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Open AccessForum – Diskussionsbeitrag

Falldarstellung und Fallkonzeption in der Klinischen Neuropsychologie

Entwurf einer Standardvorlage für Prüfungen, Intervision und Supervision

Published Online:https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000390

Abstract

Zusammenfassung: Falldarstellungen als Instrument diagnostischer und therapeutischer Qualitätssicherung enthalten neben der Beschreibung der Diagnostik und der ICD-Diagnosen ein modellbasiertes Fallkonzept, aus dem Therapieziele abgeleitet werden, deren Umsetzung und Evaluation dokumentiert werden. Besondere Bedeutung haben Falldarstellungen in der Aus- und Weiterbildung. Standardvorlagen der Klinischen Neuropsychologie sind historisch bedingt an Befunden und Gutachten orientiert. Entwicklungsbedarf wurde bereits seit Inkrafttreten der alten Weiterbildungsordnung der Landeskammern vor 10 Jahren und des aktuellen Curriculums der Gesellschaft für Neuropsychologie 2017 deutlich. Dies gilt umso mehr, seit die neue Weiterbildungsordnung in Kraft getreten ist, die die neuropsychologische Psychotherapie den anderen Psychotherapierichtungen gleichstellt. Besonderer Bedarf besteht an Standards für die Entwicklung individueller Fallkonzepte als Grundlage für Therapieziele und therapeutisches Vorgehen. Im Sinne dieser Zielsetzung skizzieren wir hier eine standardisierte Falldarstellung mit ICF-basierter Fallkonzeptualisierung, die neben funktionellen Defiziten auch Aktivitäts- und Partizipationseinschränkungen, Person- und Umweltfaktoren sowie eine fachlich begründete, abgestufte Auswahl von Therapiezielen enthält. Sie soll der Fachöffentlichkeit als Diskussionsgrundlage für die Weiterentwicklung neuropsychologischer Standards dienen.

Case Report and Case Conceptualization in Clinical Neuropsychology – Proposing a Standard Template for Examinations, Intervision, and Supervision

Abstract: As an instrument of diagnostic and therapeutic quality assurance, case reports contain a description of the diagnostic procedure and the resulting ICD diagnoses and a model-based case concept. Therapy goals are derived and the implementation and evaluation of these goals are documented based on this concept. Case reports are of particular importance in training and further education. Historically, standard templates in clinical neuropsychology have been based on findings and expert reports. Candidates and supervisors have formulated the need for development since the previous state-decreed training regulations came into force 10 years ago, and in 2017, the current curriculum of the German Society for Neuropsychology was introduced. The new further training regulations put neuropsychological psychotherapy on an equal footing with the other fields of psychotherapy. There is a particular need for standards for developing individualized case concepts as a basis for therapy goals and therapeutic procedures. In line with this objective, we outline here a standardized case presentation with ICF-based case conceptualization, which, in addition to functional deficits, also includes the domains of activity and participation. We include personal and environmental factors as well as a professionally justified, graduated selection of therapy goals. This outline serves the professional community as a basis for discussion for the further development of neuropsychological standards.

In den letzten Jahren wird von Weiterbildungskandidat_innen, -bevollmächtigten und -befugten sowie Supervisor_innen und Prüfungskommittees eine Konkretisierung der Vorgaben für Falldarstellungen gefordert. Gemäß Curriculum der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) von 2017, gemäß der Weiterbildungsordnungen der Landespsychotherapeutenkammern aus den Jahren 2013 bis 2016 und gemäß neuer Weiterbildungsordnung sind zwei Gutachten und drei Falldarstellungen einzureichen, die auch in der mündlichen Prüfung behandelt werden. Vorgaben sollten so gestaltet sein, dass sie konkret umsetzbar sind und dabei fachlich fundiertes, evidenzbasiertes neuropsychologisches Handeln nachvollziehbar dokumentieren. Hier besteht für die Klinische Neuropsychologie Nachholbedarf. Es gibt zwar differenzierte Vorgaben für die diagnostische Urteilsbildung in Befunden und Gutachten, aber bisher nur ansatzweise Standards zur Fallkonzeption für neuropsychologische Interventionen.

Wir möchten in diesem Beitrag in der Leserschaft der Zeitschrift für Neuropsychologie eine breite fachliche Diskussion anregen mit dem Ziel, eine von der Fachöffentlichkeit getragene Fallkonzeptionalisierung und daraus resultierende Standardvorgaben für Falldarstellungen zu entwickeln. Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des fachlichen Austauschs im Kontext einer neuropsychologischen Hochschulambulanz vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungen und Perspektiven bezüglich Supervision, Prüfungen sowie eigener Aus- und Weiterbildung. Entsprechend wünschen wir uns Diskussionsbeiträge von Kolleg_innen, die in unterschiedlichen Versorgungskontexten und verschiedenen Phasen ihres Berufslebens tätig sind und mit unterschiedlichen Aufgaben in Wissenschaft, Klinik und ambulanter Praxis betraut sind. Bitte richten Sie diese Beiträge direkt an die Herausgeber_innen der Zeitschrift für Neuropsychologie.

Befund und Gutachten als Standardformate

In der Klinischen Neuropsychologie existieren zur Anfertigung von neuropsychologischen Befunden und Gutachten differenzierte Empfehlungen und ein breites Handlungswissen (vgl. Neumann-Zielke, Roschmann & Wilhelm, 2009). Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich die Klinische Neuropsychologie seit ihren Anfängen in den1990er-Jahren mit diagnostischen und gutachterlichen Fragestellungen beschäftigte und auf diesem Gebiet im Laufe der Zeit ein breites Methodeninventar entwickelt hat.

Der neuropsychologische Befund ist die zentrale Informationsquelle für zuweisende, mit- und nachbehandelnde Einrichtungen und dokumentiert die standardisierte, fachlich fundierte Erfassung kognitiver und affektiver Folgen hirnorganischer Schädigungen sowie gegebenenfalls korrespondierender psychischer Störungen. Er ist Bestandteil der Patientenakte; Patient_innen haben nach § 630 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) somit ein Recht zur Einsichtnahme in den neuropsychologischen Befund. Er dient Patient_innen und Angehörigen bei Rückmeldegesprächen sowie bei der Beantragung von Sozialleistungen als wichtige Informationsquelle. Verantwortlich für den Inhalt sind die unterzeichnenden, befugten und zugelassenen Heilkundeerbringer_innen. In stationären Kontexten ist dies die ärztliche Leitung, der die Fachaufsicht obliegt, in ambulanten Kontexten sind es die Neuropsycholog_innen selbst. Auch für den neuropsychologischen Befund existieren unterschiedliche Begriffe, wie Bericht oder Befundbericht. Neben der fachlichen Dokumentation qualifizierter neuropsychologischer Tätigkeit innerhalb und außerhalb der jeweiligen Einrichtung und der Dokumentation der Dienstleistung gegenüber Kostenträgern hat auch der neuropsychologische Befund die Aufgabe, die weitere Behandlung zu steuern, und stellt ein „Bezugssystem“ für die Arbeitsorganisation von Neuropsycholog_innen dar (Glodowski, 2009).

Neuropsychologische Gutachten werden in eigenen Curricula gelehrt. Seit den 1990er-Jahren wurden hierzu Richtlinien veröffentlicht (Romero et al., 1994; Wilhelm et al., 1995, 1998). Sie sind verpflichtender Bestandteil der Theorievorgaben der Fachverbands-Weiterbildung sowie der Weiterbildungsordnungen der Landespsychotherapeutenkammern. Das Gutachten ist dem Auftraggeber vertraulich zur Verfügung zu stellen und dieser entscheidet über die weitere Verwendung. Verantwortlich für den Inhalt sind die bestellten und vertraglich verpflichteten Gutachter_innen.

Zusammenfassend dienen Befunde wie auch Gutachten vorwiegend der Dokumentation und Kommunikation nachaußen, d. h. zu auftraggebenden, zuweisenden und nachbehandelnden Einrichtungen. Für ihren Aufbau und Inhalt existieren Standardvorgaben, die sich auch nach „innen“ strukturbildend auf die neuropsychologische Tätigkeit auswirken und insbesondere für Weiterbildungskandidat_innen bedeutsam sind. Für neuropsychologische Interventionen, die im letzten Jahrzehnt seit dem Inkrafttreten der „Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung: Neuropsychologische Therapie“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2012; im Folgenden: „Neuropsychologie-Richtlinie“) als wichtiges Arbeitsfeld hinzugetreten sind, enthalten diese Vorlagen keine konkreten Vorgaben.

Merkmale und Besonderheiten der Falldarstellung

Falldarstellungen1 sind ein Instrument der Qualitätssicherung in der Patientenversorgung. Sie haben Überschneidungen mit Befund oder Gutachten, unterscheiden sich aber bezüglich der Adressat_innen sowie in Zweck, Aufbau und Inhalt. Falldarstellungen enthalten wie Befund und Gutachten eine strukturierte Darstellung der diagnostischen Informationssammlung, die in der Klinischen Neuropsychologie in der Regel neben der Anamnese auch Fragebögen zur Selbst- und Fremdauskunft und Leistungsdiagnostik umfasst und zu einer Beschreibung von Defiziten kognitiver und affektiver Funktionen führt. Deren Ergebnisse werden reorganisiert zu einem modellbasierten Fallkonzept.

Besonderen Stellenwert nehmen Falldarstellungen in der Aus- und Weiterbildung ein, da sie das diagnostische und therapeutische Handeln der Kandidat_innen nachvollziehbar und überprüfbar machen. Sie dokumentieren in kondensierter Form die Fähigkeit zur Zusammenführung relevanter Information, diagnostischer Urteilsbildung sowie zur wissenschaftlich fundierten Argumentation bezüglich der Zusammenhänge zwischen körperlicher Schädigung, mentalen Funktionen und ihren Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Auch die Fähigkeit zur Priorisierung von Therapiezielen und zur Auswahl angemessener Methoden wird in der Falldarstellung deutlich. Falldarstellungen kommen aber auch in Fortbildungen, Intervision und Supervision zum Einsatz.

Im Curriculum der Gesellschaft für Neuropsychologie (2017) sind sowohl Falldarstellungen („Kasuistiken“) als auch Gutachten einzureichen, im aktuellen Curriculum von 2017 bilden sie die Grundlage für das Fachgespräch in der mündlichen Prüfung. In den Prüfungen zur Zusatzbezeichnung „Klinische Neuropsychologie“ sowie in den künftigen Prüfungen zum Abschluss der 5-jährigen fachpsychotherapeutischen Gebietsweiterbildung „Neuropsychologische Psychotherapie“ stehen die Fallkonzeptualisierung und Therapie stärker im Fokus. Die Behandlungsphasen sollten nachvollziehbar dargestellt werden.

Als weitere Besonderheit müssen Falldarstellungen in Intervisions-, Supervisions- und in Prüfungskontexten anonymisiert werden. Dies bedeutet nicht nur, dass alle persönlichen Daten der Patient_innen und ihrer Angehörigen chiffriert werden müssen, sondern auch Angaben zu vor- und nachbehandelnden Einrichtungen sowie alle Angaben, die einen Rückschluss auf den Zeitpunkt der Behandlung erlauben. Angaben zum Alter von Angehörigen, zum Zeitpunkt von Klinikaufenthalten oder zu früheren Erkrankungen sind relativ zum Alter der Patient_innen zu formulieren. Die Anonymisierung stellt einen weiteren wesentlichen Unterschied zu Befundbericht und Gutachten dar, in der die Nennung der vorbehandelnden oder zuweisenden Einrichtungen essenzieller Bestandteil ist. Die Benennung des Falls sollte eindeutig und gut praktisch handhabbar sein. Eine Chiffre wie im Gutachterverfahren der Richtlinienpsychotherapien, die noch rudimentäre Bestandteile von Namen und Geburtsdatum enthält, ist nicht erforderlich.

Fallkonzept

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Befund und Falldarstellung besteht in einer ausdifferenzierten, individuellen Fallkonzeptualisierung. Ein Fallkonzept stellt die „störungs- und veränderungsrelevanten Mechanismen und das Funktionieren des/der Patienten/in dar“ (Caspar, 2021) und bildet die Grundlage für die weitere psychotherapeutischen Behandlung (Schanz, Equit & Schäfer, 2023). In der Verhaltenstherapie erfolgt die Fallkonzeptualisierung üblicherweise über ein SORKC-Schema mit Mikro- und Makroanalyse (Bartling, Echelmeyer & Engberding, 2016), in der tiefenpsychologischen Psychotherapie über die Beschreibung der zentralen Konflikte und des Strukturniveaus mit Bezug zur OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik; Schneider, Klauer & Freyberger, 2008), in der systemischen Psychotherapie über die Einordnung des Auftrags und der vorgetragenen Problemstellung in den Systemkontext (Retzlaff, 2023). Für die Klinische Neuropsychologie wurde die Unterscheidung von Funktionen, Aktivitäten und Partizipation samt Kennzeichnung von Person- und Umweltfaktoren als Grundlage eines Fallkonzepts vorgeschlagen (Stationär-ambulanter Verbund zur Rehabilitation Hirnverletzter e.V., siehe elektronisches Supplement, ESM 1; Wendel & Schenk zu Schweinsberg, 2012). Wir schlagen für die Komponenten und ihre wechselseitigen Bezüge das Akronym „FATUP-Schema“ vor (Abbildung 1, Ziffern 1–6).

Abbildung 1 FATUP-Schema, Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Falldarstellungen sollten Ausführungen zu den Komponenten 1 bis 6 enthalten.

Aus dem Fallkonzept werden Therapieziele oder Behandlungsempfehlungen abgeleitet. Diese sollten evidenzbasiert sein und sich an den Leitlinien orientieren, deren Aktualisierungen in dieser Zeitschrift regelmäßig veröffentlicht werden (z. B. Karnath et al., 2020; Müller et al., 2020; Thöne-Otto et al., 2020). Sofern eine Behandlung durchgeführt wird, erfolgt eine auf die Therapieziele bezogene chronologische Dokumentation und Evaluation von Behandlungsmaßnahmen sowie ein abschließendes Fazit. Diese haben zum Ziel, diagnostisches und therapeutisches Handeln zu reflektieren und zu begründen – zunächst für die Therapeut_innen selbst, insbesondere in Aus- und Weiterbildungskontexten, aber auch im kollegialen Austausch, beispielsweise in Inter- und Supervision.

ICF-basierte Fallkonzeptualisierung

Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer individualisierten Fallkonzeptualisierung war die SAV-Musterdokumentation (Stationär-ambulanter Verbund zur Rehabilitation Hirnverletzter e. V.), siehe elektronisches Supplement (ESM) 1, die nach dem Erscheinen der Neuropsychologie-Richtlinie (Bundesministerium für Gesundheit, 2012) und der Bereitstellung ambulanter Abrechnungsziffern der Gruppe 309 durch die Kassenärztlichen Vereinigungen im Jahr 2014 entwickelt wurde. Die Musterdokumentation enthielt erstmals eine Aufzählung möglicher Therapieziele mit einer Unterscheidung in restitutiv, kompensatorisch und integrativ sowie eine Auflistung von ICF-Codes aus den Bereichen Aktivitäten und Partizipation (vgl. ICF-Browser; World Health Organization, 2017). Da sie für die Dokumentation von Diagnosestellung und Therapieplanung in ambulanten Neuropsychologiepraxen vorgesehen war, fehlte naturgemäß eine Beschreibung des Therapieverlaufs sowie eine Evaluation erreichter (Teil-)Ziele. Auch erlaubte die Formularstruktur keine Darstellung von Person- und Umweltfaktoren in Textform.

Bereits vor etwa 10 Jahren wurde in dieser Zeitschrift die ICF-basierte Fallkonzeptualisierung vorgeschlagen (Wendel & Schenk zu Schweinsberg, 2012). Die Autorinnen plädierten dafür, das Fallkonzept nicht aus einer defizitorientierten Beschreibung von hirnorganisch beeinträchtigten Funktionen abzuleiten, sondern orientiert an der ICF (World Health Organization, 2005) aus den daraus folgenden Einschränkungen von Aktivität und Partizipation. Auch das Logbuch der Gesellschaft für Neuropsychologie (2017) gibt stichpunktartig eine Einordnung in die ICF vor, die umzusetzen jedoch vielen Prüfungskandidat_innen schwerfällt. Die Orientierung am FATUP-Schema und eine schrittweise Zuordnung zu dessen Komponenten könnte hilfreich sein zur Entwicklung eines Fallkonzepts, das nicht nur Funktionsdefizite, sondern auch deren Auswirkungen auf Aktivitäten und Partizipation berücksichtigt und die Auswahl und Priorisierung von Therapiezielen nachvollziehbar macht. Basierend auf diesen Vorgaben stellen wir im Anhang eine detailliertere Skizze für eine Fallkonzeptualisierung nach ICF zur Diskussion.

Offene Punkte

Personbezogene Faktoren sind in den ICF-Codes nicht enthalten und bedürfen einer individualisierten Beschreibung. Sie sollten in Barrieren (–) als auch Förderfaktoren (+) unterteilt werden. Jedoch haben beispielsweise persönliche Einstellungen und Grundannahmen von Patient_innen einen entscheidenden Einfluss auf Aktivität und Teilhabe. Patient_innen mit der Annahme: „Mit einer körperlichen Einschränkung bin ich nur noch eine Belastung für meine Familie“, werden weniger wahrscheinlich Angehörige in die Vorbereitung einer Freizeitaktivität wie einen Konzertbesuch einbinden als Patient_innen mit der Grundannahme: „Auch Menschen mit körperlichen Einschränkungen haben das Recht, ihren Interessen nachzugehen und Konzerte zu besuchen“. Entsprechend wichtig sind personbezogene Faktoren als Gegenstand der neuropsychologischen Therapie und somit des neuropsychologischen Fallkonzepts. Hier kann möglicherweise eine Orientierung an den Fallkonzepten anderer Gebiete erfolgen.

Im Logbuch zur Weiterbildung Klinische/r Neuropsychologe/in der Gesellschaft für Neuropsychologie (2017) wird für Prüfungsfälle eine Mindestzahl von zehn Therapiesitzungen angegeben. Umfassende, mehrschrittige Therapien sind jedoch in vielen Settings der Neurorehabilitation aufgrund geringer Sitzungsfrequenz und kurzer Aufenthaltsdauer nicht möglich. Daher wird in Supervisionen stationärer Weiterbildungskandidat_innen oft die Frage aufgeworfen, ob in solchen Fällen eine Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung sinnvoll ist. Aus unserer Sicht ist davon auszugehen, dass auch kurze Interventionen – vielleicht gerade diese – einer gezielten Planung und Auswahl bzw. Abstufung von Therapiezielen bedürfen und für nicht erreichte oder zum gegebenen Zeitpunkt nicht erreichbare Therapieziele mit einer Empfehlung für die Weiterbehandlung verknüpft werden können. Auch wenn nur Teilziele erreicht werden können, wie beispielsweise ein besseres Verständnis der eigenen Funktionsausfälle, eine erste Vertrautheit mit kognitiven Trainingsprogrammen oder eine förderliche Haltung in Bezug auf künftige ambulante Behandlungen, können diese als Ziele formuliert, bearbeitet und evaluiert werden. Für diese Anwendungskonzepte könnten spezielle Vorlagen entwickelt werden.

Eine weitere offene Frage betrifft die Erhebung des psychopathologischen Status. Die Neuropsychologie-Richtlinie gibt in § 1 Satz 2 der Nr. 19 der Anlage I „Anerkannte Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden“ der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung des Gemeinsamen Bundesausschusses (aktuelle Ausgabe Januar 2023) für die ambulante neuropsychologische Versorgung das Ziel an, „die aus einer Schädigung oder Erkrankung des Gehirns resultierenden und krankheitswertigen kognitiven, emotionalen und motivationalen Störungen sowie die daraus folgenden psychosozialen Beeinträchtigungen und Aktivitätseinschränkungen der Patientin oder des Patienten zu erkennen und zu heilen oder zu lindern“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2012, S. 747). Somit ist die prämorbide Psychopathologie nicht als Gegenstand der Neuropsychologie benannt. Jedoch sind beispielsweise die emotionalen Funktionen (b152), psychomotorische Funktionen (b147), Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs (b130) oder des Temperaments und der Persönlichkeit (b126) als mentale Funktionen kategorisiert (World Health Organization, 2005). Sie können für das Verständnis aktueller Einschränkungen und für die Prognose eine wichtige Rolle spielen und sollten in das Fallkonzept mit aufgenommen werden.

Bestand eine prämorbide psychische Störung unabhängig von der neurologischen Erkrankung (d. h. der Stufe-1-Diagnose der zweistufigen Diagnosestellung), ist gemäß Neuropsychologie-Richtlinie (Bundesministerium für Gesundheit, 2012) daraus keine Indikation für ein neuropsychologisches Behandlungsziel abzuleiten, sie stellt jedoch einen wichtigen personbezogenen Faktor dar, der in die Therapieplanung einbezogen werden sollte. Häufig führen neurologische Erkrankungen jedoch zu einer Exazerbation psychischer Erkrankungen. So kann beispielsweise infolge eines Infarktes eine bereits vor dem Infarkt bestehende depressive Episode in ihrem Schweregrad zunehmen oder als sogenannte korrespondierende psychische Störung erstmalig auftreten, z. B. Depression nach Schlaganfall oder Angst vor einer erneuten Hirnblutung. Ist dies als Folge des Infarktes zu bewerten, wäre eine Indikation für eine Behandlung im Rahmen der Neuropsychologie gegeben und sollte aus unserer Sicht in die Behandlungsziele und den Behandlungsplan mit aufgenommen werden.

Elektronisches Supplement

Das elektronische Supplement (ESM) ist mit der Online-Version dieses Artikels verfügbar unter https://doi.org/​10.1024/1016-264X/a000390.

Anhang

Entwurf einer Falldarstellung

Eingekreiste Ziffern verweisen auf die entsprechenden Komponenten des ICF-Modells (siehe Abbildung 1).

Wir danken unseren Kolleginnen Johanna Hoff und Eva Sonntag für angeregte fachliche Diskussionen und Beiträge zur Formulierung von Therapiezielen im Falldarstellungs-Formular.

Literatur

1 Der Begriff „Falldarstellung“ wurde der Musterweiterbildungsordnung für Psychotherapeut_innen (Bundespsychotherapeutenkammer, 2021) entnommen. In anderen Aus- und Weiterbildungskontexten werden die Begriffe Falldokumentation, Fallbericht oder – im Curriculum der GNP – Kasuistik verwendet.