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Open AccessPositionspapier

Deutsche Übersetzung der Diagnosekriterien für die Kauf-Shopping-Störung

Published Online:https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000737

Abstract

Zusammenfassung.Zielsetzung: Der Beitrag stellt die deutsche Übersetzung der Diagnosekriterien für die Kauf-Shopping-Störung vor, die im Rahmen einer internationalen Delphi-Studie entwickelt wurden. Methodik: In einem iterativen Prozess wurden die vorgeschlagenen englischen Diagnosekriterien aus der Originalveröffentlichung ins Deutsche übersetzt und von den Autor_innen dieses Beitrags konsentiert. Ergebnisse: Deutsche Übersetzung der vorgeschlagenen Diagnosekriterien für die Kauf-Shopping-Störung. Schlussfolgerungen: Die Übersetzung wurde vorgenommen, um die vorgeschlagenen Diagnosekriterien im deutschen Sprachraum zu verbreiten und sowohl Praktiker_innen als auch Forscher_innen zugänglich zu machen. Es bedarf weiterführender Studien zur Prüfung der klinischen Anwendbarkeit und diagnostischen Validität der vorgeschlagenen Kriterien sowie zur Formulierung diagnostischer Entscheidungsregeln.

German Translation of the Diagnostic Criteria for Compulsive Buying-Shopping Disorder Consented by International Experts Using the Delphi Method

Abstract.Background: This contribution represents the German translation of the diagnostic criteria for buying-shopping disorder (BSD), which have been developed in the context of an international Delphi study. Methods: Following an iterative process, the originally proposed English diagnostic criteria for BSD were translated and consensus was reached among the authors of this paper. Results: German translation of the proposed diagnostic criteria for BSD. Conclusions: The proposed diagnostic criteria for BSD were translated into German language to make them accessible to German speaking clinicians and researchers. Future studies should address the clinical applicability and diagnostic validity of the proposed criteria and the development of diagnostic decision rules.

Einführung

Seit den 1980er Jahren haben sich diverse Projekte im Bereich Medizin, Psychologie und Konsumforschung mit der Phänomenologie, Prävalenz, psychosozialen Korrelaten, Ätiologie und Therapie der Kauf-Shopping-Störung befasst (Claes & Müller, 2017; Hague, Hall & Kellet, 2016; Kyrios et al., 2018; Maraz, Griffiths & Demetrovics, 2016; Müller et al., 2019; Trotzke, Brand & Starcke, 2017; Soares, Fernandes & Morgado, 2016) (siehe Abbildung 1). Das ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass bis zum heutigen Tag keine anerkannten Diagnosekriterien für diese Störung existieren. Dabei wurde das Phänomen bereits vor mehr als einem Jahrhundert als „krankhafte Kauflust“ in einem Lehrbuch der Psychiatrie erwähnt (Kraepelin, 1899) und etwas später als „Oniomanie“ beschrieben (Kraepelin, 1909). Der erste Versuch, Diagnosekriterien für die Kauf-Shopping-Störung zu formulieren, geht auf McElroy, Keck, Pope, Smith und Strakowski (1994) zurück. Vor knapp 30 Jahren haben sie in Anlehnung an die DSM-III-R Kriterien für Impulskontrollstörungen, Zwangsstörungen, Substanzabhängigkeiten und pathologisches Spielen (APA, 1987) Diagnosekriterien für „Compulsive Buying“ vorgeschlagen, die auf der Untersuchung von 20 Patient_innen mit exzessivem Kaufverhalten basierten (McElroy et al., 1994). Diese vorläufigen Kriterien wurden allerdings nie konsentiert, validiert oder weiterentwickelt.

Abbildung 1 Historischer Überblick über Forschung zur Kauf-Shopping-Störung.

Ungeachtet der also immer noch fehlenden anerkannten Diagnosekriterien gibt es bereits relativ viele Fragebögen zur Messung von Symptomen der Kauf-Shopping-Störung (Überblick bei: Müller, Mitchell, Vogel & de Zwaan, 2017), die sich auf die erwähnten vorläufigen Kriterien (McElroy et al., 1994), deskriptive Berichte zur Phänomenologie (Christenson et al., 1994; Dittmar, Beattie & Friese, 1996; Lejoyeux , Ades, Tassain & Solomon, 1996; Schlosser, Black, Repertinger & Freet, 1994) und klinische Erfahrungen beziehen. Je nach theoretischem Hintergrund bilden sie die Problematik entweder relativ breit als exzessives oder pathologisches Kaufen ab (Müller, Trotzke, Mitchell, de Zwaan & Brand, 2015) oder adressieren süchtige (Raab, Neuner, Reisch & Scherhorn, 2005; Andreassen et al., 2015) oder impulsive und/oder zwanghafte (Faber & O‘Guinn, 1992; Edwards, 1993; Ridgway, Kukar-Kinney & Monroe, 2008; Kyrios , Fassnacht, Ali, McLean & Moulding, 2020) Aspekte. Einige dieser Messinstrumente wurden sogar schon zur Schätzung der Prävalenz der Kauf-Shopping-Störung herangezogen, die laut einer Metaanalyse bei ca. 5 % liegt (Maraz et al., 2016). Je nach theoretischem Fokus kann es zu Abweichungen in der Einschätzung des Risikos für eine Kauf-Shopping-Störung kommen (Maraz et al., 2015) und natürlich erlauben Selbsterhebungsinstrumente keine Diagnosestellung. Diese kann nur anhand eines klinischen Interviews erfolgen, das sich auf verbindliche Diagnosekriterien stützt.

Für die Betroffenen erfreulich, gleichzeitig angesichts der fehlenden Diagnosekriterien erstaunlich, ist auch die Tatsache, dass bereits mehrere Behandlungsstudien mit Medikamenten oder Verhaltenstherapie realisiert wurden (Überblick bei: Hague et al., 2016; Soares et al., 2016). Eine wirkliche Versorgungsstruktur für Personen mit Kauf-Shopping-Störung gibt es allerdings nicht, was mit der fehlenden Anerkennung als eigenständige psychische Störung zusammenhängt. Betroffene finden entweder Unterstützung in den wenigen Spezialambulanzen für Verhaltenssüchte oder in einigen, vornehmlich psychosomatischen Kliniken. Erste Anlaufstellen können auch Fachstellen der Suchthilfe und -prävention sein.

Das Fehlen einheitlicher psychopathologischer Kriterien trägt zur fehlenden Anerkennung der Kauf-Shopping-Störung als eigenständiges Störungsbild bei, wobei es sich hierbei mutmaßlich weniger um einen einseitigen als vielmehr reziproken Zusammenhang handelt. Die Uneinigkeit bezüglich der möglichen nosologischen Einordnung der Kauf-Shopping-Störung spiegelt sich letztlich auch in der Uneinheitlichkeit der verwendeten Begrifflichkeiten wider, z. B. Compulsive Buying, Shopping Addiction, pathologisches Kaufen oder Kaufsucht (Müller & de Zwaan, 2008). In der 11. Revision der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-11) wird die Bezeichnung „Compulsive Buying-Shopping Disorder“ (CBSD) verwendet (WHO, 2019). Die Verwendung von sowohl „Buying“ als auch „Shopping“ trägt dem Umstand Rechnung, dass nicht nur der käufliche Erwerb von Konsumgütern, sondern auch das „Shoppen“ oder „Browsen“ ohne Kaufabschluss (z. B. Online-Shopping) exzessiv entgleisen und Leidensdruck hervorrufen können. Im Sinne der Vereinheitlichung von deutschen Begriffen für Verhaltenssüchte wurde unlängst entsprechend die Bezeichnung „Shoppingstörung, vorwiegend online/offline“ vorgeschlagen (Rumpf et al., 2021). Diese Bezeichnung mag auf den ersten Blick gar nicht Deutsch erscheinen, wobei „Shopping“ (Dudenredaktion, n. d.a) sowie „shoppen“ (Dudenredaktion, n. d.b) inzwischen als eingedeutschte Begriffe in den Duden aufgenommen und als „einen Einkaufsbummel (machen)“ beschrieben werden. In diesem Positionspapier verwenden wir in Anlehnung an die ICD-11 (WHO, 2019) den Begriff „Kauf-Shopping-Störung“. Diese Bezeichnung wurde auch in der internationalen Expert_innenbefragung genutzt (englisch: buying-shopping disorder), über die wir in diesem Beitrag berichten.

Bezüglich der Nennung der Kauf-Shopping-Störung im ICD-11 ist noch anzumerken, dass dies das erste Mal ist, dass die Störung überhaupt in einem Klassifikationssystem auftaucht, wenn auch nicht als eigenständiges Störungsbild, sondern „nur“ als ein Beispiel für eine „andere spezifische Impulskontrollstörung“ (6C7Y) und eben ohne Nennung störungsspezifischer diagnostischer Kriterien (WHO, 2019). Diese Zuordnung wird im Übrigen durchaus kritisch gesehen, da Forschungsergebnisse der letzten Jahre eher für die Kategorisierung als „andere spezifische Störung durch süchtiges Verhalten“ (6C5Y) sprechen (Brand et al., 2020; Müller et al., 2019). Relevante Konzepte aus der Suchtforschung, die inzwischen auf die Kauf-Shopping-Störung übertragen wurden, sind insbesondere Reizreaktivität und Cravingreaktionen, verminderte kognitive Kontrolle, unvorteilhaftes Entscheidungsverhalten, implizite kognitive Prozesse sowie Gratifikations- und Kompensationserleben (Brand et al., 2020; Kyrios et al., 2018; Trotzke et al., 2017; Trotzke, Starcke, Pedersen & Brand, 2021).

Einem deskriptiven diagnostischen Ansatz folgend, würde eine Operationalisierung im Sinne einheitlicher psychopathologischer Kriterien der Kauf-Shopping-Störung es Kliniker_innen und Wissenschaftler_innen ermöglichen, „Gleiches mit Gleichem“ zu vergleichen, valide Erhebungsinstrumente zu entwickeln und Ausschlusskriterien, Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln für die Diagnosestellung zu formulieren. Um diesem Ziel näher zu kommen, wurde unlängst eine internationale Befragung von Experten und Expertinnen nach der Delphi-Methode (Häder, 2014) durchgeführt, anhand derer potentielle Diagnosekriterien erarbeitet wurden (Müller et al., 2021). Im Folgenden werden wir kurz über diese Delphi-Studie informieren, die deutsche Übersetzung der vorgeschlagenen Kriterien vorstellen und Forschungsdesiderata benennen.

Experten- und Expertinnenbefragung nach der Delphi-Methode

Beschreibung und Ergebnisse der Studie

Die Studie war ein Kooperationsprojekt von australischen (Australian National University, Canberra; Flinders University, Adelaide) und deutschen Wissenschaftler_innen (Medizinische Hochschule Hannover, Universität Duisburg-Essen, Technische Universität Dresden), die das Studienteam bildeten. Der Delphi-Prozess beinhaltete eine zweistufige, englischsprachige Online-Befragung von internationalen Expert_innen mit klinischer und Forschungsexpertise im Bereich „buying-shopping disorder“ (BSD). Anhand einer Literaturrecherche wurden zunächst Erst- und Letztautor_innen von wissenschaftlichen Artikeln, publizierten Kongressbeiträgen und Monografien zu BSD ermittelt. Diese wurden eingeladen, an der Befragung teilzunehmen. Vom Studienteam wurden auf der Grundlage von Literaturrecherchen, klinischer und wissenschaftlicher Expertise sowie DSM-5-Kriterien (APA, 2013) phänomenologisch ähnlicher Störungsbilder (z. B. Störungen durch Glücksspiel, Computer- und Videospielen; pathologisches Horten) vorab Items mit möglichen Störungsmerkmalen der BSD generiert.

Der Online-Fragebogen der ersten Befragungswelle (12/2018–03/2019) enthielt 37 Items zu möglichen diagnostischen Kriterien von BSD. Hinzu kamen Fragen zu Begrifflichkeit, Klassifikation, möglichen Spezifikationen, Differentialdiagnosen und der Frequenz von Kaufattacken. Zusätzlich wurden noch einige Kontrollitems (zur Prüfung der divergenten Validität) aufgenommen, z. B. Fragen zu Symptomen, die für andere Erkrankungen, nicht jedoch für BSD, typisch sind. Die Expert_innen wurden gebeten, jedes Item auf einer 4-Punkt-Skala bezüglich der Wichtigkeit für die Diagnose von BSD zu bewerten („irrelevant“, „peripheral“, „important“, „essential“) oder die Antwort „I don’t know“ anzukreuzen. Am Ende einzelner Themenblöcke wurde zudem gefragt, wie sicher sich die Teilnehmenden bezüglich ihrer Antwort waren (1 = „not at all sure“, 2 = „uncertain“, 3 = „neither certain nor uncertain“, 4 = „certain“, 5 = „absolutely sure“). Um den Expert_innen Gelegenheit zu Ergänzungen zu geben, wurden an mehreren Stellen offene Fragen platziert (z. B. “Please indicate whether you would add any diagnostic criterion/characteristic that has not been listed here but should be included.“).

Der Survey schloss mit Fragen zur Soziodemographie, englischer Sprachkenntnis und klinischen Erfahrungen mit BSD. Zudem wurde die Selbsteinschätzung der Expertise der Teilnehmenden erhoben: “How would you describe your level of knowledge and experience related to BSD?”. Die Antwortskala lautete “none”, “a little”, “a moderate amount”, “quite a bit”, “a great deal”, wobei alle Expert_innen, die “a great deal” angaben, der Subgruppe „Master Experts“ zugeordnet wurden.

An der ersten Befragungswelle nahmen 169 Personen teil, wobei die Antworten von 29 Personen aufgrund fehlender Daten nicht ausgewertet werden konnten. Zwei weitere Personen wurden ausgeschlossen, da sie angaben, dass sie keine Expertise („none“) im Bereich BSD hätten. Die verbleibenden 138 Expert_innen kamen aus insgesamt 35 Ländern. Tabelle 1 vermittelt einen Überblick über die Charakteristika der Expert_innen und verdeutlicht, dass die Befragung Fachleute aus vielen Ländern erreicht hat, wenngleich der Großteil in Deutschland und den USA arbeitet. Die meisten Teilnehmer_innen sind Psycholog_innen oder Mediziner_innen. Erwartungsgemäß nahmen aber auch Konsumforscher_innen an dem Survey teil, was nicht verwundert, da viele wissenschaftliche Arbeiten zum Thema aus der Konsum- und Marketingforschung oder Neuroökonomie stammen (z. B. Achtziger, Hubert, Kenning, Raab & Reisch, 2015; Neuner, Raab & Reisch, 2005; Ridgway et al., 2008; Raab, Elger, Neuner & Weber, 2011; Scherhorn, Reisch & Raab, 1990). Der überwiegende Teil der Expert_innen gab an, im klinischen Kontext tätig zu sein und über eine gute oder sehr gute Expertise hinsichtlich Kauf-Shopping-Störung zu verfügen.

Tabelle 1 Teilnehmende der Delphi-Befragung (Deutsche Übersetzung, Auszug aus Tabelle 1 aus Müller et al., 2021)

Nach Auswertung der ersten Befragungswelle wurde ein Fragebogen mit insgesamt 79 Items für die zweite Befragungswelle (08/2019–11/2019) kreiert und an alle Expert_innen versandt, die an der ersten Befragungswelle teilgenommen hatten. Der Fragebogen enthielt alle Items, für die in der ersten Welle kein Konsens erreicht wurde. Jedes dieser Items wurde mit einer anonymisierten Mitteilung über das Gruppen-Rating in der ersten Welle versehen. Hinzu kamen einige neue Items, die auf Anregung der Teilnehmenden (durch Antworten auf offene Fragen) aufgenommen wurden, sowie erneut Fragen nach der Antwortsicherheit. An der zweiten Befragungswelle nahmen 102 Expert_innen aus 26 Ländern teil (siehe Tabelle 1).

In Anlehnung an andere Delphi-Studien wurde ein Konsenskriterium von 75 % Zustimmung zu bzw. Ablehnung der einzelnen vorgeschlagenen Kriterien festgelegt (Häder, 2014). Dieses Kriterium wurde in beiden Befragungswellen angelegt und musste sowohl für die gesamte Expert_innen-Gruppe als auch die Subgruppe der „Master Experts“ erfüllt sein, um ein Kriterium zu akzeptieren oder abzulehnen. Des Weiteren wurden die Antworten auf die Kontrollitems und die Angaben zur Antwortsicherheit herangezogen, um die Validität der Antworten zu beurteilen.

Für eine genauere Beschreibung der Vorgehensweise, der Resultate sowie deren Auswertung und Interpretation wird auf die englischsprachige Originalarbeit (open access) verwiesen (Müller et al., 2021). Darüberhinausgehende, ausführlichere Ausführungen zu Hintergrund und Methodik finden sich in einer deutschsprachigen Monografie (Dissertation; Laskowski, 2020).

Deutsche Übersetzung der Diagnosekriterien

Die deutsche Übersetzung der im Rahmen der Delphi-Studie erarbeiteten Diagnosekriterien erfolgte in mehreren Schritten. Die Kriterien wurden zunächst von den beiden Erst- und Letztautorinnen (NML, AM) dieses Positionspapiers ins Deutsche übersetzt. Anschließend wurden sie jedem/r der Koautor_in (PT, MdZ, MB) dieses Artikels mit der Bitte um Prüfung und schriftliche Rückmeldung vorgelegt. In einer gemeinsamen Videokonferenz, an der alle fünf Autor_innen teilnahmen, wurden Änderungsvorschläge diskutiert und eine finale Übersetzung konsentiert, die in Tabelle 2 einsehbar ist.

Tabelle 2 Deutsche Übersetzung der Diagnosekriterien für die Kauf-Shopping-Störung (Deutsche Übersetzung, Tabelle 3 aus Müller et al., 2021)

Diskussion

Vor dem Hintergrund einer vermutlich hohen Prävalenz der Kauf-Shopping-Störung (Maraz et al., 2016) ist die Formulierung von Diagnosekriterien längst überfällig, um nicht nur die Forschung zum Thema, sondern auch die Diagnostik- und Behandlungsoptionen für betroffene Personen voranzutreiben. Die zweistufige Delphi-Befragung von internationalen Expert_innen resultierte in einer Liste konsentierter, deskriptiver Kriterien zur Operationalisierung der Symptomatik der Kauf-Shopping-Störung. Auf ätiologische Annahmen wurde in Anlehnung an die aktuellen Klassifikationssysteme weitestgehend verzichtet. Aufgrund der Ausführlichkeit, Differenziertheit und konkreten sprachlichen Gestaltung kann die Liste gut zur diagnostischen Abklärung und interdisziplinären Kommunikation zwischen Behandler_innen genutzt werden und kann Kolleg_innen, die bislang weniger klinische Expertise bezüglich des Themas haben, zur Abklärung einer potentiellen Kauf-Shopping-Störung motivieren. Die Übersetzung ins Deutsche wurde vorgenommen, um die Kriterien im deutschen Sprachraum zu verbreiten und sowohl Praktiker_innen als auch Forscher_innen zugänglich zu machen. Auf eine ausführliche Diskussion der Kriterien wird an dieser Stelle verzichtet, da dies bereits in der frei verfügbaren Originalarbeit geschehen ist (Müller et al., 2021).

Aus unserer Sicht ergeben sich nun konkrete Forschungsdesiderata. Selbstverständlich ist der in der Delphi-Studie erreichte Expert_innenkonsens nicht mit der Validität der Diagnosekriterien gleichzusetzen. Die klinische Anwendbarkeit und diagnostische Gültigkeit der vorgeschlagenen Kriterien sollten nun unbedingt in weiterführenden Studien untersucht werden. Dies erfordert die Entwicklung eines Interviewleitfadens, der auf den vorgeschlagenen Kriterien beruht. Über strukturierte klinische Interviews mit Patient_innen, die unter Symptomen einer Kauf-Shopping-Störung leiden, und anderen klinischen sowie nicht-klinischen Kontrollgruppen sollten zügig Daten erhoben werden, deren Auswertung in einer finalen Liste von Kriterien und in diagnostischen Entscheidungsregeln münden. Erstrebenswert ist dabei nicht die bloße Listung von Kriterien, sondern auch die Gewichtung einzelner Kriterien oder Kriterienkombinationen. Außerdem sollte die klinische Anwendbarkeit und diagnostische Gültigkeit der Spezifikation „mit oder ohne exzessivem Horten von gekauften Dingen“ überprüft werden. Daneben sind weitere Fragestellungen denkbar, z. B., ob die Unterscheidung in „vorwiegend offline“ und „vorwiegend online“ Kauf-Shopping-Störung sinnvoll ist. Die ICD-11 sieht eine solche Unterscheidung für die „gaming disorder“ und „gambling disorder“ vor (WHO, 2019). Möglicherweise ist eine derartige Differenzierung auch bei der Kauf-Shopping-Störung zeitgemäß und im sowohl klinischen als auch Forschungskontext hilfreich.

Zusammenfassend gehen wir davon aus, dass die auf dem internationalen Expert_innenkonsensus basierenden vorläufigen Diagnosekriterien wichtige Ansatzpunkte für die weitere Forschung und eine Perspektive für die Praxis bieten. Sie sollten nun überprüft und weiterentwickelt werden, um eine Anwendung in Feldstudien und die Konstruktion eines validen Screeninginstrumentes zu ermöglichen und letztendlich auch, um zur Anerkennung der Kauf-Shopping-Störung als eigenständige psychische Störung beizutragen.

Literatur