Skip to main content
Open AccessOriginalartikel

Studien zur Verbesserung des Verständnisses von Lernschwierigkeiten bei Trisomie 21 – Bericht über die Ergebnisse einer Voruntersuchung

Published Online:https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000085

Abstract

Bisher ging man davon aus, dass Personen mit Trisomie 21 bei Navon-Figuren eher die Gesamtgestalt wahrnehmen und Details übersehen (Bellugi & George, 2001, S. 62). Experimentell ergeben sich jedoch auch gegenteilige Befunde. Eine widerspruchsfreie Erklärung dieser Befunde wäre die Annahme: Eine Trisomie 21 gehe regelmäßig mit einer Simultandysgnosie einher. Damit ist eine Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs auf weniger als vier Objekte zur selben Zeit gemeint. In einer Untersuchung mit Computer-Tachistoskopie bestätigte sich die Hypothese bei allen 19 Personen mit einer Trisomie 21. Diese Ergebnisse könnten ein erstes Indiz dafür sein, dass der anschauungsgebundene, kleinschrittige und Abstraktionen vermeidende Unterricht an Förderschulen den neuropsychologischen Besonderheiten von Menschen mit einer Trisomie 21 nur wenig Rechnung tragen kann.

Studies toward a better Understanding of Learning Disabilities in Case of Trisomy 21 – Report on the Results of a Preliminary Exploration

Up until now, it has been accepted that people with trisomy 21 would more likely perceive the overall shape in Navon figures and tend to overlook details (Bellugi & George, 2001, S. 62). Experimentally, there are also opposite findings. A consistent explanation of these results could be: A trisomy 21 is regularly accompanied by a simultandysgnosia. This means a restriction of subitizing to less than four objects at the same time. Studies with a computer-tachistoscope confirmed this for all 19 people with a trisomy 21. These findings could be a first indication that the illustrative and abstraction avoiding training in small steps at special schools can take only little account of the neuropsychological peculiarities of people with a trisomy 21.

Einleitung und theoretischer Hintergrund

Handlungswissenschaftliche Vorstudien zu der hier dargestellten Pilotstudie zeigen, dass anregende soziale Kontakte und Kompetenz zusprechende Lernkulturen, die gleichermaßen Stärken und Einschränkungen respektieren, die Lernerfolge von Menschen mit Down-Syndrom erheblich verbessern können (Zimpel, 2008b; 2010). Die Möglichkeiten dafür scheinen längst noch nicht ausgeschöpft zu sein, da die neuropsychologischen Auswirkungen einer Trisomie 21 immer noch wenig bekannt sind. Dass eine Trisomie 21 nicht nur körperliche Auswirkungen hat, ist jedoch seit der Beschreibung dieses Syndroms durch Down (1866) unstrittig und zu Recht nie infrage gestellt worden.

Universitätsabschlüsse von Menschen mit Down-Syndrom werfen ein neues Licht auf den Zusammenhang zwischen einer freien Trisomie 21 und Lernschwierigkeiten. Menschen mit Syndromen wie Autismus (Gross, 2005) und Williams-Beuren-Syndrom sehen die Welt bekanntlich anders. Sie orientieren sich eher an Details. Wie ist das bei Menschen mit Down-Syndrom? Für das Syndrom Trisomie 21 fehlen solche Untersuchungen. Diese Lücke wollen wir mit dieser Studie schließen.

Einige Befunde zum Metabolismus von Neurotransmittern

Die erhöhte Gendosis bei Trisomie 21 (sowohl bei der häufigeren freien Trisomie 21 als auch bei den selteneren Mosaik- oder Translokationsformen) wirkt auch auf den Metabolismus von Neurotransmittern. Ein Beispiel ist der verminderte Acetylcholin-Stoffwechsel (Yates, Simpson, Maloney, Gordon & Reid, 1980; Dobbing, 1984, S. 268; Godridge, Reynolds, Czudek, Calcutt & Benton, 1987). Typische Symptome bei Trisomie 21, wie zum Beispiel die Hypotonie der Muskulatur, scheinen damit im Zusammenhang zu stehen. Tierversuche legen aber auch nahe, dass Abbau und Produktion von Acetylcholin im zentralen Nervensystem mit erlernter Aufmerksamkeitssteuerung zusammenhängen (Metherate & Weinberger, 1989). Auch wenn sich das Tiermodell nicht eins zu eins auf Menschen übertragen lässt, ist es doch unstrittig, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Botenstoff Acetylcholin und der Konzentration der Aufmerksamkeit besteht (Robbins, Milstein & Dalley, 2004, S. 283 – 293). Es gibt sogar erste Indizien für eine leichte Verbesserung der Steuerung von Bewegung, Emotionen und Aufmerksamkeit bei Menschen mit einer Trisomie 21 durch medikamentöse Hemmung des Abbauenzyms von Acetylcholin im synaptischen Spalt (Heller et al., 2003). Ähnliches gilt für Droxidopa (Wiseman, 2009; Salehi et al., 2009), ein Medikament, das einen Mangel des Neurotransmitters Noradrenalin bei Versuchsmäusen ausgleicht, sowie AFQ056 (Costa, 2011), eine Substanz mit hemmender Wirkung auf den Neurotransmitter GABA (Gamma-Aminobuttersäure). Die Grenzen des Tiermodells zeigen sich vor allem in der viel größeren Kompensationsfähigkeit des menschlichen Gehirns, die oft über längere Zeiträume von außen zugeführten Substanzen unwirksam werden lässt. Umso vielversprechender erscheinen deshalb nachhaltige pädagogische und didaktische Maßnahmen, die den neuropsychologischen Besonderheiten der Aufmerksamkeitssteuerung bei Trisomie 21 besser Rechnung tragen.

Widersprüchliche empirische Befunde

Der Autor konnte für neuropsychologische Besonderheiten der Aufmerksamkeitssteuerung bei Trisomie 21 in den letzten Jahrzehnten viele Einzelbefunde zusammentragen. Sie ergeben jedoch ein widersprüchliches Gesamtbild. Beispielsweise zeigen Kinder mit Trisomie 21 schon sehr früh (nicht selten schon mit vier Jahren) ein ausgeprägtes Interesse an abstrakten Zeichen, wie zum Beispiel Buchstaben, Zahlen, Gebärden usw., und sind recht sicher in der Raumorientierung, zum Beispiel beim Suchen von versteckten Gegenständen (Objektpermanenz) (Piaget & Inhelder, 1973, S. 24 – 25). Intelligenztestaufgaben, wie zum Beispiel in den CPM (Coloured Progressive Matrices), bereiten ihnen jedoch größere Schwierigkeiten als zu erwarten wäre. Eine derzeitig stattfindende empirische Studie soll dazu beitragen, einen Teil dieser Widersprüche aufzuklären. Die Grundüberlegungen und Befunde, auf denen die Voruntersuchung zu dieser Studie aufbaut, sind Gegenstand der nun folgenden Ausführungen.

Bellugi, Greenberg, Lenhoff & Wang (1998) sowie Bellugi & George (2001) haben die Aufmerksamkeitsbesonderheiten von Personen mit Williams-Beuren-Syndrom mehrfach untersucht. Als Vergleichsgruppe dienten dafür Personen mit Down-Syndrom. Diese Vergleichsuntersuchungen belegen Unterschiede in der sprachlichen und geistigen Entwicklung von Kindern mit Williams-Beuren-Syndrom auf der einen Seite und Kindern mit Trisomie 21 auf der anderen Seite. Für Kinder mit einer Trisomie 21 ergibt sich grob skizziert daraus folgendes Bild: Sie fallen durch ein besseres Sprachverständnis bei gleichzeitig geringerem Sprechvermögen auf. Sie neigen eher zu kurzen und knappen Drei- bis Fünfwortsätzen und haben eine geringere Sensibilität für grammatische Details. Sie sind dafür aber viel sicherer in der Raumorientierung und haben eher den Blick für das Große und Ganze (Bellugi et al., 1998, S. 65 – 67; Bellugi & George, 2001).

Die Aussage „Personen mit Down-Syndrom […] nehmen eher die Gesamtgestalt wahr, übersehen aber viele Details […].” (Bellugi & George, 2001, S. 62.), illustrierten eindrucksvoll Experimente mit Navon-Figuren: Im Gegensatz zu Personen mit einem Williams-Beuren-Syndrom (WBS) neigen Personen mit einer Trisomie 21 eher dazu, die Gesamtgestalt zu zeichnen. Das würde bedeuten, dass sie im Gegensatz zu Menschen mit WBS und Autismus ihre Aufmerksamkeit eher auf die Gesamtgestalt als auf die Details richten.

Zu dem Ergebnis, dass Menschen mit WBS eine Präferenz für Details haben, kommen auch andere Studien, zum Beispiel die von Siegmüller & van Minne (2009). Auch Riby & Hancock (2009) sowie Lacroix, Guidetti, Rogé & Reilly (2009) fanden unterschiedliche Grade der Präferenz für Details bei Menschen mit WBS und Autismus heraus. Der gemeinsame Hintergrund dieses Phänomens wird gewöhnlich mit dem Begriff der „schwachen zentralen Kohärenz” von Hermelin (2002, S. 62 – 64) recht gut erklärt. Untersuchungen mit Navon-Figuren von Mottron & Burack (2001) zeigten hier jedoch widersprüchliche Ergebnisse: Auch Menschen mit Diagnosen im Autismus-Spektrum orientieren sich unter bestimmten Bedingungen an einer Gesamtgestalt. Sie scheinen dabei jedoch andere Muster zu bilden im Vergleich zu Menschen ohne Syndrom.

Auch die experimentellen Einzelbeobachtungen von Menschen mit einer Trisomie 21, die der hier dargestellten Voruntersuchung vorausgingen, ergaben hinsichtlich einer Präferenz für die Gesamtgestalt widersprüchliche Befunde:

In einigen Fällen bestätigten sich Bellugis Untersuchungsergebnisse. In anderen Fällen ergaben sich jedoch gegensätzliche Befunde.

Abbildung 1 zeigt drei Navon-Figuren (Navon 1977; 1981), die von derselben Person (es handelt sich um eine 19-jährige Frau mit Trisomie 21) innerhalb einer Versuchssituation in unterschiedlicher Weise abgezeichnet wurden.

Abbildung 1. Drei Reproduktionen von Navon-Figuren von derselben Person mit Trisomie 21 innerhalb eines Experiments.

Auf dem ersten Testblatt (Abb. 1) richtete die Neunzehnjährige spontan ihre Aufmerksamkeit nur auf die Detailfiguren. Auf dem zweiten Blatt scheint es so, als würde sie nun auch Merkmale der Gesamtfigur bemerken. Jedenfalls baute sie in die Detailfiguren Eigenschaften der Gesamtfigur ein. Schließlich konzentrierte sie sich auf dem dritten Blatt ausschließlich auf die Gesamtfigur. Da sie auf dem dritten Testblatt mit der von ihr gezeichneten Gesamtfigur nicht zufrieden war, zeichnete sie das „D” noch einmal in etwas präziserer Ausführung daneben.

Beobachtungen zeigen immer wieder: Menschen mit einer Trisomie 21, die in einem Moment dazu neigen, von der Gesamtgestalt zugunsten der Details zu abstrahieren, können schon im nächsten Moment ein Detail hervorheben und von der Gesamtgestalt abstrahieren. Diese Beobachtung korrespondiert sehr gut damit, dass Personen mit Trisomie 21, die hervorragend das Alphabet beherrschen und fließend bis zu 50 Wörter mit der Ganzwortmethode lesen können, große Probleme haben, neue Wörter analytisch-synthetisch zu erschließen (Oelwein, 2007, S. 110 – 111).

Erläuterung der Simultandysgnosie-Hypothese

Die Schwierigkeit, zwischen zwei Aspekten hin- und herzuwechseln, erinnert an die Symptome, die Lurija (1970, S. 181 – 185; 1992, S. 122) bei Patienten mit einer Simultanagnosie schilderte: Entweder konnten sie ihre Aufmerksamkeit auf den Stift lenken, dann rutschte ihnen die Linie, auf der sie schreiben wollten, aus dem Aufmerksamkeitsfeld oder sie konzentrierten sich auf die Linie und verloren die Spitze des Stifts aus den Augen. Wollten sie einen Kreis zeichnen, konnten sie sich nur entweder auf den Mittelpunkt oder die mit dem Stift zu zeichnende Linie konzentrieren usw.

Hoffmann (2003, S. 111 – 112) beschreibt die Schwierigkeit, zwischen zwei Aspekten hin- und herzuwechseln, am Beispiel einer Frau mit Simultanagnosie: „Als man ihr einen Krug zeigte, aus dem Wasser in ein Glas gegossen wurde, bemerkte sie zunächst den Henkel und sagte ‚Koffer‘. Sie wurde aufgefordert, noch einmal hinzublicken, und erkannte das Glas. Da sie sich an den Griff erinnerte, blickte sie so lange hin, bis sie den Krug wahrnahm (jetzt mitsamt seinem Griff).”

Huberle & Karnath (2006, S. 905 – 911) zufolge sind die einer Simultanagnosie zugrunde liegenden neurologischen Prozesse noch nicht gut verstanden. Bekannt ist, dass sie beim Bálint-Holmes-Syndrom eine Folge einer bilateralen Verletzung in den Scheitel- und Hinterhauptslappen des Gehirns sind (Karnath, 2002, S. 242). Bei diesem Syndrom können Betroffene nicht mehr als ein Objekt gleichzeitig wahrnehmen. Bündelungen zu größeren Einheiten sind jedoch noch möglich, denn kurze Wörter oder auch kurze Sätze können bei diesem Syndrom fehlerfrei gelesen werden (ebenda, S. 234). Neben dieser dorsalen Simultanagnosie gibt es auch eine ventrale Simultanagnosie, bei der dies erschwert ist. Sie ist die Folge von Verletzungen der linken Hemisphäre im unteren Schläfen- und Hinterhauptslappen mit dem Symptom „letter-by-letter reading” (ebenda). Huberle & Karnath (2006, S. 905 – 911) kamen zu dem experimentellen Ergebnis, dass man die Unfähigkeit von Simultanagnosie-Patienten, das Ganze zu erkennen, reduzieren kann, zum Beispiel wenn man die Abstände in den Navon-Figuren verringert. Selbst bei einer Simultanagnosie erweist sich also die Teil-Ganzes-Berücksichtigung nicht als eine Entweder-oder-Frage.

Der Aufmerksamkeitsumfang ist eine oft übersehene Bedingung des Lernens, deren Bedeutung für die kognitive Entwicklung unterschätzt wird. Er bezeichnet die Anzahl der Elemente, die gleichzeitig (simultan) erkannt werden können. In Anlehnung an den Arbeitsspeicher im Computer bezeichnet man heute den Aufmerksamkeitsumfang gern auch als „Arbeitsgedächtnis” oder auch „Kurzzeitgedächtnis”. (Auf die feinen Bedeutungsunterschiede, die sich aus unterschiedlichen experimentellen Fragestellungen ergeben, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.)

Schneider & Deubel (2000) ermittelten vier Einheiten als Limit für die Simultanerfassung. Auch eine historische Analyse der Entwicklung der Schreibweise von Ziffern (z. B. römische, chinesische und indianische Zahlenschreibweisen) sowie ontogenetische und interkulturelle Vergleichsstudien legen eine optimale Bündelung von Zeichen in drei bis vier Einheiten nahe (Zimpel, 2008a, S. 33 – 44). Dehaene (1997, S. 71) sowie Dehaene & Cohen (1994) bezeichnen diese Grenze auch als „subitizing limit”. Hinter dieser Grenze beginnt die Annäherung an Anzahlen durch Bündelung zu Gestalten oder mehr oder weniger gekonntes Schätzen.

Piazza, Mechelli, Butterworth & Price (2002) zeigten über Bildgebung mit Positronen-Emissions-Tomographie, dass es sich bei Simultanerfassung von drei bis vier Elementen und der bündelnden Erfassung der Anzahl von sechs bis neun Elementen um Prozesse handelt, die sich im Gehirn funktional überlappen: Das gemeinsame Netzwerk für beide Prozesse sind Teile des sekundären occipitalen Sehzentrums im extrastriären Kortex sowie intraparietale Teile des Scheitelhirns. Der Vergleich zwischen der Simultanerfassung (drei bis vier Einheiten) und der bündelnden Erfassung der Anzahl (sechs bis neun Einheiten) ergab: Letztere Funktion geht mit zunehmender Aktivität dieses Netzwerkes einher, was bei der Simultanerfassung nicht der Fall ist.

Mit „Simultanagnosie” bezeichnet man eine Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs auf nicht mehr als ein Objekt zur selben Zeit, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine dorsale, ventrale oder kombinierte Form handelt. Eine Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs auf weniger als vier Objekte zur selben Zeit müsste dann streng genommen „Simultandysgnosie” heißen.

Um zu einem tieferen Verständnis der Lernschwierigkeiten von Menschen mit einer Trisomie 21 zu gelangen, entstand aus diesen Überlegungen die Hypothese: Eine Trisomie 21 geht regelmäßig mit einer Simultandysgnosie einher. Um zu prüfen, ob diese Simultandysgnosie-Hypothese einem ersten Falsifikationsversuch standhält, wurde an der Universität Hamburg in unserem Aufmerksamkeits-Computer-Laboratorium (ACL) eine Serie von Experimenten durchgeführt. Die Teilhypothesen sind:

  1. 1.
    Die Personen der Versuchsgruppe haben signifikant mehr Schwierigkeiten beim gleichzeitigen Erfassen von Gesamtgestalt und Details als die Personen der Kontrollgruppe.
  2. 2.
    Die Personen der Versuchsgruppe erkennen die Anzahlen auf konventionellen Würfelbildern genauso schnell (in 250 Millisekunden) wie die Personen der Kontrollgruppe. Bei höheren Anzahlen, die nach ähnlichem Muster geordnet sind, treten jedoch signifikant mehr Probleme auf als bei Personen der Kontrollgruppe.
  3. 3.
    Fehler bei der Angabe der Anzahl von kleinen Quadraten in zufällig angeordneten Quadratwolken, die nur 250 Millisekunden angezeigt werden, treten bei den Personen der Versuchsgruppe schon bei signifikant kleineren Mengen auf als bei den Personen der Kontrollgruppe.
  4. 4.
    Fehler bei der Angabe der Anzahl der Striche in einer Reihe treten bei den Personen der Versuchsgruppe schon bei signifikant kleineren Strichmengen auf als bei den Personen der Kontrollgruppe.

Methodik

Stichprobe

An den vier Experimenten der Voruntersuchung nahmen als Versuchsgruppe 19 Personen mit einer Trisomie 21 teil (IQ zwischen 50 und 75), davon 13 weibliche und 6 männliche.

Als Kontrollgruppe kamen weitere 36 Personen ohne Trisomie 21 dazu, Eltern und Geschwister. Von diesen Personen waren 27 weiblich und 9 männlich (IQ durchschnittlich bis überdurchschnittlich).

Voraussetzung für die Teilnahme am Experiment war nicht der IQ, sondern ein entwickelter Zahlbegriff, der im Zweifelsfalle zuvor mit Piaget-Experimenten (Piaget & Szeminska, 1975, S. 166 – 208) zur Sereation und Klasseninklusion überprüft wurde. Es handelte sich in beiden Gruppen also um Personen im Schul- und Erwachsenenalter mit entwickeltem Zahlbegriff.

Untersuchungsverfahren

Die auf einen Bruchteil einer Sekunde reduzierte Präsentation von Anzahlen ist eine bewährte empirische Methode zur Abschätzung des Umfangs der visuellen Simultanerfassung. Die auf einen kurzen Augenblick beschränkte Darbietung soll komplizierte Bündelungstechniken im Idealfall verhindern oder zumindest erheblich erschweren. Wir nutzten diese Methode der Computer-Tachistoskopie zur Präsentation unterschiedlich gruppierter Anzahlen, konkret: zur Präsentation von Interferenzbildern, Würfelpunktbildern, Quadratwolken und Strichreihen.

Anhand vieler Versuche an Studierenden erfolgte die Eichung des Messverfahrens auf vier Einheiten in Anlehnung an die Experimente von Schneider & Deubel (2000). Die Limitierung der Präsentationszeiten der Schaubilder am Computerbildschirm auf präzise 250 Millisekunden erwies sich dabei als hinreichend genau. Die zeitliche Dauer der Pause zwischen den einzelnen Darbietungen können die Teilnehmenden bei diesem Verfahren selbst bestimmen.

Experiment 1: Interferenzbilder

Die hier ausgewählten Interferenzbilder enthalten wie Navon-Figuren einen Teil-Ganzes-Gegensatz (Abb. 2).

Abbildung 2. 16 Schaubilder für das Experiment „Interferenzbilder”.

Alle 55 Versuchspersonen wurden gebeten, beide Faktoren („vier mal vier” oder „zwei und drei” usw.) oder die gesamte Anzahl (das Produkt) zu benennen. Die Reihenfolge der Nennung der Faktoren spielte für die Auswertung keine Rolle (Abb. 2).

Die Aufgabe erfordert das Hin- und Herwechseln der Aufmerksamkeit zwischen der Gesamtgestalt und ihren Teilen. Menschen mit einer Trisomie 21 sollten damit entsprechend der Simultandysgnosie-Hypothese mehr Schwierigkeiten als andere Versuchspersonen haben, unabhängig davon, ob sie von den Details oder der Gesamtgestalt abstrahieren.

Experiment 2: Würfelpunktbilder

Bei Würfelpunktbildern von eins bis sechs fällt die Simultandysgnosie als Hinderungsgrund für die Erfassung der Anzahlen weg. Zur Kontrolle nahmen wir zu den Schaubildern mit Würfelpunktbildern von eins bis sechs zusätzlich im analogen Stil gestaltete Schaubilder mit sieben und acht Punkten dazu (Abbildung 3).

Abbildung 3. 24 Schaubilder, die jeweils am Computerbildschirm für genau 250 ms angezeigt werden, im zweiten Experiment „Würfelpunktbilder”.

Experiment 3: Quadratwolken

Ging es beim zweiten Experiment darum, Bündelungen und Gestalteffekte durch konventionelle oder symmetrische Anordnungen zu erleichtern, war das Ziel im dritten Experiment, solche Effekte zu erschweren. Als besonders geeignet erschienen uns dafür ungeordnete Mengen aus kleinen Quadraten (Quadratwolken). Die Anordnung der kleinen Quadrate erfolgte nach Zufallsprinzip, blieb dann aber für alle Versuchspersonen identisch, um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten.

Genauere Befragungen und Variationen der experimentellen Bedingungen zeigten, dass Zufallsanordnungen in der Fläche spontanen Bündelungen von Anzahlen in Einheiten und Gestalten provozieren können. Zum Beispiel wurden drei Punkte spontan als ein Dreieck, vier Punkte als Drachenviereck oder fünf Punkte als Buchstabe „M” gesehen und damit die Gesamtzahl der sichtbaren Einheiten reduziert.

Experimentell zeigte sich zum Beispiel bei Studierenden, dass die Schätzungen präziser wurden, wenn ihnen die Höchstzahl der angezeigten Quadrate bekannt war (bei den Schaubildern in Abbildung 4 beträgt die Höchstzahl zwanzig). Einige Studierende gaben beispielsweise an, dass sie dann bei großen Mengen aktiv nach viermal fünf Quadraten gesucht und geschätzt hatten, wie viele Quadrate bis 20 fehlten.

Abbildung 4. 28 Schaubilder, die jeweils am Computerbildschirm für genau 250 ms angezeigt werden, im Experiment 3 „Quadratwolken”.

Auch bei Menschen mit einer Trisomie 21 konnten wir solche Bündelungen von Elementen zu Gesamtgestalten nachweisen. Als Beispiel sei hier das experimentelle Ergebnis von Noack & Macykowski (2010, S. 17) angeführt (Abb. 5).

Abbildung 5. Nutzung von Gestalteffekten zur Reproduktion der richtigen Anzahl einer ungeordneten Punktmenge durch einen jungen Mann mit Trisomie 21.

Das Problem der Bündelung von Elementen zu Gestalten und Superzeichen ist schon seit den Experimenten mit dem Tachistoskop von Wundt (1901, S. 254 – 255; 1913, S. 255 – 260) bekannt: Wundts Versuchspersonen erfassten simultan bis zu sechs einfache Linien, Ziffern oder Buchstaben. Bei sinnlosen Silben konnten sie dagegen schon sechs bis zehn Buchstaben simultan erfassen. Sprichwörter ließen den Umfang der Aufmerksamkeit auf vier bis fünf kurze Wörter anwachsen, also auf zwanzig bis dreißig Buchstaben. Beim Versuch, die Bildung höherer Einheiten auszuschließen, kam Wundt auf einen Umfang der Aufmerksamkeit sowohl für den Tast- als auch für den Gesichtssinn von vier bis sechs Einheiten.

Aber auch aus Studien zur historischen Entwicklung von Ziffernschreibweisen aus Strichlisten (Zimpel, 2008a, S. 33 – 44) ist bekannt: Bei fünf Einheiten entsteht das Bedürfnis zur Bündelung. Schon fünf Striche (IIIII) lassen sich besser in zwei Bündeln erfassen (II III).

Experiment 4: Strichreihen

Um mentale Bündelungen und Gestalteffekte zu erschweren, änderten wir die Schaubilder. Statt der Quadratwolken enthielten sie nun Strichreihen, genauer: unterschiedliche Anzahlen von Strichen in einer Reihe mit regelmäßigen Abständen (Abb. 6).

Abbildung 6. 28 Schaubilder, die jeweils am Computerbildschirm für genau 250 ms angezeigt werden, im Experiment 4 „Strichreihen”.

Dadurch sollte die Schätzung der Anzahlen erschwert werden. Die suggestive Gestalt der unterschiedlichen Streifen, die nur in der Dichte der Schraffur differierten, war schließlich bei allen Schaubildern ähnlich.

Statistische Auswertung

Die richtigen Nennungen der Anzahlen in Versuchs- und Kontrollgruppe werden als unabhängige Stichproben verglichen. Annahmen über die Verteilung (z. B. Normalverteilung) der Häufigkeit richtiger Anzahlerkennungen- bzw. Schätzungen können dabei nicht getroffen werden. Für diesen Fall stehen vier Tests zur Verfügung: der Mann-Whitney-U-Test, der Test nach Wald-Wolfowitz, der Kolmogorov-Smirnov-Test und der Moses-Test. Mit den ersten drei Verfahren lässt sich die Hypothese überprüfen, ob die beiden Stichproben derselben Grundgesamtheit entstammen. Mit dem Moses-Test lässt sich die Spannweite der beiden Stichproben vergleichen. Da die Häufigkeit richtiger Nennungen der Anzahl auf einer identischen Einheit (richtige oder falsche Anzahl) beruht, ist das Skalierungsniveau auch für den Kolmogorov-Smirnov-Test gegeben. Die restlichen Prüfungsverfahren setzen dagegen nur ein Ordinalskalenniveau voraus.

Ergebnisse

Experiment 1: Interferenzbilder

Die statistisch hochsignifikanten Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe (Abb. 7) legen nahe, dass die Personen mit Trisomie 21, die über einen entwickelten Zahlbegriff verfügen, tatsächlich Schwierigkeiten haben, Teil und Ganzes in Beziehung zu setzen. Darüber hinaus gab es hier auch qualitative Befunde, die im Kapitel „Diskussion” dargestellt werden.

Abbildung 7. Linkes Diagramm, Versuchsgruppe (Trisomie 21)/rechtes Diagramm, Kontrollgruppe: absolute Zahlen der Personen mit richtigen Angaben der Anzahl im Experiment 1 „Interferenzbilder”. Abszisse: Anzahl der Punkte. Ordinate: absolute Zahl der Personen mit richtigen Angaben der Anzahl der Punkte. (Die Unterschiede sind statistisch hochsignifikant, bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p < 0,001, Mann-Whitney-Test, Moses-Test, Kolmogorov-Smirnov-Test bei zwei Stichproben und Test nach Wald-Wolfowitz.)

An dieser Stelle lässt sich zunächst feststellen, dass sich die erste Teilhypothese bestätigt hat: Die Personen der Versuchsgruppe haben signifikant mehr Schwierigkeiten beim gleichzeitigen Erfassen von Gesamtgestalt und Details der Interferenzbilder als die Personen der Kontrollgruppe.

Experiment 2: Würfelpunktbilder

Die klassischen Würfelpunktbilder (eins bis sechs Punkte) wurden nahezu von allen 55 Personen mühelos erkannt, sowohl von denen der Kontrollgruppe als auch von den Personen mit Trisomie 21 in der Versuchsgruppe. Unsicherheiten traten nur bei wenigen Personen der Versuchsgruppe auf (und zwar im Bereich zwischen vier und sechs Punkten), die Unterschiede sind aber statistisch nicht signifikant.

Erst bei den Sieben- und Achtpunktbildern im Stil der Würfelbilder traten nennenswerte Verwechslungshäufigkeiten auf. Wie aufgrund der Hypothese einer Simultandysgnosie zu erwarten war, zeigten sich hier wieder hochsignifikante Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe (Abb. 8). Damit hat sich auch die zweite Teilhypothese bestätigt: Die Personen der Versuchsgruppe erkennen die Anzahlen auf konventionellen Würfelbildern genauso schnell (in 250 Millisekunden) wie die Personen der Kontrollgruppe. Bei höheren Anzahlen, die nach ähnlichem Muster geordnet sind, treten jedoch signifikant mehr Probleme auf als bei Personen der Kontrollgruppe.

Abbildung 8. Linkes Diagramm, Versuchsgruppe (Trisomie 21)/rechtes Diagramm, Kontrollgruppe: absolute Zahlen der Personen mit drei richtigen Angaben der Anzahl im Experiment 2 „Würfelpunktbilder”. Abszisse: Anzahl der Punkte. Ordinate: absolute Zahl der Personen mit drei richtigen Angaben der Anzahl der Punkte. (Die Unterschiede sind statistisch hochsignifikant, bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p < 0,001, Mann-Whitney-Test, Moses-Test, Kolmogorov-Smirnov-Test bei zwei Stichproben und Test nach Wald-Wolfowitz.)

Experiment 3: Quadratwolken

In diesem dritten Experiment zeichnen sich Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe ab, wie sie im Falle einer Simultandysgnosie bei Menschen mit Trisomie 21 zu erwarten wären (Abb. 9): Die Häufigkeit richtiger Schätzungen der Anzahlen nimmt bei der Versuchsgruppe (Personen mit Trisomie 21) mit wachsender Anzahl der dargestellten Quadrate deutlich früher ab als bei der Kontrollgruppe.

Abbildung 9. Linkes Diagramm, Versuchsgruppe (Trisomie 21)/rechtes Diagramm, Kontrollgruppe: absolute Zahlen der Personen mit richtigen Angaben der Anzahl im Experiment 3 „Quadratwolken”. Abszisse: Anzahl der Elemente der ungeordneten Menge. Ordinate: absolute Zahl der Personen mit richtigen Angaben der Anzahl der Elemente der ungeordneten Menge. (Die Unterschiede sind statistisch hochsignifikant, bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p < 0,001, Mann-Whitney-Test, Moses-Test, Kolmogorov-Smirnov-Test bei zwei Stichproben und Test nach Wald-Wolfowitz.)

Bei bis zu sechs Einheiten schätzte mehr als die Hälfte der Kontrollgruppe die Anzahl richtig ein (Abb. 9, rechts). Das sind allerdings etwas mehr richtige Schätzungen, als für ein Aufmerksamkeitsfenster von drei bis vier Einheiten zu erwarten waren. Die dritte Teilhypothese hat sich dennoch bestätigt: Erste Fehler bei der Angabe der Anzahl der kleinen Quadrate, die nur 250 Millisekunden angezeigt werden, treten bei den Personen der Versuchsgruppe schon bei kleineren Mengen auf als bei den Personen der Kontrollgruppe.

Experiment 4: Strichreihen

Bei allen 55 an der Voruntersuchung beteiligten Personen erwies sich die Schätzung der Anzahlen im vierten Experiment als etwas schwieriger als im dritten. Sowohl die 19 Personen mit einer Trisomie 21 als auch die 36 Personen der Kontrollgruppe fanden innerhalb der 250-ms-Präsentationszeit weniger Möglichkeiten zur mentalen Bündelung der Elemente. Die suggestive Gestalt der unterschiedlichen Streifen, die nur in der Dichte der Schraffur differierten, war schließlich bei allen Schaubildern ähnlich.

Mit diesem Experiment ist es uns also hinreichend genau gelungen, neuere experimentelle Ergebnisse von rund vier Einheiten als Limit für die Simultanerfassung zu reproduzieren. Die Häufigkeit richtiger Schätzungen der Anzahlen nahm bei der Versuchsgruppe (Personen mit Trisomie 21) in diesem Experiment schon leicht nach zwei Einheiten und sehr deutlich nach drei Einheiten ab (Abb. 10, links).

Abbildung 10. Absolute Zahlen der Personen mit richtigen Angaben der Anzahl im Experiment 4 „Strichreihen”. Abszisse: Anzahl der Striche. Ordinate: absolute Zahl der Personen mit richtigen Angaben der Anzahl der Striche innerhalb der Reihe. (Die Unterschiede sind statistisch hochsignifikant, bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p < 0,001, Mann-Whitney-Test, Moses-Test, Kolmogorov-Smirnov-Test bei zwei Stichproben und Test nach Wald-Wolfowitz.). Das Experiment 4 „Strichreihen” scheint ein geeignetes Messverfahren zu sein, mit dem sich der Aufmerksamkeitsumfang messen und die Hypothese der Simultanagnosie bei einer Trisomie 21 in Zukunft auch bei einer größeren Stichprobe überprüfen lässt.

Diskussion

Alters- und Entwicklungseffekte

Aufmerksamkeitsumfang und IQ charakterisieren in dieser Stichprobe von 55 Personen die Unterschiede zwischen Vergleichs- und Kontrollgruppe im gleichen Maße: Die IQ-Werte bei allen Personen der Versuchsgruppe liegen deutlich unter dem Normalbereich (IQ zwischen 50 und 75). Die diagnostizierten Lernschwierigkeiten bewegen sich also im unteren Bereich der Lernbehinderung, der leichten geistigen Behinderung (ICD-10 F70) sowie im oberen Bereich der mittelgradigen geistigen Behinderung (ICD-10 F71). Entwicklungseffekte können anhand der vorliegenden Daten nicht endgültig geklärt werden, denn alle Personen der Versuchsgruppe wurden nach Sonderrichtlinien an Förderschulen oder in Integrationsklassen unterrichtet. Allein schon daraus resultiert die Notwendigkeit einer diachronischen Entwicklungsbewertung (Rauh, Schellhas, Goeggerle & Müller, 1996; Rauh, 2000). Einen sicheren Zahlbegriff konnten wir nur bei älteren Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 diagnostizieren, bei Kindern ohne Syndrom und ohne Lernschwierigkeiten dagegen schon im Grundschulalter. Da der Zahlbegriff die Voraussetzung für diese Messung ist, lassen sich hohe Alters- und IQ-Differenzen innerhalb und zwischen der Versuchs- und Kontrollgruppe nicht vermeiden.

Mehr Aufschluss über Entwicklungseffekte könnte eine Kontrollgruppe von Gleichaltrigen mit Lernschwierigkeiten vom gleichen Grade (gleicher IQ) geben, beispielsweise mit WBS oder Autismus. Solche Vergleichsuntersuchungen sind in absehbarer Zukunft geplant.

Eine etwas bessere Eingrenzung von Alters- und Entwicklungseffekten ist jedoch möglich, indem man etwas homogenere Teilgruppen bildet und diese genauer betrachtet. Aus der Versuchsgruppe wurden zu diesem Zweck die 8 Personen ausgesucht, die bei den CPM mehr als 16 Aufgaben richtig lösten (Tab. 1, Zeilen 1 – 8), die also näher an die Ergebnisse der Kontrollgruppe heranreichen.

Tabelle 1. Alter und CPM-Rohwerte der Personen in der Versuchsgruppe

Das mittlere Alter dieser homogenisierten Versuchsgruppe liegt bei rund 18 Jahren (Minimum: 9; 10, Maximum: 31; 1). Die mittlere Punktzahl beim CPM liegt bei rund 21 Punkten (Minimum: 17, Maximum: 24). Aus der homogenisierten Kontrollgruppe wurden zum Vergleich die 7 jüngsten Personen ausgewählt: Durchschnittsalter rund 10 Jahre (Minimum: 7; 11, Maximum: 15; 3) – mittlere CPM-Punktzahl 32 (Minimum: 30, Maximum: 35). ((Tabelle 2))

Tabelle 2. Alter und CPM-Rohwerte der Personen in der Teilstichprobe (Kontrollgruppe)

Auch bei diesen homogenisierten Teilstichproben sind die Unterschiede signifikant. Beim Vergleich der Ergebnisse zum Experiment 4 „Strichreihen” ergibt sich beim Mann-Whitney-U-Test für zwei unabhängige Stichproben beispielsweise eine Irrtumswahrscheinlichkeit von 0,004, mit der die Hypothese einer Gleichverteilung in beiden Teilstichproben abgelehnt werden kann.

Präferenz für die Gesamtgestalt

Im Experiment 1 „Interferenzbilder” zeigten sich bei Menschen mit Trisomie 21 qualitative Eigenheiten, die mit der These einer Präferenz für die Gesamtgestalt nicht vereinbar sind:

Das Verhältnis der Beachtung der Details im Verhältnis zur Beachtung des Gesamtbildes (Teil: Ganzes) beträgt in absoluten Zahlen in der Versuchsgruppe 80:92. Die etwas häufigere Beachtung der Gesamtgestalt ist bei Navon-Bildern der Regelfall. Nimmt man andere Aufgabenstellungen, wie zum Beispiel Ravens „Coloured Progressive Matrices” (CPM), die bekannt dafür sind, dass Menschen mit diesem Syndrom hier besondere Fehlermuster zeigen (Gunn & Jarrold, 2004), erhält man ein Verhältnis Teil: Ganzes von rund 2:1 (134:70). ((Fig. 11))

Abbildung 11. Untersuchung mit Ravens „Coloured Progressive Matrices” (CPM) in Buchform.

Die von Bellugi und George (1998, S. 62) ermittelte Neigung zur Berücksichtigung der Gesamtgestalt hat sich also nicht bestätigt. Tatsächlich führten die Interferenzbilder bei den untersuchten Personen mit einer Trisomie 21 regelmäßig zur Überforderung. Genau das wäre auch das zu erwartende Kardinalsymptom einer Simultandysgnosie.

Die Ergebnisse sprechen dafür, dass falsche Antworten im Raven-Test von Menschen mit einer Trisomie 21 eher aufgrund des Heraushebens eines einzelnen Aspektes bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer Aspekte zustande kommen. Gelegentlich zeigt sich jedoch auch eine Vernachlässigung der Details zugunsten der Gesamtgestalt, wie sie Bellugi beobachtet hat.

Insgesamt lässt sich feststellen: Das Hin- und Herwechseln zwischen mehreren Aspekten bereitet Menschen mit einer Trisomie 21 offensichtlich mehr Schwierigkeiten als anderen Versuchspersonen in ihrem Alter. Das gilt sowohl für die Berücksichtigung von zwei Details als auch für die Beziehung zwischen einem Teil und dem Ganzen.

Diese Besonderheit zeigt sich auch in der Anfangsphase des Lesen- und Schreibenlernens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Trisomie 21. Sie haben gehäuft Schwierigkeiten beim Abschreiben von mehr als zwei Buchstaben. Gelegentlich ist auch zu beobachten, dass sie drei bis vier Buchstaben einer Silbe oder drei bis vier Objekte einer Menge einzeln mithilfe der Finger abzählen (Abb. 12).

Abbildung 12. Finger als Buchstabierhilfe bei einem jungen Mann mit Trisomie 21.

Auch beim Hören von Lautfolgen erscheint der Aufmerksamkeitsumfang von Menschen unter den Bedingungen einer Trisomie 21 als eingeschränkt. Immer wieder lässt sich beispielsweise beobachten, dass sie nur die Endsilben einzelner Worte nachsprechen. Offensichtlich übersteigt dann die Wortlänge den Umfang ihres (akustischen) Aufmerksamkeitsfeldes. Es passiert auch nicht selten, dass sie am Ende eines Satzes den Anfang schon wieder vergessen haben, wie Bird und Buckley (2000, S. 48 – 49) berichten.

Eine Einschränkung auf der einen Seite weckt aber bei ihnen meist Kräfte der Kompensation auf der anderen Seite (ebenda, S. 36 – 37). Der eingeschränkte Aufmerksamkeitsumfang scheint Menschen mit einer Trisomie 21 regelrecht zu zwingen, das Wesentliche in möglichst kurzen und knappen Mitteilungen unterzubringen. Das zeigen in eindrucksvoller Weise Texte von Personen mit einer Trisomie 21 in der Zeitschrift „Ohrenkuss”. Ein Beispiel, das für viele andere Texte dieser Art steht, ist „Das nennt man Evolution” von Kühne (2009): „Manche Fehler können korrigiert werden, einige können tödlich enden und aus manchen Fehlern entsteht etwas Neues.”

Konklusion

Natürlich ist die Zahl der von uns untersuchten Personen noch viel zu gering, um dieses Ergebnis verallgemeinern zu können. Sollte sich die Hypothese einer Simultandysgnosie jedoch auch in einer repräsentativen Stichprobe bestätigen, wäre eine Neubewertung der geistigen Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen mit einer Trisomie 21 auf der Tagesordnung.

Von Geburt an blinde Kinder benötigen bekanntlich dringend ein spezielles Mobilitätstraining (Nielsen, 1993) und später den Unterricht in Braille-Schrift, um sich geistig altersgerecht zu entwickeln. Gehörlose Kinder benötigen dafür die Gebärdensprache (Sacks, 1991) und in ihren Bewegungsmöglichkeiten stark beeinträchtigte Kinder Methoden der Alternativen und Unterstützten Kommunikation. Könnte die geistige Entwicklung von Menschen mit einer Trisomie 21 nicht ebenfalls von speziellen didaktischen Maßnahmen abhängen? Erfolge beim frühen Lesenlernen und bei gebärdenunterstützter Kommunikation könnten erste Hinweise dafür sein.

Die vielen biologisch, sozial und psychologisch bedingten Risiken für Lernschwierigkeiten bei einer Trisomie 21 sollen hier keinesfalls bestritten werden. Dass aber eine Trisomie 21 nicht zwangsläufig zu massiven Lernschwierigkeiten führen muss, ist in der Praxis längst bewiesen. Es gibt drei weltberühmte Beispiele: die Japanerin Aya Iwamoto, den Italiener Dottore Francesco Aglio und den Spanier Pablo Pineda. Iwamoto absolvierte ein Studium der englischen Literatur und arbeitet heute als Übersetzerin von Kinderbüchern. Aglio, der nach dem Gymnasium in vier Jahren ein Wirtschaftsstudium mit Erfolg absolvierte, arbeitet jetzt als promovierter Wirtschaftsberater. Pineda, der das Diplom als Grundschullehrer erwarb, arbeitet für Málagas Sozialdienst als Berater für Familien, in denen ein Kind mit Behinderung lebt (Zimpel, 2010, S. 28 – 35; Halder, 2010, S. 53). Im Oktober dieses Jahres besuchte er die Universität Hamburg und unterstützt uns bei der Ausweitung der Studie auch auf Spanien.

Es könnte sich bei den Personen mit akademischen Abschlüssen natürlich auch um seltene Ausnahmeerscheinungen handeln. Aber vergessen wir nicht, auch der lesende und schreibende Nigel Hunt (1979) galt in den 1960er Jahren als Ausnahmetalent.

Unsere empirischen Belege für eine Simultandysgnosie bei Menschen mit einer Trisomie 21 werten wir als erste Indizien dafür, dass der Unterricht an Förderschulen den neuropsychologischen Besonderheiten von Menschen mit einer Trisomie 21 nur wenig Rechnung tragen kann. Der anschauungsgebundene, kleinschrittige und Abstraktionen vermeidende Unterricht überfordert erfahrungsgemäß den Aufmerksamkeitsumfang von Personen mit einer Trisomie 21. Stattdessen zeigt sich immer wieder, dass die frühzeitige handlungsorientierte Vermittlung von geeigneten abstrakten Superzeichen auf die geistige Entwicklung von Kindern mit einer Trisomie 21 anregend wirkt.

Nächste Schritte weiterführender Untersuchungen, die wir in verschiedenen Projekten innerhalb der nächsten Jahre durchführen wollen, sind neben einer besseren Kontrolle der Alters- und Entwicklungseffekte die Folgenden:

  1. 1.
    Die Anwendung des vorhandenen Methodeninventars auf eine repräsentative Stichprobe.
  2. 2.
    Entwicklung und Erprobung eines neuen Methodeninventars unter Einsatz von Eye-Tracking und Neurofeedback, das auch für Kinder ohne Objektpermanenz sowie mit Objektpermanenz – aber ohne Zahlbegriff – geeignet ist.
  3. 3.
    Entwicklung und Erprobung eines Untersuchungsinventars, das auch den Tastsinn und das Gehör mit einbezieht.
  4. 4.
    Die Untersuchung kybernetischer Zusammenhänge zwischen Simultandysgnosie und Bewegungslernen sowie zwischen Aufmerksamkeits- und Bewegungssteuerung.
  5. 5.
    Die gemeinsame Entwicklung und Erprobung didaktischer Materialien mit Lernenden, die unter den Bedingungen einer Trisomie 21 leben, um Nachteile beim Lernen auszugleichen und die damit eventuell verbundenen Stärken gezielt zu fördern.

Literatur

Prof. Dr. habil. André Frank Zimpel, Lernen und Entwicklung, Universität Hamburg, Sedanstr. 19, 20146 Hamburg, Deutschland