von Gewalt, die in diesem Bereich relevant sind, aber durch die Einteilung nach Leeb et al. (2008) nicht abgedeckt werden, sind die finanzielle Ausbeutung (relevant v. a. im Kontext der Pflege von Senior_innen), Patiententötungen sowie freiheitsentziehende Maßnahmen und Zwangsmaßnahmen ohne medizinische Indikation. Freiheitsentziehende Maßnahmen könnten, wenn man an Fixierungen deckt, der körperlichen Misshandlung zugeordnet werden, bei einer medikamentösen Fixierung würde diese Zuordnung aber nicht passen. Es ist deshalb sinnvoll, diese gesondert aufzuführen.

Die nachfolgende Abbildung 1 zeigt die verschiedenen Formen nochmal im Überblick.

Abbildung 1 Formen von Übergriffen und Fehlverhalten durch Fachkräfte im medizinisch-therapeutischen Kontext (adaptiert nach Leeb et al., 2008).

Für jede der Formen lassen sich im medizinisch-therapeutischen Kontext zahlreiche Beispiele finden. Die nachfolgende Tabelle 1 führt Beispiele für körperliche und emotionale Misshandlung sowie Vernachlässigung auf.

Tabelle 1 Beispiele für die Misshandlungsformen körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung und Vernachlässigung für den medizinisch-therapeutischen Kontext (Hoffmann & Fegert, 2018, ergänzt)

Für die Misshandlungsform des sexuellen Missbrauchs ist es sinnvoll, zwischen Grenzverletzungen, sexuellen Übergriffen und gezielten Handlung gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu unterscheiden (Enders & Kossatz, 2010; Schlingmann, 2021): Grenzverletzungen werden unbeabsichtigt verübt; sie resultieren im Regelfall aus Unkenntnis der (Scham–)‌Grenzen anderer Menschen aufgrund von mangelndem Wissen oder Einfühlungsvermögen oder fehlender Reflexion des eigenen Verhaltens. Sexuelle Übergriffe sind Ausdruck eines unzureichenden Respekts gegenüber Mädchen und Jungen, grundlegender fachlicher Mängel und/oder einer gezielten Desensibilisierung im Rahmen der Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs/eines Machtmissbrauchs. Bei sexuellem Missbrauch handelt es sich dann um gezielte Handlungen gegen die sexuelle Selbstbestimmung.

Gerade Grenzverletzungen und somit der mangelnde Respekt von Privatheit und Intimsphäre sind in vielen stationären Settings ein Problem. So werden nackte Patient_innen aufgedeckt fixiert und aufgedeckt im Bett liegen gelassen, es wird nicht angeklopft bevor Patientenzimmer betreten werden, Kontrollen, z. B. wegen Essstörungen, Angst vor Suizidversuchen etc., finden auch in Bad und Toilette statt, ohne dass dies im Rahmen eines Behandlungskonzepts den betroffenen Patient_innen und Sorgeberechtigten erläutert worden wäre. Nicht immer ist es in der akuten Krankenbehandlung möglich, medizinische Handlungen und Versorgung im Pflegebereich durch Personen des gleichen Geschlechts durchführen zu lassen, dennoch gehört ein gewisser Takt und das stete Bemühen, bestmöglich Intimität und Scham der Patient_innen zu berücksichtigen, in diesem Kontext zu professionellem Handeln.

Grenzverletzend sind generell auch private Beziehungen zwischen Fachkräften, insbesondere Therapeut_innen und den Kindern und Jugendlichen. Hierbei ist es egal, ob dies von Eltern gutgeheißen oder ohne deren Wissen initiiert wird. Genau diese Überführung von Patient_innen in ein privates Betreuungs- und Beziehungsverhältnis ist ein häufiger Weg der Tatanbahnung von sexuellem Missbrauch. Dies kann in verschiedenen Formen schleichend aufgebaut werden. In der Psychotherapie werden zum Beispiel Randstunden an solche Patient_innen vergeben, so dass zunächst „im schummerigen Abendlicht“ die Stunde überzogen wird, man dann sukzessive nach der Therapiestunde auf dem Heimweg noch etwas gemeinsam unternimmt (siehe auch Fallvignette 1 im Abschnitt „Fallvignetten“). Mit dem Vorwand einer Exposition in-vivo oder einer Trainingssituation werden bewusst gehäuft Termine außerhalb der Sprechstunde vereinbart. Es gibt Indikationen für solche Trainings und die Exposition in-vivo ist eine der effektivsten therapeutischen Methoden. Solche Vorgehensweisen müssen aber immer transparent mit den Betroffenen und den Sorgeberechtigten besprochen werden. Auch kann es bei getriebenen psychotischen Patient_innen einfacher sein, ein kurzes Gespräch zum Beziehungsaufbau zu führen, wenn man mit den Patient_innen z. B. im Klinikgarten oder einem anderen geschützten Raum spazieren geht. Dies ist im Einzelfall durchaus üblich, aber es ist eben dokumentations- und begründungsbedürftig.

Sexueller Missbrauch oder sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sind Handlungen, die vor allem im Kontext des starken Machtgefälles zu den anvertrauten Kindern und Jugendlichen geschehen. Das heißt, viele Täter und Täterinnen, die im Rahmen der Psychotherapie oder Krankenbehandlung übergriffig werden, nutzen die privilegierte Beziehung der Angehörigen der Heilberufe oder des Pflege- und Erziehungsdienstes. Sexuell motivierte Handlungen von Ärzt_innen und im Pflege- und Erziehungsdienst werden häufig als körperliche Untersuchungen, notwendige Interventionen oder Hygienemaßnahmen „getarnt“. Teilweise werden entsprechende Handlungen auch durch Video oder Foto dokumentiert, angeblich unter dem Vorwand, diese Aufnahmen später in die Krankenakte einfließen zu lassen. Tatsächlich werden solche Aufnahmen häufig privat gespeichert und mit durchaus krimineller Energie auch zu Verkaufs- und Tauschzwecken genutzt.

Ein Umgang mit dem (nackten) Körper ist im medizinischen Kontext bei verschiedenen Maßnahmen notwendig, und es geht auch nicht darum, Nacktheit von Patient_innen und körperliche Untersuchungen grundsätzlich zu vermeiden, wichtig sind aber Haltung, Aufklärung und Transparenz. So muss der/die noch angezogene Patient_in informiert werden, welche Untersuchung aus welchem Grund geplant ist. Immer noch viel zu häufig werden die Kinder von einer Pflegekraft ausgezogen und vorbereitet und dann kommen Ärztin oder Arzt schon zur nackten Patientin/zum nackten Patienten, was insbesondere dann zu Komplikationen führen kann, wenn die gleiche Ärztin, der gleiche Arzt auch in therapeutischer Funktion auf einer Station tätig ist. In der Regel spricht nichts dagegen, dass die Personensorgeberechtigten oder ein Mitglied des Pflege- und Erziehungsdienst bei körperlichen Untersuchungen anwesend sind. Die meisten jüngeren Kinder werden dies auch wünschen und als Erleichterung wahrnehmen. Gerade pubertierende Jugendliche schämen sich aber, insbesondere vor ihren Eltern. Hier kann der wohl gemeinte Einbezug der Personensorgeberechtigten auch zu einer Belastung werden. Dies ist im Aufklärungsgespräch vor der Untersuchung zu explorieren und ggf. auch zu dokumentieren.

Ein spezifischer Blick muss auf Zwangsmaßnahmen und freiheitsentziehende Maßnahmen gerichtet werden. Diese können Gewalt gegen Patient_innen sein, wenn sie ohne medizinische Indikation eingesetzt werden, zum Beispiel sedierende Medikamente gegeben werden, nur mit dem Ziel, die Patientin/den Patienten im Bett zu halten. Auch ein nicht lege artis durchgeführtes Timeout ist eine Isolierung von Patient_innen, welche nicht einem präzisen, zielführenden, verhaltenstherapeutischen Konzept folgt und damit eine Form von Zwang und Gewalt im Betreuungsverhältnis darstellt.

Aber auch wenn solche Maßnahmen mit medizinischer Indikation zum Schutz der Patient_innen oder im Kontext einer notwendigen Behandlung eingesetzt werden, können sie von den Patient_innen als Gewalt empfunden werden. Für diese Maßnahmen ist immer eine besonders genaue Abwägung zu ihrer Notwendigkeit und der Begründbarkeit der Durchführung notwendig, da diese Maßnahmen eine hohe Gefährdung haben, zur Machtausübung missbraucht zu werden.

Systematisierung der Ursachen von Gewalt im medizinisch-therapeutischen Kontext

Die Ursachen von Gewalt im medizinisch-therapeutischen Kontext können drei Aspekten zugeordnet werden: individuelle (personenbezogene) Ursachen, strukturelle/institutionelle Ursachen und gesellschaftliche Ursachen.

Zu den individuellen Ursachen gehören seitens der Fachkraft persönliche Probleme, psychische Erkrankungen, hohes Belastungserleben im Beruf, Gefühl von Überforderung, Burn-Out-Symptomatik, mangelnde Kenntnisse von Krankheitsbildern sowie Unkenntnis von Alternativen zur Gewaltanwendung. Gesellschaftliche Ursachen können unter anderem eine geringe Wertschätzung oder negative Einstellung für/gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen wie etwa Menschen mit psychischen Erkrankungen und mit Behinderung sein, aber auch die unzureichende Bereitstellung von Ressourcen (angemessener Stellenschlüssel, angemessene Bezahlung, Wertschätzung z. B. für Pflegekräfte etc.). Strukturelle/institutionelle Ursachen sind zum Beispiel eine fehlende Sensibilisierung für das Thema Gewalt bzw. für die Risiken diesbezüglich in Institutionen, eine Überlastung der Fachkräfte (zum Beispiel Personalmangel, fehlende Frei- und Ruhezeiten), fehlende oder mangelnde Anerkennung und Unterstützung der Fachkräfte (zum Beispiel durch unzureichende oder fehlende Teamgespräche zum Thema, Unterbezahlung, unzureichende Ausbildung und Fortbildung der Mitarbeitenden) (Hirsch, 2016; ZQP, 2018).

Im Bereich des Personaleinsatzes, der zentral für die Qualität von Beziehung und Betreuung ist, wurde seit vielen Jahren auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie versucht, durch die Psychiatriepersonalverordnung entsprechende Standards umzusetzen, die ein therapeutisches Milieu auf Station ermöglichen und die Ära der „Verwahrpsychiatrie“ definitiv beenden sollten. Seit der Einführung der PPP-Richtlinie (G-BA, 2019) werden die Personalvorgaben auch an einen Kontrollmechanismus gebunden und Personalunterschreitungen sanktioniert. Ressourcenmangel im Bereich der Personalbereitstellung ist leider dennoch immer wieder ein Problem. Zum Beispiel wurden gerade in der Corona-Krise Pflegekräfte in anderen Bereichen dringend gebraucht und es wurden systematisch Personalstandards aufgehoben, um die Krankenhäuser „am Laufen“ zu halten. Quarantäne und Krankheitsfälle in den Einrichtungen verschärften noch das Problem. Hinzu kam der erheblich gesteigerte Aufwand für die Administration der Hygienemaßnahmen, Durchführung von Tests und Kontrollen. Eine noch so bemühte Einzelperson kann in solchen Verhältnissen nicht für eine adäquate Betreuung von Kindern und Jugendlichen sorgen. Wichtig ist es deshalb in solchen Situationen, z. B. durch Überlastungsanzeigen, auf die problematische Gesamtsituation hinzuweisen.

Bezüglich der strukturellen Ursachen ist auch zu bedenken, dass es in Institutionen oder in Teilbereichen von Institutionen angeordnete oder unausgesprochen als Konsens durchgeführte Standards geben kann, die Behandlungsleitlinien widersprechen, jedoch nicht (mehr) hinterfragt und neuen Kolleg_innen auch so weitergegeben werden. Gerade im Kontext mit Timeout und Isolierung gibt es hier teilweise unkontrollierte und nicht leitlinienkonforme Handlungsweisen ganzer Teams in der Praxis (siehe Fallvignette 7 im folgenden Abschnitt). Bereiche können so eigene, ungeschriebene Regeln entwickeln, wie Ervin Goffman das schon vor vielen Jahren in seinem Buch „Asyulms“ beschrieben hat (Goffmann, 1961). Seit den 1970-iger Jahren gibt es, Dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in „psychiatrischen Anstalten“ und anderen abgeschlossenen Einrichtungen der Erziehung keine besonderen Gewaltverhältnisse, welche die Grundrechte der „Insassen“ allgemein beschränken. Kinderrechte und Grundrechte gelten für alle Kinder, auch in Einrichtungen der Krankenbehandlung und Erziehung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ein Monitoring von Isolierung und Zwangsmaßnahmen. Dabei zeigt sich bisweilen, dass erhebliche Häufigkeitsunterschiede zwischen Bereichen mit ähnlichen Patient_innenpopulationen bestehen (Fetzer, Steinert, Metzger & Fegert, 2006). Solchen Unterschieden sollte nachgegangen werden. Die psychiatrischen Besuchskommissionen, die es in vielen Bundesländern mittlerweile, auf gesetzlicher Grundlage gibt und auch die regelmäßigen Visitationen der Deutschen Stelle zur Umsetzung der UN-Folterkonvention (Baumann &. Osterfeld, 2018) bieten hier die Chance, von außen solche Unterschiede und Missstände wahrzunehmen. Institutionen sollten aber auch selbst Instrumente und Strukturen (z. B. eine Arbeitsgruppe) schaffen, um die eigenen Abläufe immer wieder kritisch zu reflektieren und notwendige Änderungen einzuleiten. Dies wird aber nur dann passieren, wenn es engagierte Mitarbeitende gibt und auch eine Änderungsbereitschaft in der Institution vorhanden ist.

Solche fachlich unangemessenen Behandlungsregime gibt es nicht nur im Bereich der Zwangsmaßnahmen, sondern auch im besonders sensiblen Bereich sexueller Grenzverletzungen. Zu denken ist hier an gemeinsames Nacktbaden zur „emotionalen Befreiung“ von Patient_innen etc. oder angeblich verhaltenstherapeutische Belohnungsregimes wie z. B. die Erlaubnis der Rasur im Intimbereich als Teil eines Verstärkerplans bei Mädchen im Pubertätsalter. Auch hier führt die institutionsöffentliche, allen Beteiligten bekannte und nicht mehr hinterfragte Praxis dazu, dass solche Regime, die ethisch und therapeutisch völlig unvertretbar sind, zum Teil jahrelang aufrechterhalten werden. Ein solcher Rahmen bietet Täter_innen, die einen sexuellen Missbrauch anbahnen oder durchführen einen Kontext, in dem sie häufig nicht befürchten müssen entdeckt zu werden. Ist die Personalausstattung zu knapp, wird der anders motivierte aber allgemein wahrgenommene hohe Einsatz eines Kollegen/einer Kollegin, der/die auch nach der Dienstzeit sich noch um Kinder kümmert und versucht, diesen die schwere Zeit so schön wie möglich zu gestalten, häufig nicht kritisch hinterfragt, sondern als willkommener hoher Einsatz unter schwierigen Bedingungen wahrgenommen.

Fallvignetten

Im Folgenden wird eine Reihe von kurzen Fallvignetten aufgeführt. Alle sind modifiziert nach konkreten Ereignissen. Die Vignetten sollen deutlich machen, welch vielfältigen Formen Grenzverletzungen und Übergriffe in der Praxis haben können. Umso wichtiger ist es für den Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung, solche Risikosituationen im Rahmen der Entwicklung eines Schutzkonzeptes zu identifizieren und entsprechend angepasste Maßnahmen umzusetzen (siehe auch Beitrag zur Entwicklung von Schutzkonzepten in diesem Heft).

1) Ein Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit eigener Praxis verschiebt zunehmend Therapietermine mit einer jugendlichen Patientin auf Randstunden am Abend, überzieht diese Stunden regelmäßig, gibt seine Privatnummer heraus und regt Treffen wie Spaziergänge etc. in der Freizeit an, schließlich kommt es im Kontext eines solchen privaten Ausflugs zu einem „Blackout“ indem er sich „seinen Gefühlen gegenüber dem Mädchen hingibt“. Er sieht das nicht als Missbrauch an, sondern als „konsensuelle Liebesbeziehung zweier gleichstarker Persönlichkeiten“, trotz des erheblichen Altersunterschieds. Die Patientin bricht mit einiger Verzögerung die Therapie ab und zeigt ihn später an. Das Strafverfahren wird gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. Daraufhin erfolgt keine standesrechtliche Reaktion. Der Therapeut kann weiter uneingeschränkt an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmen.

2) Ein ambulant tätiger Lerntherapeut bietet Mathematiknachhilfe für Mädchen auf der Basis fernöstlicher Entspannungstechniken. Er holt hierfür ausführliche Einwilligungserklärungen bei den Eltern ein, gibt vor zu diesem Thema zu promovieren und deshalb auch entsprechende Fragebögen den Jugendlichen vorlegen zu müssen. Diese Fragebögen enthalten zum Teil extrem grenzverletzende intime Fragen nach sexuellen Vorerfahrungen. In seiner „Praxis“ filmt er „genitale Entspannungsübungen“, angeblich zu „wissenschaftlichen Dokumentationszwecken“. Es dauert geraume Zeit bis eine Anzeige erfolgt, und es stellt sich heraus, dass zahlreiche Mädchen betroffen sind. Die Eltern der Kinder haben ein schlechtes Gewissen, da sie explizit ihre Einwilligung erteilt hatten.

3) Ein Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut behandelt im Schwerpunkt Mädchen mit Essstörungen. Er fordert seine Patientinnen im Pubertätsalter auf, ihm regelmäßig zur Vorbereitung der Therapiestunde Ganzkörpernacktfotos oder Videos zuzusenden und begründet dies mit der Notwendigkeit einer konsequenten Kontrolle der körperlichen Verfassung während der psychotherapeutischen Behandlung. Im Rahmen einer Gruppensupervision spricht er dieses Vorgehen an. Supervisor und Supervisanden äußern sich äußerst kritisch, wagen es aber wegen der Schweigepflicht in der Supervision nicht, der zuständigen Psychotherapeutenkammer standesrechtliche Hinweise zu geben.

4) Über einen Klinikschullehrer berichten jugendliche Patientinnen immer wieder, dass er die Mädchen „antatsche“ oder ihnen auf Po und Busen starre. Gleichzeitig wird er und sein Unterricht als prinzipiell unsympathisch dargestellt. Wenn die Patientinnen in der Gruppe darüber reden lächeln sie, so dass vom Pflege- und Erziehungsdienst (PED) lange gewartet wird, diese Informationen entsprechend der Vorgaben des klinikinternen Schutzkonzeptes an die Klinikleitung weiterzugeben. Erst als im PED eigene Beobachtungen gemacht werden, kommt der Fall zur Sprache. Disziplinarrechtlich ist das Schulamt als Arbeitgeber zuständig. Es findet ein Gespräch, unter Leitung des Schulamts, im Beisein von Klinikleitung und Schulleitung statt. Dabei stellt sich heraus, dass der Lehrer vor seiner Versetzung in die Klinikschule mehrfach Schulen wegen ähnlichen Vorfällen/Vorwürfen, die nie zu einer Strafanzeige führten, verlassen musste. Die Vorgeschichte des Lehrers war vom Schulamt mit der Versetzung in eine Schule für Kranke nicht mit kommuniziert worden, so dass auch die institutionelle Verantwortung der Vorgesetzten klar tangiert ist.

5) Ein Betreuer aus dem PED schaut sich in den Nachtdiensten systematisch die Anamnesen der auf einer kinder- und jugendpsychiatrischen Station behandelten Patient_innen durch und bietet gezielt alleinerziehenden Müttern in prekären Betreuungssituationen, z. B. bei gleichzeitigem Abendschulbesuch etc., Beratungsgespräche und ehrenamtlichen Erziehungsbeistand an. Er übernimmt Kinderbetreuung an den Abenden und am Wochenende und signalisiert den Müttern Interesse an ihnen, bis hin zu einer möglichen Partnerschaft, nach Abschluss der Krankenbehandlung (wohl gemerkt, bei mehreren Müttern parallel). Die Kinder werden ihm nach Abschluss der Krankenbehandlung problemlos zur „Betreuung“ anvertraut.

6) Ein 12-jähriger Junge wendet sich an den Patientenfürsprecher, weil er teilweise Stunden im Timeout-Raum zubringen müsse, in den er mit Gewalt gezerrt werde. Im Rahmen einer externen Evaluation wird deutlich, dass die Dauer von Timeout in der Klinik nicht dokumentiert wird, dass es bei so genannten „Timeouts“ über mehrere Stunden teilweise nicht zu einer regelmäßigen Kontrolle kommt und auch kein verhaltenstherapeutisches Timeout-Konzept die Basis für diese mit Zwang hergestellte räumliche Isolierung der Kinder darstellt.

7) In einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gilt als genereller Behandlungsstandard für suizidgefährdete Patient_innen die komplette Isolation ein einem „zellenähnlichen“ Timeout-Raum mit kompletter Kontaktvermeidung zu anderen Kindern und Jugendlichen mit Plastikgeschirr zum Essen, zur Vermeidung von Suizidgefährdung etc., ein haftähnliches Regime. Dieser interne Standard widerspricht entsprechenden Behandlungsleitlinien, wird aber den lokalen Anweisungen entsprechend vom Team unhinterfragt umgesetzt. Im Rahmen eines Chefarztwechsels wird die Praxis problematisiert. Ein zuständiger Ausschuss im Landtag stellt eine disproportional hohe Zahl an Isolationen und Fixierungen in der genannten Klinik fest. Es kommt zu einer breiteren öffentlichen Debatte und ein Fachvertreter aus demselben Bundesland wird von der Gesamtklinikleitung mit einer Expertise zu dieser Situation beauftragt. Letztendlich wird die fragwürdige Praxis beendet. Allerdings wird auch das Beschäftigungsverhältnis mit dem neuen Chefarzt beendet. Sein Vorgänger supervidiert nach wie vor nun als externer Experte das Team.

Wenn die Fallvignetten auf die zuvor genannte Einteilung von Ursachen für Übergriffe und Gewalt bezogen werden, so zeigen die Vignetten 1 – 5 klar individuelle/personenbezogene Ursachen der Täter als Grund, die Vignetten 6 und 7 jedoch strukturelle Ursachen (in diesem Fall nicht dem fachlichen Standard entsprechende Regimes, die von den Mitarbeitenden unhinterfragt ausgeführt werden). Daraus wird deutlich, dass die einzuleitenden Interventionen bei Gewalt und Übergriffen unterschiedlich sein müssen und es neben der Sensibilität für Risikosituationen für Übergriffe, auch notwendig ist, Abläufe und Strukturen in der eigenen Klinik/Ambulanz regelmäßig zu überprüfen. Die beiden Fälle 6 und 7 zeigen auch, wie wichtig es ist 1) ein Beschwerdemanagement zu installieren und 2) welch zentrale Bedeutung die Haltung in der Einrichtung und Leitungskräfte für die Umsetzung von Schutz in der Einrichtung haben (Siehe hierzu vertieft den Beitrag Hoffmann et al. in diesem Heft).

Um wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen und -strukturen in Institutionen zu etablieren ist es auch notwendig, sich mit den verschiedenen Tätertypen auseinanderzusetzen und die unterschiedlichen Motivationen zu verstehen. Eine mögliche Systematisierung, die aber insbesondere in Bezug auf die Ableitung struktureller Maßnahmen hilfreich ist, ist die Unterscheidung zwischen Persönlichkeits- und Situationstäter. Diese Einteilung kommt aus dem Bereich der Forensik und ist aus der Begutachtung männlicher Sexualstraftäter abgeleitet. Ob sie in der gleichen Weise auf weibliche Täterinnen angewendet werden kann, ist noch unklar und erfordert weitere Untersuchungen (Urbaniok, Kistler Fegert & Fegert, 2021). Im nachfolgenden Abschnitt ist deshalb auch nur von Tätern die Rede.

Systematisierung von Tätertypen: Persönlichkeits- versus Situationstäter

Persönlichkeitstäter und Situationstäter unterscheiden sich in ihrer Grundmotivation für sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche.

Persönlichkeitstäter haben eine mit ihrer Persönlichkeit verbundene Grundmotivation für die entsprechenden Straftaten. Bei ihnen liegt eine generelle Ausrichtung von Beziehungs- und Sexualitätswünschen auf Kinder vor, meist in einem spezifischen Prädilektionsalter. Aufgrund ihres speziellen Interesses für diese Kinder können solche Täter in Institutionen häufig in besonders geschickter Weise auf Kinder eingehen, machen besonders attraktive Spielangebote und sind gerade bei emotional bedürftigen Kindern recht beliebt (vgl. Urbaniok et al., 2021). Sie werden deshalb häufig von Kindern als attraktive Kontaktpersonen wahrgenommen und von Kolleg_innen als besonders begabt für den beruflichen Umgang mit Kindern angesehen.

Strafe und Abschreckung wirken bei solchen Personen nicht wirklich risikosenkend, da die Disposition in ihrer Persönlichkeit festgeschrieben ist. Auch wenn entsprechende Täter an einem Ort „auffliegen“ und deshalb, oft leider mit exzellenten Zeugnissen versehen, fristlos gehen müssen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie an der nächsten Stelle die Taten fortsetzen.

Die meisten Täter, auch in Institutionen, sind aber keine Persönlichkeitstäter, sondern Situationstäter. Diese haben keine primäre sexuelle Ausrichtung auf Kinder und Jugendliche, sondern nutzen Strukturen und Abläufe, wie etwa das starke Machtgefälle zu den potenziellen Opfern, geringe Bestrafungswahrscheinlichkeiten, geringe Wahrscheinlichkeit des Einschreitens von Kolleg_innen sowie Gelegenheiten durch körperliche Untersuchungen, Phimose-Behandlung, Genitalhygiene etc. aus. Situationstäter lassen sich durch Konfrontation mit dem eigenen Handeln, durch deutliche Normsetzung und klare institutionelle Regelungen zu Schutz in Einrichtungen, durch Androhung und Umsetzung von Strafen und Sanktionen abschrecken. Dies sollte bei der Entwicklung von Schutzkonzepten unbedingt berücksichtigt werden. Bei Situationstätern können auch die Rückfallquoten durch geeignete Therapien markant gesenkt werden (Schmucker & Lösel, 2015).

In den letzten Jahren hat es eine massive Zunahme von Delikten im Bereich sogenannter Kinderpornografie gegeben. Dieser Begriff ist grundsätzlich zu kritisieren, dass es sich ja nicht um eine Darstellung von Sexualität durch professionelle Darsteller_innen handelt, sondern um abgefilmte sexuelle Übergriffe auf Kinder. Die Nutzung solcher Materialien ist bei beiden Arten von Tätern weit verbreitet, jedoch sind Persönlichkeitstäter unter den Konsumenten derzeit in einer deutlichen Minderheit. Das liegt daran, dass die Nutzungszahlen insgesamt erschreckend hoch sind, wie der sogenannte „Elysium-Fall“ und andere in der Bundesrepublik breit diskutierte Fälle gezeigt haben. Deshalb ist auch die massive Strafverschärfung in Bezug auf Besitz von sogenannter „Kinderpornografie“ absolut zu begrüßen. Es ist davon auszugehen, dass Situationstäter, die solche Materialien nutzen, weil sie leicht verfügbar sind und die Folgen für die Konsumenten bisher geringe waren, sich von einer schwierigeren Verfügbarkeit und höheren Strafandrohungen abschrecken lassen werden. Eine Untersuchung in der Schweiz (Endrass et al., 2009) zeigte, dass Personen, die wegen des Besitzes von „Kinderpornografie“ sanktioniert worden waren, in nur einem Prozent eine Vorgeschichte körperlicher sexueller Übergriffe auf Kinder und Jugendlicher hatten. Die Rückfallraten, nach der Bestrafung, für einen neuerlichen Konsum sogenannter „Kinderpornografie“ waren in dieser Studie ebenfalls mit 3 Prozent recht gering. Nach Verbüßung der Strafe hat keine der 231 nachuntersuchten Personen einen körperlichen sexuellen Übergriff auf Minderjährige begangen.

Die standesrechtliche Bewertung des „Besitzes von Kinderpornografie“ z. B. bei einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wird in den nächsten Jahren deutlich schwieriger werden, da dieser Besitz nun entsprechend einer Gesetzänderung als Verbrechen eingestuft wird. Bislang sind solche Vorfälle eher als Bagatelltaten bewertet worden und von den Gerichten häufig gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt worden. Es ist wichtig, diesen Bereich und auch den veränderten Strafrahmen in der Berufsausbildung und in Verhaltenskodizes in unserem Tätigkeitsbereich stärker zu thematisieren.

Fallbeispiel

Der nachfolgende beschriebene reale Fall soll deutlich machen, wie stark bei Tätern mit einem spezifischen Risikoprofil (Persönlichkeitstäter) die pädophile Motivation dazu führen kann, aktiv die Arztrolle bzw. die Rolle des Psychotherapeuten und Behandlers zu nutzen, um unter Einsatz dieser privilegierten Position Taten anzubahnen und durchzuführen. Ein Assistenzarzt in einer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeitete in einer spezialisierten Ausscheidungsambulanz. Dort nahm er überdurchschnittlich häufig und zum Teil auch nicht indiziert Genitaluntersuchungen vor und schickte häufiger Angehörige ohne medizinischen Grund aus dem Untersuchungszimmer während er die Kinder untersuchte. Der Arzt absolvierte seine Facharztausbildung mit insgesamt guten Bewertungen und wechselte, wie von der Weiterbildungsordnung vorgesehen, in eine erwachsenenpsychiatrische Klinik für das Fremdjahr. Nach Abschluss des Fremdjahrs sollte er an die ursprüngliche Universitätsklinik als Facharzt zurückkommen. Zu diesem Zeitpunkt wandten sich verschiedene Kolleg_innen an den Lehrstuhlinhaber und Klinikleiter und formulierten auf Basis von zusammengetragenen Auffälligkeiten den Verdacht, dass der Kollege aus sexuellen Motiven nicht indizierte Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt habe. In dieser Situation wurde auf Betreiben des Klinikchefs durch das Universitätsklinikum Strafanzeige gestellt und das zu dem Zeitpunkt ruhende Arbeitsverhältnis außerordentlich und fristlos gekündigt. Der Klinikchef zog nachfolgend exemplarisch eine gewisse Zahl von Akten, welche der Staatsanwaltschaft zur Tatermittlung zur Verfügung gestellt wurden. Bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmte die Kriminalpolizei auch Rechner und fand auf den Festplatten eine Vielzahl von Bildern, die unbekleidete Kinder und Jugendliche zeigten und die anscheinend von dem Arzt selbst angefertigt worden waren. Der Arzt verstarb ca. anderthalb Jahre nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens an einem Wochenende im Beisein eines Kindes, welches ihm von den Eltern zur Betreuung übergeben worden war.

Wegen des Todes des Angeschuldigten wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt und im Universitätsklinikum stellte sich die Frage, ob man die Sorgeberechtigten der möglicherweise betroffenen Kinder und Jugendlichen informieren solle, nachdem es nicht zu einer strafrechtlichen Klärung gekommen war und auch in der Zukunft nicht mehr kommen konnte. In einer hausinternen, rechtlich ethischen Güterabwägung fiel die Entscheidung, dass wohl die meisten Kinder und Jugendlichen von einem möglicherweise sexualisierten Charakter der Handlungen nichts mitbekommen haben und die Information der Sorgeberechtigten größere Schaden auslösen könne, zumal erzielte Heilungserfolge dadurch infrage gestellt werden könnten. Jahre später erfuhren Eltern eines ehemaligen Patienten durch einen Zufall von der Polizei über den damaligen Tatverdacht an ihrem Kind und empörten sich zurecht darüber, seinerzeit nicht informiert worden zu sein. Sie wandten sich deshalb, anwaltlich vertreten, an die zuständige Aufsichtsbehörde. Diese schaltete den Erstautor dieses Beitrages ein, um in einem zeitnah erstellten Gutachten, auf der Basis des Schriftsatzes der anwaltlichen Vertretung der Kindeseltern, eine Empfehlung für das weitere Vorgehen zu geben. Empfohlen wurde damals die öffentliche Information über die möglichen Vorfälle und die zur Verfügungstellung eines Unterstützungs- und Beratungsangebots durch das Land als Träger und durch das Klinikum. Es folgten ein derzeit noch laufendes Disziplinarverfahren und eine Behandlung des Falls in einem Untersuchungsausschuss des Landtags, verbunden mit einer bundesweit beachteten Berichterstattung. Stück für Stück kamen weitere Puzzlesteine ans Licht. So war der Arzt ehrenamtlich als Trainer in einem Judoverein tätig und trainierte dort Kinder. Er hatte auch im stationären Bereich Kinder dazu motiviert, in ihrer Freizeit am Judotraining teilzunehmen oder Kinder, bei denen er nicht der Behandler war, von Station abgeholt, um mit ihnen Ausgänge aus dem Gelände zu machen. Es fanden sich auch Belege dafür, dass er mindestens einen Patienten über Online-Grooming mit gezielten sexualisierten Inhalten bedrängt hat.

Bei den Recherchen eines „Sonderermittlers“ stellten sich auch fragliche weitere Verdachtsfälle von Taten in der früheren Vorgeschichte des Arztes heraus. Insgesamt kann man heute davon ausgehen, dass Mitarbeitende in der Klinik entsprechende Wahrnehmungen hatten und Auffälligkeiten auch in anderen Bereichen wahrgenommen wurden. Diese wurden aber jeweils eher als Bagatelltaten oder Vermutungen bewertet. Erst als während der Abwesenheit des Arztes aufgrund seines Fremdjahrs die Information die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie erreichte, dass in der Vergangenheit strafrechtliche Ermittlungen gegen diesen geführt worden waren, wurden die von den einzelnen Personen beobachteten Hinweise gleichsam wie ein Mosaik zusammengesetzt und ergaben dann das Bild eines mutmaßlich pädosexuellen Arztes. Der Rufschaden für die Abteilung und das Klinikum war, ebenso wie die Belastung für die betroffene Abteilung und die Gesamtklinik immens.

Fazit

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und Missbrauch in der Krankenbehandlung ist eine Thematik, welche noch nicht umfassend in den entsprechenden Berufsgruppen angekommen ist. Es ist jedoch notwendig, dass sich Institutionen mit dieser Gefährdung systematisch auseinandersetzen und Risikosituationen identifizieren, um nachfolgend präventive Maßnahmen zu implementieren. Hierfür ist es wichtig, systematisches Wissen zu den verschiedenen Gewaltformen und auch Tätertypen zu haben.

Um die verschiedenen Gewaltformen einzuordnen, wird eine Unterteilung angelehnt an die von den American Centers for Disease Control festgelegten Definitionen (körperliche Misshandlung, emotionale Misshandlung, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch) vorgeschlagen. Ergänzt werden muss diese um spezifische Aspekte im medizinischen Bereich, insbesondere sind hier freiheitsentziehende Maßnahmen und Zwangsmaßnahmen zu nennen. Neben den Gewaltformen ist es weiterhin notwendig, sich mit verschiedenen Tätertypen und ihren spezifischen Voraussetzungen und Risiken für die Begehung sexuellen Missbrauchs auseinanderzusetzen.

In der Ausbildung von Ärzt_innen und Psychotherapeut_innen sollten nicht nur Prinzipien des Kinderschutzes vermittelt werden (vgl. die erfreulichen Änderungen die für die ärztliche Approbationsordnung vorgeschlagen wurden und die schon erfolgte Aufnahme von Prinzipien des Kinderschutz in die zukünftige psychotherapeutische Approbation), sondern es muss auch darum gehen, die Kompetenzen zur Entwicklung einer Institution als Schutzort vor Gewalt zu befördern. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat mit der Überarbeitung der Qualitätsrichtlinie hier eindeutige Vorgaben zur Umsetzung von Schutzkonzepten in Kliniken und Praxen gemacht.

Literatur