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Open AccessForum – Diskussionsbeitrag

Angewandte Neuropsychologie außerhalb der Heilkunde

Published Online:https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000353

Abstract

Zusammenfassung: Die angewandte Neuropsychologie bietet für vielfältige Berufsfelder außerhalb der Heilkunde gemäß Psychotherapiegesetz zahlreiche Ansatzpunkte. Neben Aufgaben in der Begleit- und Evaluationsforschung und der Aus- und Weiterbildung können zahlreiche nichttherapeutische Anwendungsgebiete identifiziert werden. Neuropsychologisches Wissen wird u. a. benötigt in der ingenieur- und arbeitspsychologischen Gestaltung technischer Systeme und ergonomischer Arbeitsbedingungen, der wirtschaftspsychologischen Entscheidungsforschung, den Sachaufklärungsroutinen im Öffentlichen Gesundheitswesen einschließlich des Gesundheitsschutzes, der Prävention im Freizeit- und Profisport, der Architekturpsychologie, der Städte- und Raumplanung, der Verkehrspsychologie, der pharmakologisch-toxikologischen Forschung und Entwicklung, der neuropsychologisch orientierten Eignungsdiagnostik sowie in Bildung und Unterricht. Bei der Gestaltung nichttherapeutisch ausgerichteter psychologischer Studiengänge sollte die Konzeptualisierung anwendungsbezogener, nicht-heilkundlicher Masterstudiengänge für Neuropsychologie überlegt werden. Postgradual sollte ein Sektor der Weiterbildung im Hinblick auf die nichttherapeutischen Anwendungsfelder optimiert werden.

Applied Neuropsychology Beyond Clinical Therapy

Abstract: Applied neuropsychology offers numerous starting points for professional fields outside the scope of the laws governing psychotherapy. In addition to adjunctive evaluation research and continuing education, one can identify several nontherapeutic fields of application. Neuropsychological knowledge is required, for example, in the engineering and occupational psychology of technical systems and the design of ergonomic working environments, economic psychology, public-health assessment routines including health protection, prevention in recreational and professional sports, architectural psychology, urban and spatial planning, traffic psychology, pharmacological-toxicological research and development, neuropsychologically guided aptitude assessment as well as education and teaching. In the design of new nonclinical psychological degree programs, application-focused, nonclinical master’s programs in neuropsychology should be considered. A sector of postgraduate education should be optimized regarding nontherapeutic fields of application.

Einleitung

Aufgrund der Aufwertung der Klinischen Neuropsychologie als heilkundliche Methode und der inzwischen realisierten eigenen Gebietsdefinition als „Neuropsychologische Psychotherapie“ neben der Erwachsenen- und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (vgl. Empfehlung des Deutschen Psychotherapeutentags [DPT], 2021) könnte der Eindruck entstehen, Neuropsychologie sei nicht viel mehr als die psychotherapeutische Behandlung spezieller Patientengruppen mit Diagnosen im Bereich der organischen psychischen Störungen (ICD-10 [International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems]: F0).

Die Neuropsychologie verfügt jedoch seit ihren Anfängen – neben dem fachtypischen, klinischen Störungs- und Behandlungswissen – über eine große Bandbreite neurobiologisch-neuroanatomischen Wissens, fundierter Kenntnisse physiologischer Methoden auf allen Systemebenen sowie über kontextspezifisches Anwendungswissen im Überschneidungsbereich mit den Neurowissenschaften (z. B. Herrmann et al., 2014). Vor dem Hintergrund der Erfolge der berufsrechtlichen Professionalisierung wird zuweilen allerdings übersehen, dass auch die nichtheilkundlichen Forschungs- und Anwendungsgebiete eine zunehmende Bekanntheit erlangen (für Forschungsanwendungen s. a. Leibinger et al., 2022, in diesem Heft).

Wird Neuropsychologie sich künftig im Zuge der sozialrechtlichen Anerkennung und berufsrechtlichen Konsolidierung nur noch als klinisch-therapeutisches Handlungsfeld (Gauggel, 2014) mit ansonsten begrenztem Horizont verstehen? Wird sie die anderen Richtungen den Nachbarfächern überlassen? Wird sich die genuin neuropsychologische Perspektive mit Blick auf den ganzen Menschen und seine Umwelt in einem allgemeinen „Neuro-Paradigma“ der Gegenwart auflösen?

Angeregt durch die psychologischen Neurowissenschaften haben viele Anwendungsversuche neuropsychologischer Erkenntnisse bzw. neurowissenschaftlicher Methoden Hoffnungen auf höhere Präzision, genauere Vorhersage und bessere Außenwirkung entstehen lassen (z. B. „Neuropädagogik“, Herrmann, 2004; „Neuroökonomie”, Bräutigam, 2005, etc.). Durch Integration neurobiologischen Wissens erhofft man sich eine verbesserte Modellierung bestimmter kognitiver, affektiver oder sozialer Prozesse, sodass in den jeweiligen Kontexten eine verbesserte Vorhersagekraft erreicht werden soll.

Wird angewandte Neuropsychologie nicht ausschließlich als klinisch-therapeutisches Handeln im Sinne einer eigenverantwortlichen Ausübung von Heilkunde verstanden, sondern als breiter aufgestellte Disziplin, dann ist es hierbei zunächst unerlässlich, die im Wandel begriffenen berufsrechtlichen Voraussetzungen entsprechender Tätigkeiten zusammenfassend in Erinnerung zu rufen (Abschnitt 2). Nachfolgend werden exemplarisch alternative Arbeitsgebiete und Handlungsmöglichkeiten außerhalb oder im Grenzbereich zum klinisch-therapeutischen Handeln skizziert, welche Expertise in Neuropsychologie voraussetzen (Abschnitt 3). Abschnitt 4 prognostiziert und diskutiert alternative Entwicklungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Sektor der nichtheilkundlichen Neuropsychologie und deren Perspektive im Kontext der zukünftigen Weiterbildung.

Berufsrechtliche Aspekte nichtheilkundlicher Tätigkeiten

Die Gesetzgebung zum Sozial- und Berufsrecht unterliegt bekanntermaßen einem stetigen Wandel und die Rechtsprechung entwickelt sich ständig weiter. Für die Aktualität, Vollständigkeit und Richtigkeit der nachfolgenden Informationen, welche keine individuelle Rechtsberatung darstellen und eine solche auch nicht ersetzen können, wird keine Gewähr übernommen.

Eine Übersicht nichtheilkundlicher Tätigkeiten setzt eine Abgrenzung anhand einschlägiger, berufsrechtlicher Vorgaben voraus (Stock, 2021). Bekanntlich wird zwischen Heilberufen und Heilhilfsberufen unterschieden. Erstere (Ärzt_innen, Psychotherapeut_innen, Heilpraktiker_innen) behandeln körperliche oder seelische Leiden eigenverantwortlich. Durch die Approbation werden Neuropsycholog_innen den anderen Heilberufen gleichgestellt und dürfen die Versorgung von Patient_innen eigenverantwortlich wahrnehmen. Neuropsychologische Psychotherapie steht deshalb unter Erlaubnisvorbehalt und setzt eine Approbation nach dem Gesetz über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten (PsychThG) oder eine Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz (HPG) voraus. Nach verbreiteter Auffassung setzt die eigenverantwortliche Ausübung von Neuropsychologie im Sinne einer heilkundlichen Tätigkeit auch außerhalb der Anwendungsbereiche des PsychThG und des SGB (Sozialgesetzbuch) V als Mindestbedingung eine Psychotherapieerlaubnis nach dem HPG voraus. Auch Master-Psycholog_innen mit einer Zulassung nach dem HPG können demnach eigenverantwortlich Psychotherapie ausüben.

Im Allgemeinen waren oder sind die meisten Gesundheitsfachberufe nur durch ärztliche Verordnung zur Krankenbehandlung berechtigt. Aufgrund der Freiheit der Berufswahl ist mehreren Heilhilfsberufen durch die Rechtsprechung die Erteilung einer inhaltlich beschränkten (sektoralen) Erlaubnis nach dem HPG ermöglicht worden (BVerwG, 2009, 3 C 19.08). Im Gegensatz zur Heilbefugnis der Approbierten ist diejenige nach dem HPG teilbar, d. h., die Erlaubnis kann für bestimmte Sektoren erfolgen. Seit Kurzem können deshalb, abhängig von Landesgesetzen, Angehörige anerkannter Gesundheitsfachberufe (z. B. Ergotherapie und Logopädie) eine beschränkte Erlaubnis zur sektoralen Heilkunde nach dem HPG und damit eine Zulassung zur eigenverantwortlichen und weisungsfreien Berufsausübung im Bereich der Gesundheitsberufe erhalten. Diese staatlich anerkannten Berufsgruppen wenden dann die ihrem Gebiet entsprechenden Verfahren in der Prävention, der kurativen Medizin und der Rehabilitation an, um bei ihren Patient_innen beeinträchtigte Funktionen wiederherzustellen oder zu kompensieren. Insbesondere werden im Kontext der Ergotherapie in zunehmendem Maß auch kognitive Trainings durchgeführt. Letztere sind jedoch mit den fachlichen Standards der heilkundlichen Neuropsychologie nicht vereinbar. Des Weiteren werden in der Krankenversorgung auch die anerkannten logopädischen Verfahren der Stimm-, Sprach- und Sprechtherapie eingesetzt; diese setzen eine entsprechende Aus- und Weiterbildung voraus. Für nichtapprobierte Neuropsycholog_innen können diese Wege aus verschiedenen Gründen nicht empfohlen werden.

Wenn gesunde Personen heilkundliche Maßnahmen aus eigener Initiative heraus in Anspruch nehmen wollen, um körperliche Funktionen einschließlich neuronaler Funktionen (vgl. „Neuro-Enhancement“) zu verändern oder um eine „Verbesserung, Veränderung oder Erhaltung von Form, Funktion, kognitiven Fähigkeiten oder emotionalen Befindlichkeiten, wobei es auf die Vorstellungen der Klient_innen ankommt und nicht auf eine objektive Verbesserung“ (Stock, 2021), zu erreichen, dann handelt es sich um Maßnahmen der sog. „Wunschmedizin“. Dazu zählen auch viele (oft ohne Indikation bzw. Diagnosestellung nach ICD durchgeführte) psychotherapeutische Methoden sowie das Vorgehen der Heilpraktiker_innen.

Das aktuelle Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (Stock, 2021) hat kürzlich empfohlen, die Auslegung des Heilkundebegriffs neu zu fassen. Nach dieser Rechtsauffassung sollte die „Ausübung von Heilkunde jede beruflich-praktische Tätigkeit zur Verhütung, Feststellung, Heilung oder Linderung menschlicher Krankheiten oder zur Verbesserung der körperlichen, geistigen oder seelischen Situation sein, die bei generalisierender und typisierender Betrachtungsweise gesundheitliche Schäden verursachen kann und deshalb heilkundliche Kenntnisse voraussetzt“ (S. 242). Nach dieser Interpretation ist deshalb die gesamte Bandbreite der Prävention, Rehabilitation und „Wunschmedizin“ als heilkundliche Tätigkeit zu verstehen.

Die Genehmigung zur sektoralen Ausübung von Heilkunde nach dem HPG wird nach dieser Ansicht wohl auch künftig Bestand haben und vom Gesetzgeber nicht grundsätzlich infrage gestellt. Diese ist aber nach wie vor nicht als Qualifikationsnachweis zu verstehen, sondern nur als Nachweis, dass genügend Kompetenzen vorliegen, um einschätzen zu können, dass einer Patientin oder einem Patienten durch Anwendung oder Unterlassung von diagnostischen und therapeutischen Schritten kein Schaden zugefügt wird.

Neuropsycholog_innen ohne Approbation dürfen, wenn sie in Kliniken oder anderen Einrichtungen im Zuständigkeitsbereich des SGB V arbeiten, nur nichteigenverantwortlich, d. h. auf Anordnung und im Rahmen der Verantwortung eines oder einer approbierten Psychotherapeut_in oder Arztes bzw. Ärztin tätig werden, sofern die Anordnung einer Behandlung durch einen fachkundigen Neuropsychologen oder eine fachkundige Neuropsychologin (Psychologische/r Psychotherapeut_in oder Ärztin/Arzt mit Weiterbildung in Neuropsychologie) erfolgt. Da diese klinisch-therapeutischen Tätigkeiten durch diese Weisungen abgesichert sind, ist eine Zulassung nach dem HPG für Tätigkeiten in der stationären Versorgung nicht relevant.

Eines der Anwendungsfelder, welches keine Approbation voraussetzt, ist die psychologische Diagnostik, sofern diese nicht einem heilkundlichen Zweck dient: Sie zählt nach aktueller Rechtsauffassung zu den Kernkompetenzen aller Master- und Diplom-Psychologen. Im Bereich der Sachverständigengutachten sind allerdings weitere Fähigkeiten und Kenntnisse erforderlich, welche durch eine persönliche Weiterbildung auf rechts- oder neuropsychologischem Gebiet nachgewiesen werden können. Der Approbationsvorbehalt entsteht erst dann, wenn die Diagnostik im Rahmen der Ausübung von Heilkunde im Sinne des PsychThG erfolgt (vgl. Okulicz-Kozaryn, Schmidt & Banse, 2019; siehe auch das von der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten: Frederichs, 2017; Plagemann, 2007). Während es das Ziel der klinisch-neuropsychologischen Diagnostik ist, Statuserhebungen und Veränderungen zu erfassen, um Indikationsentscheidungen und psychotherapeutische Behandlungen begründen zu können, dient die neuropsychologische Diagnostik außerhalb der Heilkunde anderen Zwecken.

Vereinfachend können drei Fallgruppen nichtapprobierter neuropsychologischer Tätigkeiten unterschieden werden: (1) Eigenverantwortliche Tätigkeiten z. B. in der ambulanten Behandlung mit Erlaubnis nach HPG: die Rechtsstellung dieser Behandelnden bleibt vor dem Hintergrund des Berufsrechts weiterhin kritisch, da es sich unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten um eine „schwache“ Konstruktion zu handeln scheint. Dies gilt auch für entsprechende Anwendungen in der Prävention, Rehabilitation sowie für andere Bereiche, die der sog. „Wunschmedizin“ nahestehen. (2) Nichteigenverantwortliche Tätigkeiten im Rahmen der Verantwortung eines oder einer approbierten Psychotherapeut_in. (3) Tätigkeiten in neuropsychologischen Anwendungsfeldern, sofern diese nicht in einem heilkundlichen Kontext nach PsychThG eingesetzt werden, der eine Verbesserung der körperlichen, geistigen oder seelischen Situation als Ziel hätte.

Arbeitsfelder einer nichttherapeutischen Neuropsychologie

Im Folgenden werden einige der oben genannten Kategorie (3) angehörende, nichttherapeutische Anwendungsfelder der Neuropsychologie identifiziert und beschrieben (Tabelle 1). Hierbei wurden keine Tätigkeiten aufgenommen, die sich im Grenzbereich der heilkundlichen Berufsfelder befinden und für die der Approbationsvorbehalt noch nicht eindeutig geklärt erscheint. Dies sind, wie bereits angesprochen, die Tätigkeiten in der stationären und ambulanten Rehabilitation sowie der Prävention zwecks Verbesserung der körperlichen, geistigen oder seelischen Situation (z. B. Gedächtnissprechstunden/Demenzvorhersage). Auch bisherige Alternativen (z. B. ambulante Versorgung hirngeschädigter Patient_innen über die Berufsgenossenschaften oder Rentenversicherungsträger) könnten künftig eine Approbation voraussetzen. Inwieweit dies auch für neuropsychologische Tätigkeiten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung bzw. intellektueller Entwicklungsstörung (Kuske & Müller, 2017; Müller & Kuske, 2020) in den immer zahlreicher werdenden Medizinischen Behandlungszentren für Menschen mit Behinderung (MZEB) zutrifft, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall ergibt sich aus unserer Sicht auch hier ein wichtiges Arbeitsgebiet der Zukunft, welches außerhalb der Heilkunde im engeren Sinne angesiedelt ist.

Tabelle 1 Beispielhaft ausgewählte Arbeitsgebiete mit besonderem Bedarf an neuropsychologischer Expertise (Quelle: eigene Darstellung)

Auch die Beantwortung spezieller Fragestellungen im Rechtswesen (z. B. zivil-, sozial- und strafrechtliche Begutachtung zwecks Klassifikation psychischer Störungen) könnte künftig zunehmend eine Approbation voraussetzen, insbesondere wenn Fragen zu Indikationsentscheidungen beantwortet werden sollen. Es lässt sich allerdings auch die Auffassung begründen, dass rechtspsychologische Sachverständigengutachten, insbesondere zur Schuldfähigkeit und Kriminalprognose, nicht dem Approbationsvorbehalt gemäß PsychThG unterliegen (Frederichs, 2017; Plagemann, 2007). Wenn die Fragestellung nicht auf die neuropsychologische Behandlung, sondern auf Prognose, Entlassung und andere nichttherapeutische Aspekte gerichtet ist, unterliege diese Tätigkeit demnach nicht dem Approbationsvorbehalt gemäß PsychThG. Zweifellos sind einschlägige neuropsychologische Weiterbildungen und berufspraktische Erfahrungen der oder des Begutachtenden vorauszusetzen.

Die nachstehenden Beispiele sollen die Notwendigkeit einer neuropsychologischen Expertise auch außerhalb der Heilkunde verdeutlichen und – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Anregungen in diese Richtung geben.

Architekturpsychologie

In der Architekturpsychologie findet sich eine Fülle von Anwendungsfeldern. So scheinen manche Bauwerke mit der Absicht entworfen worden zu sein, ihre Nutzer_innen maximal zu verwirren: Die monochrom gehaltenen Gänge einer Krankenhausetage gehen regelmäßig von der Zentraleinheit mit den Fahrstühlen ab, dass man sich in das Olton’sche Strahlenlabyrinth (Olton, 1979) versetzt fühlt. Betritt man am Hang gebaute Behörden im Erdgeschoss, befindet man sich am anderen Ende des Gebäudes plötzlich in der dritten Etage und das zugehörige Farbleitsystem erinnert eher an ein Werk Friedensreich Hundertwassers (Der große Weg, 1955) als an ein System von Orientierungshilfen. Berüchtigt sind auch „You are here“-Maps, auf denen die Wegrichtung auf der Karte diametral entgegengesetzt angezeigt wird zu der, die in der realen Welt einzuschlagen wäre. Auf Flughäfen weisen Piktogramme eines startenden Flugzeuges auf die nach unten führende Treppe. Zuweilen werden auch Seminarräume, die dem kollegialen Austausch dienen sollen, so lang und schmal gestaltet als handelte es sich um briefing rooms für Kampfpiloten auf Flugzeugträgern.

Eines der bizarrsten Beispiele der Dissoziation ingenieurstechnischen und psychologischen Wissens findet sich am Neubau eines großen öffentlichen Gebäudes: Um durch eine zentrale Eingangstür gehen zu können, ist nicht die gut sichtbare Handleiste, sondern ein etwa in Kniehöhe hinter den Passant_innen angebrachter Taster zu betätigen. Der Taster ist silber-monochrom und in derselben Farbe wie die ihn umgebenden Gitterstäbe gehalten. Ingenieurstechnisch elegant ist der Umstand, dass erforderliche Zeit zwischen dem Drücken des Tasters und dem Überschreiten der Türschwelle exakt der Öffnungsdauer der Tür entspricht. Diese an sich gelungene Lösung hat den Nachteil, dass wirklich niemand auf die Idee kommt, einen Türgriff nicht zu benutzen und stattdessen einen hinter ihm befindlichen Taster zu suchen. Im Ergebnis wird die Tür regelhaft gewaltsam aufgezogen, der Mechanismus damit außer Funktion gesetzt, sodass die Tür entweder nicht mehr geöffnet oder nicht mehr geschlossen werden kann – und das ganze Prinzip regelmäßig anfallende Reparaturkosten in erheblicher Höhe verursacht.

Diese, die Lebensqualität aller Beteiligten beeinträchtigenden Beispiele verdeutlichen psychologische Fragestellungen im Ingenieursbereich. Üblicherweise arbeitet eine Türklinke im Sinne eines S-d-Stimulus (Handleiste), welche nach der erforderlichen Wirkreaktion („R+“: „Drücken der Klinke und Passieren der Türschwelle“) auf eine – in diesem Fall positive – Verstärkung hinweist („C+“ „Türpassage erfolgreich abgeschlossen!“). Diese Abfolge wird im Laufe eines normalen Lebens vielfach praktiziert und dadurch hochgradig automatisiert. Der ursprünglich diskriminative Stimulus wird zu einem sehr salienten, externalen Cue, welcher das Verhalten („Öffnen der Tür mittels Türklinke“) – unter Mediation der Basalganglien – ohne weitere Elaboration auslöst. Wir alle kennen vermutlich Beispiele aus dem Straßenverkehr, wenn eine Vorfahrtsregelung geändert wurde und das gewohnte Verhalten plötzlich zugunsten einer gänzlich neuen Reaktion aufgegeben werden muss.

Das Problem dieses Beispiels besteht darin, dass der Cue seitens der Konstrukteur_innen zu einem S-delta-Stimulus umdefiniert wurde. Das bedeutet, dass bei Ausübung der erlernten Wirkreaktion („Türöffnen“) eine Bestrafung erfolgt (große Körperkraft muss eingesetzt werden und der Öffnungsmechanismus wird beschädigt). Derselbe ehemalige S-d-Stimulus (späterer Cue, jetziger S-delta-Stimulus) signalisiert also plötzlich die Notwendigkeit des Unterlassens der Handlung. Leider indiziert ein S-delta-Stimulus kein kreatives Suchverhalten, sondern lediglich die Inhibition eines anstehenden Verhaltensprogramms. Gelingt dieses nicht, treten die Konsequenzen wie oben beschrieben ein.

In der Schlussfolgerung bedeutet dies, dass hinter einer Ingenieurslösung zwingend auch die (Neuro-)Psychologie erkannt werden muss. Den an einem Bauvorhaben beteiligten Gremien ist in anschaulicher Form, fast wie in der Psychoedukation, der psychologische Kontext zu erläutern. Wenn das aber schon bei einer einfachen Tür nicht möglich war, mag man sich die Konsequenzen für bauliche Großprojekte und komplexe Systeme nicht vorstellen.

Raumplanung

Auch die physischen Lebensumwelten werden sich angesichts der aktuell anstehenden industriellen Umwälzung gravierend auf unsere Lebensweise auswirken. Wie sollen unsere Städte aussehen, welche Bedürfnisse und Wünsche der Wohn- und Arbeitsbevölkerungen sind zu berücksichtigen, wie sehen die neuen Mobilitätsanforderungen und -notwendigkeiten aus? Welche Anforderungen werden an hippocampale, basalgangliengestützte und egozentrische Orientierungsstrategien gestellt? Ab wann kommt es bei welchen Bevölkerungsgruppen zu entsprechenden, auch neuropsychologisch definierbaren Veränderungen dieser Funktionen? Welcher Raumbedarf ist für die verschiedenen Aktivitätsarten und Lebensformen vorzusehen? Wie soll er gestaltet werden, welche Gewohnheiten sind in welchem Ausmaß zu ändern? Diese Beispiele und Fragen lassen sich nicht nur auf die Gestaltung baulicher Umwelten in der Stadt- und Raumplanung anwenden, sondern auch auf andere Lebensumwelten übertragen.

Ingenieurpsychologie

In der Ingenieurpsychologie werden menschliche Informationsverarbeitungs- und Handlungssteuerungsprozesse im Zusammenhang von Mensch-Maschine-Systemen untersucht (z. B. Vollrath, 2015). So ist die Programmierbarkeit technischer Geräte wie z. B. im Bereich der Consumer Electronics ein Dauerproblem, denn Endkunden nutzen die Funktionen der Geräte mangels Verständnis kaum. Das liegt bei diesem übersichtlichen Mensch-Maschine-System nicht an unzulänglicher Technik, sondern an der systematischen Nichtberücksichtigung des Menschen mit seinen kognitiven, emotionalen und motivationalen Voraussetzungen. Wenn eine auf „rot“ gestellte Mikrofonlampe eines Konferenzraums das „jetzt sprechen!“ indiziert, dann illustriert dieses Beispiel nur das Ausmaß, in dem sich Herausforderungen an die adäquate Gestaltung von Bedienungsanleitungen und Instruktionen ergeben, die zudem auf die kognitiven Bedingungen unterschiedlicher Nutzergruppen abgestimmt werden müssten.

In naher Zukunft werden wir alle mit bedeutenden technischen Umbrüchen konfrontiert sein, die von unseren Verhaltensgewohnheiten erhebliche Anpassungsleistungen verlangen werden. Wie sind z. B. die Fahrzeugkabinen der autonom oder teilautonom fahrenden Kraftfahrzeuge zu gestalten? Welche kognitiven Faktoren (Steuerung von Bedienungselementen, Unaufmerksamkeit, Vigilanz etc.), aber auch emotionalen Aspekte (Frustration, Langeweile) sind zu berücksichtigen? Damit stellen die unterschiedlichen Stufen der Automation bis vor Kurzem noch nicht gekannte Anforderungen an die angewandte Neuropsychologie. Zukünftig wird es nicht mehr möglich sein, die Gestaltung technischer Systeme ohne Expertise der (Neuro-)Psychologie vorzunehmen – die Neuropsychologie sollte dabei eine führende Rolle einnehmen!

Die neue Richtung der „Industrial Neuroscience“ setzt neurowissenschaftliche Methoden in Arbeitsumwelten ein, um kognitive und emotionale Zustände der Beschäftigten besser einschätzen zu können (Borghini, Aricò, Di Flumeri & Babiloni, 2017). In einer Vielzahl von Arbeitsbereichen, insbesondere denjenigen, die sich durch belastende Multitasking-Umgebungen auszeichnen, sind die sog. „Human Factors“ von zentraler Bedeutung.

In der Luft- und Raumfahrtpsychologie geht es jedoch nicht nur um die sicherlich herausragend wichtige Auswahl und Schulung des fliegenden Personals. Wie in den vorgenannten Anwendungsfeldern sind die technischen und industriellen Prozesssteuerungen hochkomplex und müssen im Hinblick auf die unterschiedlichen Aufmerksamkeits- und Exekutivfunktionsanforderungen gestaltet werden. Um die Sicherheit und Effizienz entsprechender Mensch-Maschine-Interaktionen zu erhöhen, müssen diese Systeme entsprechend optimiert werden.

Die Verkehrspsychologie kann unter bestimmten Gesichtspunkten als Teilgebiet der Ingenieurpsychologie gesehen werden. So werden unter anderem die Fragen der akustischen, visuellen und textlichen Informationsverarbeitung und der Visuellen Suche, die besonders in Mensch-Computer-Interaktionen von besonderer Bedeutung ist, die Gestaltung der Verkehrssysteme mit beeinflussen. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie sich verschiedene Personengruppen und Lebensalter diesbezüglich unterscheiden. Dieses Arbeitsgebiet geht damit also weit über die bekannten Medizinisch-Psychologischen Untersuchungen hinaus.

Arbeitsprozesse

Die Optimierung von Arbeitsprozessen ist Gegenstand der Arbeitsphysiologie, Arbeitspsychologie und Ergonomie. Diese haben zunehmend nicht nur die (neuro-)kognitiven Funktionen im Visier, sondern auch die Beanspruchungsprozesse, wie sie sich z. B. in zerebralen Reaktionen ausdrücken (Parasuraman & Rizzo, 2008). Welche Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen können langfristig bei Arbeitnehmer_innen mit extrem langer Lebenszeitexposition gegenüber potenziell schädlichen Einflüssen mit Arbeitsbezug einhergehen? Das folgende Beispiel aus der Arbeitspsychologie lässt sich auf andere Arbeits- und Berufsfelder übertragen (z. B. in der Luft- und Raumfahrt, Arbeit unter großer Hitze und Kälte oder chemischer Exposition etc.): Bei Arbeitstaucher_innen macht es einen großen Unterschied, ob beim Drucklufttauchen die Aufnahme und/oder Konsolidierung einer wichtigen Instruktion unter normobaren Bedingungen erfolgt, welche dann später in der hyperbaren Arbeitsumwelt abgerufen werden muss, ob beides unter Überdruckexposition geschieht oder ob das unter diesen Umweltbedingungen Aufgenommene in der normobaren Umwelt zu reproduzieren ist (Tetzlaff, Leplow, Warninghoff & Bettinghausen, 1998). Die durch markante Umweltanforderungen bedingte erhöhte Beanspruchung des zentralen Nervensystems und die daraus resultierenden Funktionsänderungen sind Gegenstand des neuropsychologischen Assessments. Zudem verdeutlicht die absehbare Verlängerung der Lebensarbeitszeit die Notwendigkeit, dass technische Systeme und Arbeitsprozesse nicht nur an die nachlassenden körperlichen Möglichkeiten, sondern auch an die veränderten perzeptuellen und kognitiven Fähigkeiten einer alternden Erwerbsbevölkerung anzupassen sind – auch in diesem Zusammenhang ist die neuropsychologische Diagnostik und entsprechendes Handlungswissen gefordert.

Wirtschaft

Das Gebiet der „Neuroeconomics“ im Grenzbereich von Wirtschafts- und Neurowissenschaften thematisiert alle am wirtschaftlich relevanten Verhalten beteiligten Prozesse (Bräutigam, 2005). Es interessieren hierbei die tatsächlichen psychischen und physischen Reaktionen einer Person in realen ökonomischen Entscheidungssituationen (Kenning & Plassmann, 2005). Marketingforscher_innen sehen physiologische und behavioral-neurowissenschaftliche Methoden als wichtige Ergänzung ihrer traditionellen Ansätze an, um evaluative Bewertungsreaktionen oder Assoziationen zwischen Objekten und Attributen besser erfassen zu können. Da zuweilen auch Zweifel an den Behauptungen und Prinzipien des „Neuromarketings“ laut werden (Cherubino et al., 2019), wird deutlich, dass (neuro-)psychologisch informierte Anwendungen in diesem Bereich zu realistischeren Ergebnissen beitragen könnten.

Umwelt

In der Umweltpsychologie ist nicht nur die Akzeptanzforschung, z. B. bei Windenergieanlagen, ein wichtiges Thema, sondern auch die Erhebung des Belastungserlebens im Abgleich zu physikalisch messbaren Stressoren (z. B. Schattenwurf, nächtliche Lichtexposition, Infraschall) differenziell zu erfassen. Auch hier kann die kausal attribuierte Schlafproblematik und Lebensqualitätseinschränkung über objektivierbare neuropsychologische Funktionsparameter verifiziert oder aber auf die individuelle Ablehnung der ästhetischen Auswirkungen auf das Landschaftsbild zurückgeführt werden. Die erlebte Belastung wird dabei erheblich von der Teilhabe am Entscheidungsprozess und den Eigentums-/Nutzungsverhältnissen moderiert (Hübner & Pohl, 2015). Ebenso sollten alle industriellen Großprojekte mit ihren unmittelbaren psychophysikalischen Auswirkungen von Lärm, Luft- und Lichtverschmutzung sowie anderen Emissionen auf somatische und neurobiologische Regulationssysteme und damit das neuropsychologische Funktionsniveau im Besonderen und die Gesundheit und Lebensqualität im Allgemeinen hin untersucht werden.

Die Einflüsse neurotoxischer Substanzen in der Industriegesellschaft, welche in der Umwelt, am Arbeitsplatz oder im Wohnumfeld auftreten können, sind Gegenstand der Neuropsychologischen Toxikologie, der Arbeitsmedizin und der Präventionsforschung im Bereich des Öffentlichen Gesundheitswesen (vgl. Hartman, 1995; Peper, 2004). Substanzen wie z. B. Metalle und ihre Verbindungen, Lösungsmittel, Pestizide, chlororganische Verbindungen, verschreibungspflichtige Arzneimittel, in der Freizeit verwendete Substanzen können Effekte auf Verhalten, Kognition, Emotionalität und Persönlichkeit haben. Baubiologisch werden durch Ausgasungen der verwendeten Materialien wie Klebstoffe, Fugenmittel, Lacke, Farben etc. Belastungen der Innenraumluft hervorgerufen. In diesem Zusammenhang werden von Betroffenen Schlafstörungen, Veränderungen der Konzentration, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit angegeben (Han, Hoelzle, Dennis & Hoffmann, 2011). Diese Beschwerden können nicht nur neuropsychologisch-diagnostisch objektiviert und im Zeitverlauf überwacht, sondern zusammen mit anamnestischen, klinisch-psychologischen und ggf. auch psychophysiologischen Daten zu einem Befund integriert werden – eine der Kernkompetenzen in der angewandten Neuropsychologie. Die Neuropsychologie trägt durch entsprechende Assessmentmodelle zur Aufklärung der pathogenetischen Mechanismen und zur Anpassung neuro-psycho-sozialer Erklärungsansätze bei. Wichtige Aufgaben sind die Bewertung des Gefährdungspotenzials und die Beurteilung im Rahmen der (Zusatz-)Begutachtung. Die Diagnostik berücksichtigt hierbei meist auch individuelle psychologische Determinanten wie Schädigungserwartungen, chemische Empfindlichkeiten und die psychosomatische Störbarkeit.

Bildung und Unterricht

In Pädagogik und Erziehungswissenschaften wird seit Langem eine forschungsmethodische und berufspraktische Neuorientierung („Neuropädagogik“) gefordert (z. B. Becker, 2006; Herrmann, 2004). Die Konzeption neuer didaktischer Methoden unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse erscheint zwar im Kontext der Bildungs- und Erziehungswissenschaften sinnvoll, jedoch scheint sich der interdisziplinäre Austausch auf einem populärwissenschaftlichem Niveau zu bewegen. Die Förderung und das Training der Reifung und Plastizität z. B. im Bereich der Exekutivfunktionen und der Emotionsregulation sind für pädagogische Kontexte essenziell und setzen eine Expertise nicht nur der neurowissenschaftlich erforschten Einzelfunktionen, sondern der neuropsychologischen Integrität des gesamten Menschen voraus. Diese Kenntnisse und Fähigkeiten können ausgebildete Neuropsycholog_innen sachgerecht in die Pädagogik übertragen.

Gesundheit und Freizeit

Seit einigen Jahren haben sich Sportpsychologie und Neuropsychologie zusammengefunden, um die Prävention, Diagnostik und Therapie von leichten Gehirnverletzungen im Sport professionell voranzubringen (www.gsnp.de). Auf diesem Gebiet können auch nichttherapeutische Tätigkeiten identifiziert werden, sofern diese einer allgemeinen Leistungsdiagnostik dienen und eventuelle Übungen der regulären sportlichen Übungsleitertätigkeit entsprechen. Auch Vorträge zu Präventionsmöglichkeiten im Kontext von Trainer- und Athletenschulungen können dazu zählen.

Zur Förderung der Gesundheit und zur Erleichterung der alltäglichen und beruflichen Partizipation werden zunehmend technologische Assessment- und Assistenzsysteme (vgl. Ecological Momentary Assessment and Intervention) eingesetzt, deren Konzeption wesentlich von neuropsychologischen Modellbildungen profitiert (z.B. Ertas et al., 2021). Sofern jedoch die angewandten kognitiven Verfahren im Rahmen eines Heilversuchs eingesetzt werden, handelt es sich um eine erlaubnispflichtige Tätigkeit. Auch das zuweilen zum Ausgleich einer „Fehlregulierung der Gehirnaktivität“ eingesetzte EEG-Neurofeedback ist als „alternative Therapiemethode“ im Rahmen der zuvor erwähnten wunschmedizinischen Behandlung erlaubnispflichtig.

Die moderne Demenzdiagnostik und -prädiktion ist im Grenzbereich zur Heilkunde angesiedelt (s. u.). Zwar wird die prädiktive Diagnostik zunehmend innerhalb der symptomfreien Prodromalphase praktiziert, jedoch können bei unprofessioneller Testung und Aufklärung zahlreiche nicht beabsichtigte psychische Effekte auftreten. Deshalb ist eine Reihe von Regeln einzuhalten. Die Diagnostik, Schweregradeinstufung und Verlaufsbeurteilung wird hierbei kaum ohne eine gründliche neuropsychologische Diagnostik erfolgen können. Auf die künftige Neuropsychologie wird ein wichtiges Aufgabenfeld zukommen. Auch wenn die Untersuchungen mit klinisch unauffälligen Personen durchgeführt werden, könnte die Tätigkeit unter dem Approbationsvorbehalt stehen, wenn dadurch Fehlentwicklungen vermieden bzw. Verbesserungen der psychischen Situation angestrebt werden sollen.

Forschung und Entwicklung

An den Universitäten sind zwei Leitlinien der neuropsychologischen Forschung und Lehre erkennbar: eine experimentell und neurowissenschaftlich orientierte Neuropsychologie einerseits und eine klinisch-neuropsychologische Richtung andererseits. Ohne Fundierung durch Grundlagenwissen und Erklärungsmodelle lässt sich auch klinisch-neuropsychologisches Wissen nicht erreichen. Neuropsychologie ist auch deshalb nicht auf die klinische Berufspraxis zu verengen. Bei manchen akademischen Neuropsycholog_innen bestehen jedoch Bedenken, nur noch das Propädeutikum für die Psychotherapieausbildung bereitstellen zu sollen. Die Grundlagenfächer der Allgemeinen und Biologischen Psychologie sowie der Methodenlehre haben eine wichtige Brückenfunktion von der akademischen Psychologie bis hin zur psychotherapeutischen Ausbildung. Schließlich gilt für alle – heilkundlichen und nichtheilkundlichen – Anwendungsfelder der Neuropsychologie, dass über die experimentelle Neuropsychologie diejenigen Verfahren zur Verfügung gestellt werden, mit denen in den oben genannten Anwendungsgebieten subtile Verhaltensänderungen objektiviert werden können. Hierbei unterliegen Forschungstätigkeiten im Allgemeinen nicht den genannten berufs- und sozialrechtlichen Regularien.

Dies gilt auch für die klinischen Anwendungen, wie es beispielsweise mit modifizierten Go/Nogo-Verfahren und auf der Basis theoretischer Konzeptualisierungen des Behavioral Inhibition System (BIS) bzw. des Behavioral Approach System (BAS) an Parkinson-Patient_innen mit noch diskreten Impulskontrollstörungen nach dopaminerger Ersatztherapie nachgewiesen werden konnte (Leplow et al., 2016).

Des Weiteren sind Initiativen zur Entwicklung neuer Instrumentierungen, Tests oder Behandlungsverfahren wünschenswert. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auch im Bereich des neuropsychologischen Assessments die „Digitalität“ Einzug gehalten hat: Neuropsychologische Tests werden zunehmend digital dargeboten und ausgewertet; viele der appbasierten Versionen portierter Paper-and-Pencil-Verfahren sind inzwischen sogar für Laien zugänglich. Zwar eröffnet der Markt der Computerized Neuropsychological Assessment Devices (CNADs) vielversprechende nichttherapeutische Einsatzmöglichkeiten, jedoch ist auch hier eine hohe neuropsychologische und psychometrische Expertise gefragt, da die Anwendung der CNADs für viele Einsatzgebiete bisher unzureichend abgesichert ist und da entsprechende Ergebnisse ohne sachkundige Interpretation auch nachteilige Effekte haben könnten.

Weitere Aufgabengebiete können in der neuropsychologischen Begleit- und Evaluationsforschung bestehen. Hier ist auch an die aktuelle Förderung komplementärer Ansätze und Messmethoden im Bereich der Neurowissenschaften (Nationale Forschungsdateninfrastruktur Neuroscience [NFDI-Neuro]) zu erinnern, welche bezweckt, Hirnfunktionen nicht nur aus molekularer, zellulärer, systemischer und klinischer Perspektive zu betrachten, sondern auch psychologische Funktionen interdisziplinär zu erfassen, zu dokumentieren und allgemein verfügbar zu machen. Es ist unmittelbar einsichtig, dass entsprechende Datenstrukturen für die künftige Weiterentwicklung der Neuropsychologie in Klinik und nichttherapeutischer Anwendung von essenzieller Bedeutung sind.

Diskussion

Nach der fortschreitenden, erfolgreichen Etablierung der Klinischen Neuropsychologie als akademischem Heilberuf scheint das Berufsbild der/des Neuropsycholog_in das Gebiet der Psychotherapie übergegangen zu sein. Die eigenverantwortliche Ausübung von Heilkunde war das überragende Ziel der zurückliegenden berufspolitischen Aktivitäten. Die Fokussierung auf die berufsrechtliche Professionalisierung war zwar unverzichtbar für das Erreichen der sozialrechtlichen Anerkennung und der Anbindung an die gesetzliche Krankenversorgung. Ebenso unverzichtbar ist jedoch das neuropsychologische Wissen im Kontext zahlreicher nichttherapeutischer Anwendungsbereiche.

Bemerkenswert ist, dass die Diskussion divergenter Kompetenzansprüche nicht mehr nur nach außen (Neurologie, Psychiatrie), sondern im Zuge der Professionalisierung zunehmend auch innerhalb der Neuropsychologie geführt wird. Auch wenn der Approbationsvorbehalt gemäß § 1 PsychThG den nichtapprobierten Klinischen Neuropsycholog_innen Beschränkungen des eigenverantwortlichen Handelns auferlegt, so wäre es doch ein Missverständnis, wenn beabsichtigt würde, diese Kompetenzbeschränkung auf alle Bereiche des neuropsychologischen Handelns zu generalisieren. Eine „Ausgrenzung“ von qualifizierten Neuropsycholog_innen ohne Approbation (Herrmann et al., 2014) erfolgt zwar in Bezug auf eigenverantwortliche heilkundliche Tätigkeiten, nicht jedoch hinsichtlich zahlreicher nichttherapeutischer Anwendungsgebiete.

Die hier umrissenen Beispiele zeigen die Bedeutung der angewandten Neuropsychologie für vielfältigste Lebensbereiche außerhalb der Heilkunde. Hierzu haben wir aus unterschiedlichen Anwendungsfeldern nur wenige Aspekte hervorgehoben. Es geht nicht nur um Begleitforschung, Eignungsdiagnostik, Schulung und Evaluation. So wichtig diese Bereiche unzweifelhaft sind: Neuropsychologisches Wissen ist auch bei der direkten Gestaltung der menschengemachten Umwelt, der Mensch-Maschine-Systeme und der Arbeitsbedingungen unverzichtbar, und es wäre eine Fehlentwicklung, wenn sich das Fach zunehmend von den nichttherapeutischen Arbeitsfeldern entfernte.

Die neuen Entwicklungen der Gegenwart bergen für die Neuropsychologie gleichermaßen Chancen wie Risiken. So haben sich die Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Anwendungsfeldern weiterentwickelt. Vielfach werden die Möglichkeiten translationaler Anwendungen hervorgehoben, wobei hohe Erwartungen bezüglich des zusätzlichen Nutzens dieser Ansätze entstanden sind. Neurowissenschaftlich angeregte Anwendungsversuche beim Menschen setzen jedoch eine angemessene Einbettung der Konzeption in ein (neuro-)psychologisches Gesamtkonzept unter Berücksichtigung zahlreicher personaler und kontextueller Merkmale, d. h. umfassende psychologische Konzeptualisierungen und Modellbildung, voraus (Peper, 2018).

Sofern diese Tätigkeiten als Teil eines Heilversuches mit neuen neurowissenschaftlichen Methoden zwecks Verbesserung der körperlichen oder psychischen Situation gemeint sind, handelt es sich um Anwendungen, die einer heilkundlichen Supervision bedürfen. Unter berufs- und haftungsrechtlichen Gesichtspunkten war und ist eine HPG-Zulassung der nichtapprobiert in diesen Bereichen Tätigen als „kritische“ Lösung anzusehen, da haftungsrechtliche Fragen offenbleiben und da die Kooperation im interdisziplinären Umfeld ggf. beeinträchtigt werden könnte. Wenn Behandelnde nicht über die Erlaubnis verfügen, Heilkunde auszuüben, könnte es haftungsrechtlich bedenklich sein, neurowissenschaftlich begründete „alternative“ Verfahren im Grenzbereich zur Wunschmedizin einzusetzen.

Auch die Heilhilfsberufe streben, teils mit staatlicher Anerkennung, zunehmend in Richtung der neuropsychologischen Arbeitsfelder. Diese Ausweitung birgt jedoch ebenfalls die Möglichkeit einer Gesundheitsgefährdung, wenn die für eine entsprechende Tätigkeit notwendigen neuropsychologischen Kenntnisse nicht ausreichen. Angehörige anderer heilpraktisch tätiger Gesundheitsfachberufe benötigen deshalb ein notwendiges Basiswissen auch auf dem Gebiet der Neuropsychologie.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich ganz klar, dass die angewandte Neuropsychologie keinesfalls auf heilkundliche Arbeitsgebiete verengt werden darf. Wie wir mit unseren wenigen Beispielen zu zeigen versucht haben, greift neuropsychologisches Wissen in praktisch alle Lebensbereiche ein. Insofern rechtfertigen sich konkrete Überlegungen zum Aufbau eigenständiger Masterstudiengänge der Neuropsychologie mit nichtheilkundlicher Ausrichtung. Aber auch bei der Gestaltung therapeutisch-psychologischer Studiengänge sollte die angewandte Neuropsychologie angemessen berücksichtigt werden. Postgradual sollte die Weiterbildung so angepasst werden, dass die Vermittlung neuropsychologischen Wissens im Hinblick auf die Gegenstände der oben beschriebenen, nichttherapeutischen Anwendungsfelder optimiert wird.

Gleiches gilt für den Ausbau entsprechender Fortbildungsprogramme, welche derzeit noch stark klinisch-anwendungsbezogen ausgerichtet sind. Solche Programme führen zwar weiterhin nicht unbedingt zur sozialrechtlichen Anerkennung, könnten aber auf die genannten Arbeitsfelder vorbereiten. Dies ist unter anderem auch für den Export von universitären, angewandt-neuropsychologischen Modulen im Rahmen interdisziplinärer Studiengänge sinnvoll. Die beruflichen Wünsche und Ziele der Interessent_innen an einer Neuropsychologiefortbildung könnten im Rahmen einer Befragung erhoben und bei der Gestaltung neuer Fortbildungsprogramme berücksichtigt werden.

Schlussfolgerungen

Eigenverantwortliche klinische Anwendungen der Neuropsychologie werden für zukünftige Absolvent_innen berufsrechtlich nicht mehr zugänglich sein. Es erscheint deshalb unverzichtbar, diese Anwendungsfelder nicht zum größten Teil auf die Heilkunde klinisch-psychologischer und neuropsychologisch-therapeutischer Tätigkeiten hin auszurichten. Entscheidend wird es sein, dass sich die (Neuro-)Psychologie diese Gebiete nicht von anderen Professionen aus der Hand nehmen lässt. Zukünftige neuropsychologische Weiterbildungs- und Fortbildungsangebote sollten deshalb stärker als bisher die nichtheilkundlichen Anwendungsfelder in den Blick nehmen. Demzufolge sollten bei der inhaltlichen Gestaltung der psychologischen Studiengänge auch nichtheilkundlich ausgerichtete Schwerpunkte der Neuropsychologie integriert und sicher auch entsprechende eigenständige MSc-Studiengänge entwickelt werden (z. B. Architekturpsychologie, Raumplanung, Klinische und Neuropsychologie in der Arbeitswelt etc.). Damit zählt die Entwicklung eines breit gefächerten neuropsychologischen Anwendungsfachs außerhalb der Heilkunde zur jetzt anstehenden Kernaufgabe der akademischen und nichtakademischen Vertreter_innen der Neuropsychologie.

Literatur