Skip to main content
Open AccessForum – Diskussionsbeitrag

Kurzfassung und interdisziplinäre Kommentierung der internationalen INCOG-2.0-Leitlinie „Kognitive Kommunikationsstörungen nach Schädelhirntrauma“

Published Online:https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000383

Abstract

Zusammenfassung: Kognitive Kommunikationsstörungen (Cognitive Communication Disorders = CCDs) bezeichnen kommunikative Beeinträchtigungen, die v. a. die kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten betreffen und primär durch begleitende kognitive Störungen, z. B. der Gedächtnis-, Aufmerksamkeits-, und exekutiven Planungsfunktionen bedingt sind. Eine besondere Rolle spielen außerdem Beeinträchtigungen Sozialer Kognition (z. B. Empathie, Theory of Mind). Somit fällt die Diagnostik und Behandlung der CCDs interdisziplinär in den Zuständigkeitsbereich der Klinischen Neuropsychologie und der Sprachtherapie. Ein internationales, interdisziplinäres Netzwerk, die sog. INCOG-Arbeitsgruppe, hat im Jahre 2023 aktualisierte, evidenzbasierte Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung von CCDs und begleitender soziokognitiver Störungen spezifisch nach mittelschweren bis schweren Schädel-Hirn-Traumata veröffentlicht. Diese sollen im vorliegenden Artikel zusammenfassend vorgestellt und kommentiert werden. Es werden erste Vorschläge zur konkreten interdisziplinären Zusammenarbeit von Klinischer Neuropsychologie und Sprachtherapie abgeleitet.

Synopsis and Interdisciplinary Commentary on the International INCOG 2.0-Guidelines “Cognitive Communication Disorders After Traumatic Brain Injury”

Abstract: Cognitive communication disorders (CCDs) mainly affect communicative pragmatics, primarily as a result of associated cognitive impairment of memory, attention, and executive functioning. Impairments of social cognition (e. g., empathy, theory of mind) play a particularly important role. It is thus obvious why the assessment and treatment of CCDs is relevant for both neuropsychologists and speech language therapists. In 2023, an international, interdisciplinary network, the so-called INCOG-Group, published updated evidence-based guidelines for the assessment and treatment of CCDs and associated sociocognitive disorders, specifically following moderate to severe traumatic brain injury. The article presents these guidelines in a condensed and commented fashion. Initial suggestions are made for the interdisciplinary treatment of CCDs by clinical neuropsychologists and speech therapists.

Einleitung

Jährlich erleiden etwa 69 Millionen Menschen weltweit ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT; Dewan et al., 2018). Bei jungen Erwachsenen wird das SHT als Hauptursache für langfristige Behinderungen beschrieben – mit umfassenden gesamtgesellschaftlichen und finanziellen Konsequenzen für das Gesundheitssystem (Rickels, 2006).

Eine häufige Folge von SHTs sind kommunikative Beeinträchtigungen (Togher, McDonald & Code, 2014). Da die Neuropathophysiologie des SHTs sich in der Regel durch multifokale neuronale bzw. traumatisch axonale Schädigungen auszeichnet, die die gesamte Hirnstruktur betreffen können, kann es zu Schädigungen im sprachspezifischen kognitiven Netzwerk kommen; weitaus häufiger zeigen sich aber umfassende Beeinträchtigungen multipler kognitiver Subsysteme. Entsprechend lassen sich die bei einem SHT häufig beobachtbaren kommunikativen Beeinträchtigungen seltener als sprachsystematische Einschränkungen (im Sinne einer Aphasie mit Störungen von Semantik und Lexikon, Phonologie, Morphologie und Syntax) beschreiben. Sie zeigen sich vielmehr als eine Störung in kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten (z. B. mit Einschränkungen in der kontextsensitiven Kommunikation, im Einhalten von Höflichkeitskonventionen oder im Turn-Taking, im Verständnis indirekter Sprache wie z. B. Humor/Sarkasmus, in Weitschweifigkeit, thematischer Tangentialität oder semantischer Vagheit). Diese kommunikativ-pragmatischen Auffälligkeiten werden als Manifestation (multipler) kognitiver Beeinträchtigungen (etwa in den Bereichen Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Exekutivfunktionen, Soziale Kognition) beschrieben. Aufgrund der individuellen Neuropathologie des SHTs ist das klinische Erscheinungsbild interindividuell stark heterogen.

International hat sich zur Beschreibung dieser kommunikativen Beeinträchtigungen der Begriff Kognitive Kommunikationsstörungen (Cognitive Communication Disorders = CCDs) etabliert. Als Alternativbegriffe werden – u. a. im deutschsprachigen Raum – synonym verwendet: Nicht-aphasische (zentrale) Sprachstörung (Prigatano, Roueche & Fordyce, 1985), Kognitive Dysphasie (Heidler, 2006, 2020), Pragmatische Aphasie (Joanette & Ansaldo, 1999; Joanette, Ansaldo, Lazaro & Ska, 2018), Frontale dynamische Aphasie (Lurija, 1970) oder Kognitive Sprachstörung (Kennedy & DeRuyter, 1991).

Je nach Art oder Ausprägung der Hirnschädigung lassen sich bei den CCDs unterschiedliche Schweregrade beschreiben. Während bei schweren kognitiven Beeinträchtigungen die CCDs eher als Epiphänomen erscheinen (Jentzsch, Luzay, Guthke, Obrig & Thöne-Otto, 2020), können subtilere kognitive Defizite mit kommunikativ-pragmatischen Defiziten unterschiedlicher Ausprägungen assoziiert sein, ohne diese jedoch hinreichend zu begründen (Prigatano et al., 1985; Turkstra & Politis, 2017). Auffälligkeiten zeigen sich dann insbesondere in komplexen Kommunikationssituationen, die einen besonderen Anspruch an die Integration kognitiver Fähigkeiten stellen. Trotz der relativ diskreten Auffälligkeiten fühlen sich die Betroffenen sowie das soziale Umfeld häufig stark belastet (Grayson, Brady, Togher & Ali, 2021). Unabhängig vom Schweregrad können CCDs zu vielfältigen Problemen im psychosozialen Bereich (etwa interpersonelle Beziehungen; Grayson et al., 2021) und zu Schwierigkeiten bei der beruflichen Wiedereingliederung führen (Meulenbroek, Bowers & Turkstra, 2016; Meulenbroek & Cherney, 2019).

Insbesondere der Bereich der Sozialen Kognition scheint eng mit CCDs assoziiert. Dabei handelt es sich um einen Oberbegriff für kognitive und affektive Prozesse, die im Rahmen von sozialen Interaktionen auftreten. Zu den grundlegenden Fähigkeiten gehören dabei die Fähigkeit zur Emotionserkennung (z. B. anhand von Gesichtsausdrücken oder der Prosodie), die Fähigkeit zur kognitiven (Theory of Mind) und affektiven (Empathie) Perspektivübernahme sowie soziale Fertigkeiten wie das soziale Problemlösen, welches adäquates Sozialverhalten auch unter schwierigen Bedingungen ermöglicht und u. a. auf den basaleren Prozessen der Emotionserkennung und Perspektivübernahme basiert (Adolphs, 2011). Einschränkungen Sozialer Kognition werden insbesondere in der kommunikativen Interaktion ersichtlich (Quinting, Jonas, Kuhn & Stenneken, 2022; Togher, MacDonald et al., 2014) und können – etwa durch eine reduzierte Fähigkeit zur Perspektivübernahme oder Emotionserkennung – zu umfassenden kommunikativen Missverständnissen führen.

Im anglo-amerikanischen Raum geht man davon aus, dass weniger als 50 % der Betroffenen mit kommunikativen Auffälligkeiten nach erworbener Hirnschädigung adäquat (sprach-)therapeutisch versorgt werden (MacDonald, 2017). Es ist zu vermuten, dass sich die Versorgungssituation im deutschsprachigen Raum noch gravierender darstellt (Baumgärtner, 2020; Thöne-Otto, 2020). Begründet liegt dies in einem fehlenden Bewusstsein für das Störungsbild, in einer unklaren Terminologie sowie in der unzureichend sensitiven Diagnostik (Büttner & Glindemann, 2019; Elbourn, Togher, Kenny & Power, 2017). Darüber hinaus birgt das Störungsbild einige Herausforderungen in sich: So erschwert die interindividuelle Heterogenität häufig eine klare diagnostische und konzeptuelle Einordnung. Aber auch die intraindividuelle Variabilität ist nach klinischer Erfahrung hoch und erschwert eine valide Testung – abhängig z. B. vom Kontext oder den Gesprächspartner_innen (Quinting, 2022). Nicht zuletzt ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in Diagnostik und Therapie unabdingbar (Regenbrecht & Guthke, 2017).

Sprachtherapie und Neuropsychologie nehmen inhaltlich in der diagnostischen und therapeutischen Versorgung von CCDs eine gleichberechtigte Rolle ein und ergänzen einander mit ihren Vorgehensweisen: Wie die Beschreibung der Symptomatik deutlich macht, tragen kognitive Einschränkungen in verschiedenen Bereichen, u. a. auch der Sozialen Kognition, maßgeblich zum Störungsbild bei. Die konstituierenden kognitiven Dysfunktionen sowie deren psychosoziale Folgen werden entsprechend im Rahmen der Klinischen Neuropsychologie diagnostiziert und behandelt. Die Sprachtherapie berücksichtigt wiederum in ihren restituierenden und kompensatorischen Therapieansätzen explizit die Auswirkungen kognitiver Dysfunktionen auf die kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten. Im therapeutischen Vorgehen werden außerdem systematisch relevante psycho- und soziolinguistische Parameter einbezogen.

Internationale und nationale Initiativen zur Erforschung Kognitiver Kommunikationsstörungen

Weltweit rückt das Störungsbild der CCDs immer mehr in den Fokus. Eine internationale Arbeitsgruppe von forschenden und klinisch tätigen Personen hat bereits 2014 eine erste Fassung der sogenannten INCOG (International Group of Cognitive Researchers and Clinicians) -Leitlinien veröffentlicht, in denen auf Basis der bis dahin vorliegenden wissenschaftlichen Evidenz Empfehlungen zur kognitiven Rehabilitation nach moderatem bis schwerem SHT zusammengefasst wurden. Leichte SHTs wurden bewusst ausgeklammert, da – so die Argumentation der INCOG-Gruppe – die Beschwerden, die in dieser Gruppe von Patient_innen auftreten, sehr heterogen sein können. In den Jahren 2022/2023 ist nun eine überarbeitete Fassung (Bayley et al., 2023) dieser Leitlinien erschienen (INCOG 2.0). Inhaltlich werden in den INCOG-Leitlinien Empfehlungen zur Behandlung von Störungen in den Bereichen posttraumatische Amnesie (Ponsford et al., 2023), Aufmerksamkeit (Ponsford et al., 2023), Gedächtnis (Velikonja et al., 2023), exekutive Funktionen (Jeffay et al., 2023) sowie Kognitive Kommunikationsstörungen/Soziale Kognition (Togher et al., 2023) zusammengefasst. Der vorliegende Artikel fokussiert auf die Empfehlungen für den Bereich Kognitive Kommunikationsstörungen/Soziale Kognition.

Die INCOG-Arbeitsgruppe umfasst alle Professionen, die an der kognitiven Rehabilitation von Menschen mit SHT beteiligt sein können, u. a. Neuropsychologie, Sprachtherapie/Logopädie, Ergotherapie, Medizin und Physiotherapie. Die Basis der Empfehlungen, die von der Expert_innengruppe herausgegeben wurden, bildete eine systematische Literatursuche (für die INCOG-2.0-Empfehlungen für den Zeitraum ab 2014 bis Juli 2021) in verschiedenen Literaturdatenbanken (Medline, Embase, Cochrane, Cinahl und PsycInfo) unter Verwendung relevanter Suchbegriffe zu den Themenfeldern „traumatische Hirnschädigung“ und „Kognition“ bzw. zum jeweils fokussierten kognitiven Prozess. In die weitere Betrachtung eingeschlossen wurden Interventionsstudien, die mindestens drei Proband_innen im Alter über 18 Jahren umfassten, bei denen wiederum bei mindestens 50 % ein mittelschweres bis schweres SHT vorlag. Zusätzlich wurden systematische Überblicksartikel und Metaanalysen gesondert betrachtet. In die Analysen gingen ausschließlich englischsprachige Publikationen ein. Die Evidenz wurde anschließend systematisch aufbereitet, von themenspezifisch organisierten Arbeitsgruppen begutachtet und in abstrahierte Empfehlungen überführt (vgl. Bayley et al. [2023] für eine detaillierte Darstellung des methodischen Vorgehens).

Die aktualisierten Versionen der INCOG-Leitlinien beinhalten insgesamt 80 Empfehlungen, davon sind 27 im Vergleich zur Version von 2014 neu ergänzt. Die Empfehlungen umfassen Aspekte der Diagnostik, Behandlung, Medikation zur Förderung kognitiver Leistungen sowie Telediagnostik und Telerehabilitation, wobei die letztgenannten Aspekte im Vergleich zur vorherigen Version noch einmal deutlich ausführlicher behandelt wurden. Die Empfehlungen basieren jeweils auf unterschiedlichen Evidenzgraden.

Im deutschsprachigen Raum hat es sich ein interdisziplinäres Netzwerk aus 19 überwiegend parallel auch praktisch tätigen Wissenschaftler_innen aus den Bereichen Linguistik/Sprachtherapie, Neuropsychologie, Psychologie und Medizin zur Aufgabe gemacht, die evidenzbasierte Diagnostik und Therapie von CCDs in den entsprechenden therapeutischen Disziplinen und deren Vernetzung zu fördern. Nähere Informationen zur Arbeit des Netzwerkes und seinen Mitgliedern finden sich unter folgendem Link: https://www.netzwerk-kokos.germanistik.uni-muenchen.de/index.html. Die Arbeit des Kernnetzwerkes wird seit dem Jahr 2022 für 3 Jahre unter der Leitung von Dr. Julia Büttner-Kunert (LMU München) und Dr. Kristina Jonas (Universität zu Köln) von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

Aus diesem Netzwerk heraus sollen im vorliegenden Artikel die INCOG-Richtlinien zu den Kognitiven Kommunikationsstörungen/Sozialer Kognition vorgestellt werden. Diese umfassen acht Kernempfehlungen, die in Tabelle 1 überblicksartig zusammengefasst sind und im Folgenden aus interdisziplinärer Perspektive näher erläutert und bezogen auf den deutschsprachigen Raum kommentiert werden.

Tabelle 1 INCOG-2.0-Leitlinienempfehlungen für die Diagnostik und Behandlung von Kognitiven Kommunikationsstörungen und Beeinträchtigungen Sozialer Kognition einschließlich des wissenschaftlichen Evidenzgrades.

INCOG-2.0-Empfehlungen zu Kognitiven Kommunikations- störungen/Sozialer Kognition

#Empfehlung 1

Empfehlung 1 betont zum einen die Notwendigkeit einer sorgfältigen Differenzialdiagnostik, die den Einfluss von Beeinträchtigungen basaler Wahrnehmungsfunktionen auf die CCDs erhebt. Dazu gehört beispielsweise ein möglicherweise reduziertes Hör- oder Sehvermögen, was sich – unentdeckt – negativ auf die Kommunikationsfähigkeit auswirken könnte. Des Weiteren werden die Ermüdbarkeit sowie eine reduzierte Verhaltensregulation spezifisch erwähnt. Diese Aspekte sollten also systematisch erhoben werden. Für die Perspektive der Klinischen Neuropsychologie und Neuropsychologischen Psychotherapie wird zusätzlich die Berücksichtigung einer Verzahnung von sowohl kognitiven als auch psychischen Belastungen der Betroffenen verdeutlicht. Längst ist bekannt, dass psychische Symptome wie Depressivität, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen ebenfalls mit kognitiven und kommunikativen Beeinträchtigungen einhergehen und durch eine Hirnschädigung verursachte Beeinträchtigungen zusätzlich verstärken können (vgl. z. B. Brunnauer, Zwanzger & Laux, 2022). Daraus ergibt sich, dass die eventuell zugrundeliegende Psychopathologie zwingend auch in der Neuropsychologischen Psychotherapie adressiert werden muss.

Aus sprachtherapeutischer Perspektive wird neben der Berücksichtigung komorbider physischer und sensorischer Einschränkungen in der Diagnostik und Therapie insbesondere die Komorbidität von Sprechstörungen (Dysarthrien) sowie deren Auswirkung auf kommunikative Fähigkeiten betont. Darüber hinaus wird hervorgehoben, dass der Einfluss von externen Faktoren, wie etwa der Grad der Vertrautheit mit Gesprächspartner_innen (intim oder professionell), der Kontext (Alltagssituation oder Gespräch im Therapieraum) sowie die spezifische kommunikative Anforderung einer Kommunikationssituation, in der Beurteilung und Behandlung von CCDs systematisch Berücksichtigung finden sollte (siehe auch Duff, Mutlu, Byom & Turkstra, 2012). Mit bestehenden standardisierten Verfahren ist solch ein systematischer Vergleich aktuell noch nicht möglich. Insbesondere in der Spontansprachanalyse bzw. im Spontansprachrating sollten diese Faktoren jedoch verstärkt einbezogen werden.

#Empfehlungen 2 und 3

Die Empfehlungen 2 und 3 betonen sowohl aus der Perspektive der Patient_innen als auch aus der der Behandelnden die Bedeutung einer Diagnostik und Behandlung, die den individuellen lebensgeschichtlichen Hintergrund der betroffenen Person berücksichtigt, u. a. ihren kulturellen und sprachlichen Hintergrund sowie ihre Geschlechtsidentität. Dadurch soll verhindert werden, dass z. B. Leistungsunterschiede, die durch kulturspezifische oder bei Nicht-Erstsprachler_innen durch sprachliche Anforderungen bestimmter Aufgaben zustande kommen, als kognitiv-kommunikative Beeinträchtigungen fehlinterpretiert werden. Einen Überblick zu diesen Aspekten geben z. B. Fernandez und Evans (2022).

Zudem ist es unabdingbar, neben den klinischen Einschätzungen kommunikativer Leistungen auch umfassend die kommunikativen Selbst- und Fremdeinschätzungen zu erheben, um so etwa kulturspezifische oder persönlichkeitsbedingte kommunikative Ausprägungen nicht fälschlicherweise als pathologisch zu klassifizieren. Für den sprachtherapeutischen Bereich stehen hier deutschsprachige Instrumente wie der La Trobe Communication Questionnaire (LCQ; Büttner-Kunert et al., 2021) oder der Veränderungsfragebogen Kommunikation (Jentzsch et al., 2020) zur Verfügung.

Anzumerken ist, dass die Empfehlung einer Berücksichtigung kultureller, sozialer und kognitiver Variablen nicht spezifisch für die Diagnostik und Behandlung von CCDs nach SHT gelten dürfte, sondern generell in der Rehabilitation von erworbenen Hirnschädigungen unterschiedlicher Ätiologie Berücksichtigung finden sollte (Rubio-Fernandez, 2023). Sicherlich sind die Leistungsbereiche der Sozialen Kognition sowie der Kommunikation aber relativ gesehen stärker von kultur- und persönlichkeitsspezifischen Parametern beeinflusst und somit für Fehlinterpretationen (etwa Gefahr der subjektiven Verzerrung durch Untersuchende in qualitativer Verhaltensbeobachtung) besonders anfällig.

In der Neurorehabilitation sollte daher bei allen behandelnden Personen das Bewusstsein für einen „cultural bias“ und „gender bias“ gestärkt werden. Einen ersten Schritt zur Vorbeugung von entsprechenden Fehlinterpretationen bieten Leitfäden und Selbsteinschätzungsbögen, die Therapeut_innen für entsprechende Gefahrenquellen sensibilisieren sollen (u. a. Kizilhan, 2022; Nemitz, Rother & Heim, 2023).

#Empfehlungen 4 und 5

Die Empfehlungen 4 und 5 thematisieren die therapeutische Behandlung von Menschen mit CCD nach SHT und betonen die Relevanz einer spezifischen und individualisierten Behandlung von kognitiven und kommunikativen Funktionen. Die Therapie sollte die Verbesserung der Partizipation am alltäglichen Leben fokussieren sowie, insbesondere bei den häufig jüngeren Betroffenen, das Ziel der beruflichen Reintegration sowie der Selbstständigkeit im Alltag in den Vordergrund stellen. Das therapeutische Arbeiten in alltagsnahen Kontexten soll den notwendigen Transfer in Alltagssituationen unterstützen und somit die Integration von erarbeiteten Inhalten in soziale, berufliche bzw. schulische Kontexte gewährleisten. Dabei sollten Therapieansätze eingesetzt werden, die individualisiert, funktional, ziel- und ergebnisorientiert sind und realitätsnahe Anforderung an kommunikative und kognitive Fähigkeiten stellen.

Hinsichtlich konkreter therapeutischer Maßnahmen/Konzepte erfolgt aus sprachtherapeutischer Perspektive grundsätzlich eine Differenzierung zwischen indirekten und direkten Ansätzen (Tobar-Fredes & Salas, 2022). Unter indirekten Ansätzen werden in der Literatur Methoden/Verfahren verstanden, die explizit die Verbesserung konstituierender kognitiver Funktionen fokussieren. Dabei werden kommunikative Anforderungen nicht explizit berücksichtigt oder systematisch unter linguistischen Gesichtspunkten betrachtet; der Schwerpunkt liegt vielmehr z. B. auf der Verbesserung von Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisleistungen (auch unter Anwendung von nonverbalem Material). Man geht davon aus, dass sich durch erzielte Behandlungserfolge in diesen Bereichen auch entsprechende Verbesserungen der beeinträchtigten kommunikativen Kompetenzen erzielen lassen (Regenbrecht & Guthke, 2017; Tobar-Fredes & Salas, 2022). In Abbildung 1 wird illustriert, wie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Sprachtherapie und Neuropsychologie in der Behandlung der CCDs erfolgen kann. Wie der Abbildung zu entnehmen ist, liegt unserer Ansicht nach der primäre Zuständigkeitsbereich der Neuropsychologie in der Durchführung der therapeutischen Maßnahmen, die sich explizit auf die konstituierenden kognitiven Faktoren/Dysfunktionen beziehen.

Abbildung 1 Vorschlag zur interdisziplinären Zusammenarbeit von Klinischer Neuropsychologie und Sprachtherapie bei der Diagnostik und Behandlung Kognitiver Kommunikationsstörungen (CCDs).

Unter direkten Ansätzen werden aus sprachtherapeutischer Sicht hingegen Interventionen verstanden, die die Integration kognitiver Fähigkeiten in kommunikative Kontexte fokussieren und folglich den Einfluss kommunikativer Kontexte systematisch unter psycho- und soziolinguistischen Gesichtspunkten berücksichtigen. Hier wiederum ist der Zuständigkeitsbereich der Sprachtherapie zu verorten. In den Leitlinien selbst wird als konkretes Therapieprogramm lediglich das Kommunikationspartner_innentraining als evidenzbasierter Ansatz vorgeschlagen. Ein entsprechendes Programm wird aktuell ins Deutsche übertragen (Quinting et al., in Vorb.). Ein großer Bedarf besteht jedoch sowohl für den deutschsprachigen Raum als auch international an linguistisch fundierten und alltagsorientierten Therapiekonzepten.

Zur Evaluation des Therapieerfolgs wird das „Goal Attainment Scaling“ vorgeschlagen, das eine aktive Einbindung der Person mit SHT in den Zielsetzungsprozess sowie im Monitoring des Therapieverlaufs unterstützt, aber natürlich störungsübergreifend unabhängig von CCDs zur Evaluation des Therapieerfolgs eingesetzt werden kann.

Weiterhin werden in den INCOG-Empfehlungen 4 und 5 auch Maßnahmen zur Stärkung des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls in der Behandlung der CCD als zentral angesehen (vgl. z. B. Luppen und Stavemann [2013] für ein mögliches Vorgehen im Rahmen der Neuropsychologischen Psychotherapie), ebenso wie eine Psychoedukation zum Thema CCDs für Betroffene und Angehörige. Kritisch sei anzumerken, dass in Bezug auf den letzteren Punkt nur sehr begrenzt deutschsprachige Materialien zur Verfügung stehen. Eine der wenigen Ausnahmen bilden zwei Broschüren zu dem Thema „Kognitive Kommunikationsstörungen“, welche explizit Informationen für Betroffene und Angehörige enthalten, konzipiert von Wissenschaftler_innen des DFG-Netzwerks „Kognitive Kommunikationsstörungen“ (Büttner-Kunert, Anzenberger, Müller & Douglas, 2020 [abrufbar unter folgendem Link: https://www.dbs-ev.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/dbs-Broschuere_Kognitive_Kommunikationsstoerungen_2020.pdf]; Büttner-Kunert, Jonas, Rosenkranz & Thöne-Otto, 2022).

#Empfehlung 6

Diese Empfehlung bezieht sich insbesondere auf Personen mit schweren CCDs, die aufgrund umfangreicher kognitiver Dysfunktionen kaum sprachlich-kommunikative Handlungsmöglichkeiten haben. Hier sollten Hilfsmittel aus dem Bereich der Unterstützten Kommunikation (UK) routinemäßig Anwendung finden, dabei jedoch individuelle Anforderungen berücksichtigen. Eine besondere Herausforderung bei Personen mit schwerer CCD ist sicherlich die erfolgreiche und nachhaltige Anpassung eines UK-Mediums bei schweren kognitiven Einschränkungen. Grundsätzlich können Mittel der UK eingesetzt werden, für die auch bei anderen neurologischen Störungsbildern, etwa im Aphasiebereich, Erfahrungen bestehen.

#Empfehlung 7

Im Rahmen der Empfehlung 7 wird dazu ermutigt, gruppentherapeutische Ansätze stärker in die Behandlung zu integrieren. Die Evidenzen für Gruppentherapie im Kontext von CCDs sind vielversprechend. Gruppentherapie-Konzepte wurden bisher im Bereich der sozial-kommunikativen Fähigkeiten, der Emotionsverarbeitung, des sozialen Problemlösens, des Selbstmonitorings von sozialen Fähigkeiten sowie mit einem Fokus auf Copingstrategien bei kommunikativen Missverständnissen, in der Diskursproduktion sowie zum Einsatz metakognitiver Strategien eingesetzt.

Im deutschsprachigen Raum werden entsprechende Gruppentherapien für Einschränkungen in sozialen Kompetenzen seltener angeboten; es existieren jedoch durchaus entsprechende manualisierte Angebote, wie z. B. das „Soziale Kompetenztraining nach erworbener Hirnschädigung“ (Schellhorn, Pössl & Bogdahn, 2018). Im Fokus des Konzepts stehen neben Übungen zur Awareness und Krankheitsbewältigung auch Anregungen zum Umgang mit der eigenen Kommunikationsstörung sowie zur Entwicklung von (kommunikativen) Kompensationsstrategien. In der Planung von gruppentherapeutischen Konzepten ist das kognitive und kommunikative Leistungsprofil der Patient_innen zu berücksichtigen, z. B. durch kürzere Sitzungen oder kleinere Gruppen, um z. B. einer Überforderung von Patient_innen mit schweren begleitenden kognitiven Einschränkungen im Bereich der Aufmerksamkeit und der exekutiven Funktionen entgegenzuwirken.

#Empfehlung 8

Die Empfehlung 8 postuliert eine grundsätzliche Vergleichbarkeit von Therapien in Präsenz sowie Ansätzen der Telerehabilitation hinsichtlich der Effektivität, Umsetzbarkeit und Akzeptanz. Diese Empfehlung basiert auf zwei RCTs (randomized controlled trial), die ein Kommunikationspartner_innentraining in einer Präsenz- sowie eine Onlinebedingung miteinander verglichen haben. Hier zeigten sich für beide Settings signifikante Verbesserungen in verschiedenen kommunikativen Verfahren.

Telerehabilitation bezeichnet einen Oberbegriff für Rehabilitationsmethoden, die mithilfe moderner Informationstechnologien internetgestützt über räumliche Distanzen hinweg (also z. B. wenn Patient_in und Therapeut_in sich an unterschiedlichen Orten befinden und nicht „in Präsenz“, am selben Ort) oder auch zeitversetzt (wenn die Therapie nicht in Echtzeit stattfindet) durchgeführt werden. Zu den häufig eingesetzten Informationstechnologien gehören z. B. Computer, Tablets oder Smartphones, mit oder ohne Videoübertragung. Computer, Tablets und Smartphones können darüber hinaus ebenfalls in Präsenztherapien – auch unter Rückgriff auf internetgestützte Programme – Anwendung finden (Bilda, Mühlhaus & Ritterfeld, 2017).

Ob Telerehabilitation in der Behandlung von CCDs tatsächlich vergleichbare Outcomes bringt, hängt im individuellen Fall jedoch sicher von einer Reihe von Parametern ab, u. a. davon, inwiefern die betroffene Person (ggf. mit Unterstützung) dazu in der Lage ist, mit den eingesetzten Telekommunikationstechnologien umzugehen. Für den deutschsprachigen Raum bestehen aktuell keine systematischen Vergleichsuntersuchungen von Präsenz- vs. Teletherapie bei CCDs nach SHT, es ist jedoch grundsätzlich von einer Übertragbarkeit der Ergebnisse aus dem internationalen Raum auszugehen.

#Soziale Kognition Empfehlung 1

Für den Bereich der Sozialen Kognition wurde im Unterschied zu 2014 erstmalig eine entsprechende Empfehlung in die INCOG-Guidelines aufgenommen. Demnach soll stets eine Diagnostik soziokognitiver Fähigkeiten v. a. in den Bereichen Emotionserkennung, Theory of Mind und emotionale Empathie in Betracht gezogen werden. Dabei ist zu beachten, dass die emotionale Empathie das tatsächliche emotionale Nachvollziehen der affektiven Situation einer anderen Person sowie ggf. eigener Reaktionen auf diese bezeichnet, während die kognitive Empathie das kognitive Erschließen der emotionalen Perspektive einer anderen Person meint und somit mit der affektiven Theory of Mind im Wesentlichen deckungsgleich ist (Shamay-Tsoory, Tomer, Goldsher, Berger & Aharon-Peretz, 2004). Darauf aufbauend wären dann ggf. entsprechende therapeutische Interventionen zur Verbesserung der Funktionen in diesen Bereichen unter Berücksichtigung von Verhaltensaspekten durchzuführen.

Soziokognitive Fähigkeiten und Kompetenzen wurden in der neuropsychologischen Diagnostik und Therapie lange Zeit vernachlässigt (vgl. u. a. Goebel, Mehdorn & Wiesner, 2018; Kelly, McDonald & Frith, 2017). Dies ändert sich erfreulicherweise zunehmend vor dem Hintergrund eines geschärften Bewusstseins dafür, dass diese u. a. auch entscheidend Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen nach erworbenen Hirnschädigungen beeinflussen können (Thöne-Otto, Schellhorn & Wenz, 2018). Vor diesem Hintergrund soll die INCOG-Empfehlung etwas detaillierter kommentiert werden. Problematisch ist sicherlich zunächst, dass bislang wenige für den deutschsprachigen Raum klinisch normierte Verfahren zur Diagnostik der oben genannten soziokognitiven Bereiche existieren (z. B. für den „Reading the Mind in the Eyes“-Test zur Erfassung der kognitiven Empathie/affektiven Theory of Mind: Kynast et al., 2021).

In der Literatur werden in den letzten Jahren verstärkt Therapieansätze zur Verbesserung soziokognitiver Fähigkeiten vorgestellt und erprobt. Zusammenfassend erweisen sich verschiedene Ansätze mit unterschiedlichen Schwerpunkten als vielversprechend mit positiven Auswirkungen auf sozial-kognitive Verarbeitungsprozesse sowie auf die psychosoziale Belastung. Diese fokussieren jedoch meist relativ isoliert einzelne Subdomänen der oben genannten zentralen soziokognitiven Funktionsstörungen. Bislang existiert eine internationale RCT-Studie, in deren Rahmen alle im ersten Abschnitt genannten Hauptaspekte Sozialer Kognition (Emotionserkennung, Perspektivübernahme und soziale Fertigkeiten) und Kompetenzen behandelt wurden (Westerhof-Evers et al., 2017). Diese stellt eine von zwei Studien dar, die der entsprechenden INCOG-Empfehlung zugrunde liegt. Insgesamt 61 Personen mit SHT absolvierten nach randomisierter Zuteilung entweder einmal pro Woche eine 16 bis 20 Sitzungen umfassende Einzeltherapie soziokognitiver Defizite oder in vergleichbarer Frequenz und Dauer ein computergestütztes Programm („Cogniplus“) zur Behandlung kognitiver Funktionsstörungen. Emotionserkennung wurde computergestützt behandelt und umfasste Übungen zur korrekten Identifikation sowie zum eigenen Erleben von Emotionen. Im Modul Perspektivübernahme und Theory of Mind wurden die Patient_innen unter Integration von Psychoedukation und verhaltenstherapeutischer Interventionen dazu angeleitet, eigene und fremde Perspektiven zu unterscheiden (z. B. durch Befragung von Angehörigen) und diese für fiktive und persönlich erlebte Situationen einzunehmen. Im Modul Sozialverhalten wurden soziale Kompetenzen (z. B. Zuhören) sowie Möglichkeiten zur Steuerung von Emotionen (z. B. Wut) erarbeitet, u. a. durch Rollenspiele. Die Therapie erzielte eine Verbesserung von Emotionserkennung und Perspektivübernahme sowie der Einschätzung von Empathie und Lebensqualität durch Angehörige. Mit Ausnahme der computergestützten Behandlung der Emotionserkennung setzte das Programm in jeder Sitzung realen Therapeutenkontakt voraus. Mit dem Programm zur Behandlung von Einschränkungen Sozialer Kognition und Kompetenzen der Ruhr-Universität Bochum (SoKoBo [www.sokobo.de], Rogalla et al., Pilotstudie in revidierter Fassung in Begutachtung) wurde im deutschsprachigen Raum ein Programm entwickelt, in dem die drei Bereiche Emotionserkennung, Perspektivübernahme (Theory of Mind/Empathie) sowie soziales Problemlösen zumindest theoretisch rein internetgestützt (siehe auch INCOG-Empfehlung #8) behandelt werden können, um der Unterversorgung mit neuropsychologischer Therapie und der verminderten Mobilität vieler Betroffener zu begegnen. Mittelfristig soll das Programm jedoch, wie auch andere Programme, die in der kognitiven Rehabilitation genutzt werden, v. a. in laufende neuropsychologische Behandlungen integriert werden und die den INCOG-Guidelines ebenfalls zu entnehmende Komponente der direkten Kommunikation mit Interaktionspartner_innen integrieren. Das Programm wurde im Rahmen eines RCTs, in dem Patient_innen mit SHT entweder mit SoKoBo (Emotionserkennung, Theory of Mind, Empathie, soziales Problemlösen) oder in der Kontrollgruppe mit Rehacom (Fa. Hasomed) (Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutive Funktionen) internetgestützt behandelt wurden, erfolgreich erprobt. Die Studie belegte positive Effekte von SoKoBo für Emotionserkennung und Empathie (Lohaus et al., zur Begutachtung eingereicht). Die INCOG-Empfehlung postuliert zwar, dass rein computergestützte Therapien soziokognitiver Funktionseinschränkungen nicht zu empfehlen seien, da entsprechende Wirksamkeitsbelege für die Generalisierung auf Alltagsfunktionen fehlen. Hierbei ist es jedoch besonders wichtig, sich vor Augen zu führen, dass dies primär der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass bislang kaum RCTs zur Erforschung der therapeutischen Effekte solcher Interventionen bei neurologisch Erkrankten durchgeführt wurden. Eine kürzlich erschienene systematische Übersicht (Lohaus, Rogalla & Thoma, 2022) von RCTs, welche die Wirksamkeit von technologischen (u. a. auch computergestützten) Interventionen im Bereich soziokognitiver Defizite untersuchte, förderte zutage, dass keine Studie, die neurologisch Erkrankte behandelte, diese hohen methodischen Anforderungen erfüllte, um in die Übersicht aufgenommen zu werden. Dafür gingen 16 Studien, im Rahmen derer ausschließlich psychotische Patient_innen behandelt wurden, ein und zeigten, dass solche Interventionen v. a. den Bereich der Emotionserkennung konsistent zu verbessern scheinen. Relativ gesehen wurden Verbesserungen in den Bereichen Theory of Mind und Sozialverhalten jedoch deutlich weniger beforscht und brachten sicherlich auch dadurch weniger konsistente Ergebnisse.

Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass telerehabilitative Ansätze im weiteren Sinne (z. B. videogestützte Therapie) auch für den Bereich Sozialer Kognition ähnlich empfehlenswert sein dürften wie für die anderen Bereiche (siehe Empfehlung #8), die für die Behandlung von CCDs im engeren Sinne ausgesprochen wurden.

Diskussion

Das Störungsbild der CCDs nach SHT findet im deutschsprachigen Raum, insbesondere in den Disziplinen der Klinischen Neuropsychologie und Sprachtherapie, in letzter Zeit verstärkt Beachtung. Im vorliegenden Beitrag wurde die internationale Leitlinie der INCOG-Arbeitsgruppe zu Kognitiver Kommunikation und Sozialer Kognition nach SHT vorgestellt und unter Berücksichtigung der aktuellen Versorgungssituation im deutschsprachigen Raum kommentiert.

Limitationen

Insgesamt handelt es sich bei den veröffentlichten Leitlinien um hilfreiche erste Empfehlungen, die das Bewusstsein für die Bedeutung der Behandlung von CCDs und die damit assoziierten kognitiven Defizite, insbesondere im Bereich der Sozialen Kognition, schärfen. Es ist zu berücksichtigen, dass die Empfehlungen sich bislang im Schwerpunkt nur auf kommunikative Beeinträchtigungen nach mittelschwerem bis schwerem SHT fokussieren. Die Handlungsempfehlungen zu sehr schweren CCDs mit begleitenden umschriebenen kognitiven Dysfunktionen bleiben vage. Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Leitlinien in ihren Empfehlungen recht allgemein gehalten sind und an vielen Stellen sicherlich einer Konkretisierung für den klinisch-praktischen Alltag in der Sprachtherapie und Klinischen Neuropsychologie sowie Neuropsychologischen Psychotherapie bedürfen. Dies ist ansatzweise in den Kommentaren im vorliegenden Artikel bereits angeklungen. Eine Übersetzung der zum Teil etwas generisch anmutenden Empfehlungen in konkretere Praxisleitlinien, z. B. in Form der Entwicklung neuer und sensitiverer diagnostischer Instrumente sowie Behandlungsansätze, stellt einen wichtigen Baustein des Arbeitsprogramms des einleitend vorgestellten DFG-Netzwerks zum Thema „Kognitive Kommunikationsstörungen“ dar.

Grundsätzlich ist anzumerken, dass die relativen Unschärfen in der Definition sowie im diagnostischen und therapeutischen Vorgehen in den INCOG-Leitlinien auf eine noch unzureichende empirische Datenlage zurückzuführen sind. Aufgabe neurorehabilitatorischer Forschung sollte es sein, das Störungsbild sowie seine therapeutische Behandlung aus interdisziplinärer Perspektive zu betrachten und empirisch weiter zu untersuchen, um perspektivisch konkretere Handlungsempfehlungen ableiten zu können.

Relevanz für die Praxis

Die Autor_innen der INCOG-2.0-Empfehlungen schlagen für die Behandlung von CCDs nach mittelschweren bis schweren SHTs einen klinischen Entscheidungsalgorithmus vor (siehe Togher et al., 2023), den wir in diesem Artikel in einer von uns modifizierten Form vorstellen möchten (vgl. Abbildung 1). Insbesondere gehen wir, deutlich stärker als im ursprünglichen Algorithmus vorgesehen, auf die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Sprachtherapie und Neuropsychologie ein und machen, unter Einbezug der allgemeinen und störungsunabhängig formulierten Empfehlungen zur Zusammenarbeit dieser beiden Disziplinen von Regenbrecht und Guthke (2017), erste Vorschläge zur konkreten Umsetzung und Arbeitsteilung. So sollte grundsätzlich möglichst eine parallele Diagnostik und verzahnte Behandlung durch diese beiden Disziplinen stattfinden, sofern der Verdacht auf das Vorliegen einer CCD besteht. Erfahrungsgemäß ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit im klinischen und tagesklinischen Setting leichter zu konkretisieren als im ambulanten Sektor, da es dort an übergreifenden und koordinierenden Strukturen mangelt – ein Versorgungsproblem, welches selbstverständlich nicht exklusiv Patient_innen mit CCDs betrifft.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die empirische Forschung zu CCDs nach SHT, insbesondere auch eine grundlagentheoretische Betrachtung ihrer kognitiven und linguistischen Determinanten und deren Interaktion, noch Lücken aufweist, die durch interdisziplinäre Zusammenarbeit geschlossen werden müssen, um sowohl die diagnostische als auch die therapeutische Versorgung der betroffenen Personen, insbesondere auch im deutschsprachigen Raum, maßgeblich zu verbessern.

Literatur