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Free AccessEditorial

Neue Ideen und Anregungen aus der Interozeptionsforschung

Published Online:https://doi.org/10.1026/1616-3443/a000689

In diesem Doppelheft sind drei Artikel enthalten, welche durch ein gemeinsames Thema verbunden sind. „Interozeption“ ist ein beindruckend altes Konzept. Schon William James (1890) beschäftigte sich mit körperlichen Veränderungen und deren Beziehung sowohl zu der Formation von Gefühlen sowie zur Selbstwahrnehmung. Bemerkenswerterweise war damals noch nicht bekannt, dass afferente Informationen tatsächlich kontinuierlich im Gehirn verarbeitet werden. Dennoch vermutete James, dass viszerale Veränderungen entweder direkt zentralnervös verarbeitet würden (Interozeption), oder, dass die zentrale Aktivierung verbunden mit der Steuerung von physiologischen Veränderungen in der Peripherie (z. B. eine Beschleunigung der Herzaktivität), bewusst wahrgenommen werden könnte (ebenfalls eine Variante von Interozeption, vergleiche z. B. Schulz et al., 2022).

In den letzten Jahren hat die Forschung zum Thema enorm an Aufmerksamkeit zugenommen. Seit ca. 2010 kann man entsprechend eine kontinuierliche Zunahme an Zitationen zu dem Thema finden. Dabei hat das Feld mit zwei Herausforderungen zu kämpfen, welche nach wie vor nicht gut gelöst zu sein scheinen: Zum einen ist die am häufigsten verwendete Methode zur Erfassung von interozeptiver Akkuratheit, der sogenannte Schandry Task (Schandry, 1981) in den letzten Jahren verstärkt in die Kritik geraten (z. B. Pohl et al., 2021, Ring & Brener, 2018; Zamariola et. al., 2018;). Aus unserer Sicht führt diese Kritik potentiell dazu, dass Jahrzehnte von Forschung neu interpretiert werden müssen (auch unsere eigene). Zum anderen sind eine Reihe von Autorengruppen angetreten, um das Konzept Interozeption neu zu strukturieren. So haben z. B. Garfinkel et al. (2015) zwischen Interozeptiver Genauigkeit, interozeptiver Sensibilität und interozeptiver Bewusstheit unterschieden und dadurch das Konzept Interozeption in relevante Facetten unterteilt. Khalsa et al. (2018) haben herausgearbeitet, dass bei vielen psychischen Störungen (und darüber hinaus), dysfunktionale Interozeption eine größere Rolle spielen könnte, als bisher angenommen. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass vorherige Studien meist auf Angststörungen bzw. somatische Belastungsstörungen fokussiert hatten (z. B. Domschke et al., 2010; Wolters et al., 2022). Eine spannende neue Entwicklung ist auch die Anwendung des Predictive-Processing-Modells auf die Wahrnehmung körperlicher Symptome (z. B. Van den Bergh et al., 2017 oder Paulus et al., 2019), welche unmittelbar theoretische Konsequenzen für die Konzeptualisierung von Interozeption mit sich bringt.

Vor diesem Hintergrund zeigen die drei Artikel in diesem Heft jeweils alle einen Schritt in eine neue Richtung der Interozeptionsforschung und sind durch diese neuen Ideen offensichtlich mit angeregt worden. Brand und Kollegen (2022) greifen die Unterscheidung zwischen der selbstberichteten interozeptiven Genauigkeit und Aufmerksamkeit im Sinne latenter Struktur auf und untersuchen deren Beziehungen zu Psychopathologie. Hierbei stützen sie sich auf das HiTOP Modell (Kotov et al., 2017) der Deskription von Psychopathologie sowie auf die von Murphy et al. (2019) vorgeschlagene Taxonomie interozeptiver Prozesse, in deren Mittelpunkt die Trennung von interozeptiver Aufmerksamkeit und interozeptiver Akkuratheit steht. Die Ergebnisse belegen, dass die Unterscheidung dieser Interozeptions-Facetten relevant für das Verständnis von internalisierender und somatoformer Symptomatik ist. Chen und Kollegen (2022) verwenden in einer Pilotstudie erstmals eine psychophysische Methode zur Erfassung der Temperaturwahrnehmung als Indikator für interozeptive Akkuratheit. Die Erwärmung der Wangen ist die erste und stabilste körperliche Änderung beim Erröten, welche von Betroffenen erlebt wird (Simon & Shields, 1996). Damit erweitern die Autor_innen das Instrumentarium von Paradigmen, welche Interozeptionsfähigkeit zu erfassen mögen, um ein Methode, welche über die Herzratenwahrnehmungsfähigkeit hinausgeht und Symptomspezifität als wichtiges Thema auch in der Interozeptionsforschung hervorhebt. Schütteler und Gerlach (2022) stellen Interozeption in ihrer Übersichtsarbeit zu Tic-Vorgefühlen in den Mittelpunkt eines Störungsmodells für Ticstörungen, welches diesen Gedanken ebenfalls aufgreift. Tics stellen grundsätzlich ein muskuläres Phänomen dar. Die bisher einzige psychotherapeutisch wirksame Behandlungsmethode für Tics (Habit Reversal) setzt entsprechend auch an der Modifikation dieses muskulären Phänomens an. Damit ist die Fähigkeit die muskulären Tics rechtzeitig wahrnehmen zu können (Interozeption von Vorgefühlen) ein wichtiges Forschungsfeld, über das bisher nur sehr wenige Erkenntnisse vorliegen. Auch hier wird folglich die mögliche Relevanz der Symptomspezifität von Interozeption für das Forschungsfeld hervorgehoben, über die aktuell noch kaum Erkenntnisse vorliegen.

Offensichtlich kann die kleine Sammlung von Studien hier weniger grundlegende Fragen beantworten, als vielmehr Anregungen geben, in welcher Weise die Erforschung interozeptiver Prozesse zu einem besseren Verständnis der Mechanismen von psychischen Störungen beitragen könnte. Wir hoffen, dass wir die Leserinnen und Leser dieser Ausgabe der Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie von der Relevanz und dem Potential der Interozeptionsforschung genauso überzeugen konnten, wie wir und die Autorinnen der drei Beiträge es sind.

Literatur

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