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Free AccessEditorial

Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter: Befunde zur Beziehungs- und Strukturachse

Operationalized Psychodynamic Diagnosis in Childhood and Adolescence: Findings on the axes interpersonal relations and structure

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000659

Die gegenwärtig vorliegenden nosologischen Klassifikationen, wie etwa die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) oder das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5), orientieren sich an Symptomen, indem sie eine Vielzahl klinischer Störungsbilder nach übergeordneten Ähnlichkeitsmerkmalen gruppieren. Für die diagnostische und klinische Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist es darüber hinaus wichtig, zusätzliche Informationen zu haben, wie die in der Familie und anderen Kontexten erworbenen Bindungs- und Beziehungsfähigkeiten, belastende Konflikte, die das Leben von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern beeinträchtigen, sowie die strukturellen Voraussetzungen und die Therapiemotivation. Sie enthalten wichtige Hinweise für die Indikation einer stationären oder ambulanten Therapie und das weitere therapeutische Vorgehen.

Vor mehr als 20 Jahren etablierte sich daher ein Arbeitskreis aus einer Gruppe von Kinder- und Jugendpsychiatern, Entwicklungspsychologen, psychodynamisch ausgerichteten klinischen Psychologen und analytischen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten mit dem gemeinsamen Anliegen, hilfreiche psychodynamische Konstrukte für die Diagnostik und Behandlungsplanung im Kindes- und Jugendalter zu operationalisieren, um sie dadurch mit ausreichender Reliabilität und Validität erfassbar und klinisch nutzbar zu machen. Das Projekt wurde in Anlehnung an das im Erwachsenenbereich entwickelte System der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) OPD-KJ (OPD im Kindes- und Jugendalter) genannt. Dieses Vorhaben wirkte in der damaligen Zeit sehr ambitioniert und wurde von vielen Seiten kritisiert oder abgelehnt. Von analytischer Seite wurde bezweifelt, ob die komplexen psychodynamischen Konstrukte überhaupt einer Operationalisierung zugänglich gemacht werden können oder ob dadurch der eigentliche Kern der Konzepte aus dem Blick gerät. Von kinder- und jugendpsychiatrischer Seite wurde die Frage gestellt, ob man tatsächlich so viel Zeit und Energie auf ein Instrument verwenden solle, das Konzepte einer (vermeintlich) im Verschwinden begriffenen psychotherapeutischen Orientierung messbar machen soll.

Allen an der Arbeitsgruppe OPD-KJ beteiligten Klinikern und Wissenschaftlern war klar, dass sie sich einer enormen Herausforderung zu stellen hatten. Dies galt umso mehr, als die Entwicklungsabhängigkeit psychischer Phänomene und die Einbindung von Kindern und Jugendlichen in komplexe Familiensysteme die Operationalisierung weiter erschwerte.

Von Beginn an war dieses diagnostische System – wie erwähnt – nicht als Alternative zur Multiaxialen Diagnostik der ICD-10 gedacht, sondern als eine Ergänzung, die drei Ziele verfolgte: Durch eine klare Operationalisierung sollte eine Präzisierung von psychodynamischen Fallkonzeptionen und damit verbunden ein besserer Austausch zwischen Klinikern ermöglicht werden. Die mithilfe der Operationalisierung und vielfältigen Ankerbeispielen angestrebte Verdeutlichung von sehr breit angelegten Konstrukten sollte einen besseren Austausch zwischen Psychotherapeuten unterschiedlicher psychotherapeutischer Richtungen ermöglichen. Damit wird auch die Kommunikation unter den verschiedenen an der stationären Therapie beteiligten Personen erleichtert und der Transfer in die ambulante Praxis erhöht. Und schließlich war es ein zentrales Anliegen, dringend notwendige Forschung zur Wirksamkeit von psychodynamischer Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter durch eine reliable Operationalisierung zu ermöglichen.

Das dann entwickelte Instrument der OPD-KJ umfasst vier Achsen, die in unterschiedlichem Umfang psychodynamische bzw. deskriptive Konstrukte operationalisieren. Die Achse Behandlungsvoraussetzungen erfasst anhand von subjektiv erlebten somatischen und psychischen Beeinträchtigungen und der Abschätzung der vorhandenen familiären und außerfamiliären Ressourcen die Motivation für eine Behandlung und die Ressourcen, die für eine Behandlung genutzt werden können. Die Achse Beziehung stellt ein Kategoriensystem beobachtungsnaher Verhaltensweisen zur Verfügung, in dem Nähe und Distanz bzw. Wärme und Kontrolle wesentliche Merkmale in der Selbst- und Fremdeinschätzung dyadischer Beziehungen sind. Bei der Achse Konflikt liegt der Fokus auf den zeitlich überdauernden, entwicklungsbehindernden Konflikten, die klar von äußeren konflikthaften Alltagsproblemen abgegrenzt werden können, und deren Verarbeitung in einem aktiven bzw. passiven Modus. Die Achse Struktur erfasst unterschiedliche strukturelle Voraussetzungen wie die Fähigkeit zur Emotionsregulierung, die Selbst- und Objektwahrnehmung sowie Bindungsaspekte. Die Besonderheiten dieses diagnostischen Systems sind neben der klaren Ressourcenorientierung die Tatsache, dass Beeinträchtigungen und Ressourcen über verschiedene Lebensbereiche wie Familie, Gleichaltrige/Freunde und Schule, Körper erfasst werden können, sowie seine Altersnormierung: Die Operationalisierung erfolgt altersgruppenspezifisch und orientiert sich hier an Piaget. Eingeschätzt wird anhand der Altersstufen 1 (2 bis 5 Jahre, d. h. das Vorschulkind), 2 (6 bis 11 Jahre, d. h. die mittlere Kindheit) und 3 (12 Jahre und älter, d. h. ab der Pubertät). Die Beschäftigung mit operationalisierten Kriterien für diagnostische Einschätzungen führte zu einem merklichen Zugewinn an Genauigkeit und Differenziertheit der Konstrukte. Es wurde aber auch deutlich, dass die „richtigen Fragen“ gestellt werden müssen, um eine exakte und beobachtungsnahe Einschätzung zu ermöglichen. Dies führte folgerichtig zu einem Leitfaden mit Fragen für die diagnostische Interviewführung.

Im Jahr 2003 erschien das erste OPD-KJ-Manual. Schon nach wenigen Jahren hatte sich dieses Instrument im deutschsprachigen Raum in der klinischen Praxis fest etabliert. Die Ergebnisse der empirischen Überprüfung sowie die vielfältigen Rückmeldungen aus der klinischen Anwendung und den Schulungen führten zu einer grundlegenden Überarbeitung des Manuals, das 2013 als OPD-KJ-2 veröffentlicht wurde (Arbeitskreis OPD-KJ-2, 2013).

Heute kann festgehalten werden, dass die OPD-KJ nicht nur eine gute Akzeptanz im Praxisfeld hat, sie ist inzwischen an vielen Psychotherapie-Weiterbildungsinstituten fester Bestandteil der Curricula geworden, und zwar nicht nur an psychodynamisch orientierten Instituten, sondern bis weit in die Verhaltenstherapieausbildung hinein. Auch in der Qualitätssicherung für Kassenanträge zur Richtlinienpsychotherapie ist die OPD-KJ nicht mehr wegzudenken. Viele Psychotherapeuten haben die Erfahrung gemacht, dass es anhand dieser Operationalisierungen leichter gelingt, Übereinstimmung im Austausch mit Fachkollegen zu erzielen und dennoch die Komplexität psychodynamischer Konzepte zu erhalten. Durch die Veröffentlichung des englischen Manuals OPD-CA-2 im Jahr 2017 (Task Force OPD-CA-2, 2017) wurde der Interessentenkreis für die OPD-KJ noch einmal erheblich erweitert. Die spanische Fassung wird in diesem Jahr veröffentlicht werden. Gegenwärtig wird die OPD-KJ außer in den deutschsprachigen Ländern in mehreren europäischen und lateinamerikanischen Ländern eingesetzt.

Die ersten empirischen Ergebnisse zur Überprüfung der OPD-KJ hatten gezeigt, dass die Operationalisierung gelungen war, aber dass einige Bereiche des Manuals überarbeitet und geschärft werden mussten. Auch die OPD-KJ-2 muss sich nun empirischer Forschung stellen, um die psychometrische Güte des Instruments zu überprüfen und, wo nötig, weiter zu verbessern.

Für das vorliegende Themenheft haben wir schwerpunktmäßig Beiträge zusammengestellt, die die diagnostische und klinische Arbeit mit der Beziehungs- und der Strukturachse ins Zentrum stellen. Informationen aus der Beziehungsachse erlauben es, Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung einer therapeutischen Bearbeitung zugänglich zu machen. Die mithilfe der Strukturachse der OPD-KJ-2 erfassten Patientenmerkmale, wie Umgang mit negativen Affekten, Impulskontrolle, Selbst- und Objektdifferenzierung, Fertigkeiten in der Introspektionsfähigkeit sowie Bindungsaspekte, sind nicht nur hilfreich für eine differenzielle Indikation, sondern unterstützen die Behandlungsplanung und ermöglichen die Untersuchung der Effekte des Therapieangebots.

Wir freuen uns daher, den Lesern dieser Ausgabe der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie die Ergebnisse von vier empirischen Studien aus dem deutschsprachigen Raum vorstellen zu können, welche die Anwendung der OPD-KJ-2 in Forschung und Klinik veranschaulichen.

In dem ersten Beitrag berichten Pokieser, Fliedl, Zajec und Singer (2019) über den Einsatz der OPD-KJ-2 in der österreichischen Klinik Hinterbrühl, bezogen auf die Struktur- und Beziehungsachse. Von 40 stationär behandelten Jugendlichen zeigte die Hälfte Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV). Während auf der Achse Struktur keine Unterschiede im Vergleich zu Patienten ohne NSSV zu finden waren, differenzierten die Einschätzungen auf der Beziehungsachse zwischen den beiden Gruppen.

Im zweiten Beitrag werten Escher, Seiffge-Krenke, Lothenbach und Müller-Knapp (2019) Daten zur OPD-KJ-2 aus, die in der schweizerischen Klinik Sonnenhof in der Alltagsroutine verwendet wird. Die Dimensionen Steuerung und Bindung der Achse Struktur wurde bei 75 stationär behandelten Jugendlichen zu Therapiebeginn und nach 8-wöchiger Behandlung erfasst. Beide Dimensionen verbesserten sich im Laufe der Behandlung vor allem bei Jugendlichen mit affektiven Störungen oder Angststörungen.

Bock et al. (2019) untersuchten das psychische Strukturniveau von 60 Jugendlichen (33 stationäre Patienten, 27 Schüler) mit der OPD-KJ. Eine Nachuntersuchung 7 Jahre später zeigte positive korrelative Zusammenhänge zwischen defizitärer Struktur im Jugendalter und psychischen Störungen sowie psychosozialen Funktionseinschränkungen im jungen Erwachsenenalter. Diese Ergebnisse sprechen für den prädiktiven Wert einer frühen Einschätzung des Strukturniveaus für den Langzeitverlauf.

Im letzten Beitrag beschreiben Schrobildgen, Weissensteiner, Lazari, Goth und Schmeck (2019) die Evaluation der psychometrischen Gütekriterien des neu entwickelten Fragenbogens OPD-KJ-2-SF zur Erfassung der Achse Struktur und ihrer Dimensionen im Jugendalter. Sie können in einer gemischten klinischen und nichtklinischen Stichprobe von 589 Jugendlichen zeigen, dass der OPD-KJ2-SF eine sehr gute Reliabilität aufweist und dass alle Hauptskalen des Instruments hoch signifikant zwischen Schülern und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen diskriminieren.

Nach dem nun vorliegenden Themenheft mit einem Schwerpunkt auf den Achsen Struktur und Beziehung sollten in einem nächsten Schritt auch die Konfliktachse und die Achse Behandlungsvoraussetzungen in ihrer Bedeutung für die Kinder- und Jugendpsychiatrie überprüft werden. Wir würden uns freuen, wenn Leserinnen und Leser durch diese Beiträge angeregt würden, die OPD-KJ-2 in ihrer alltäglichen Praxis einzusetzen und auch vermehrt zu Forschungszwecken zu verwenden.

Literatur

  • Arbeitskreis OPD-KJ-2. (Hrsg.). (2013). OPD-KJ-2. Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter. Grundlagen und Manual. Bern: Huber. First citation in articleGoogle Scholar

  • Bock, A., Huber, E., Müller, S., Henkel, M., Sevecke, K. & Schopper, A. et al. (2019). Psychisches Strukturniveau im Jugendalter und der Zusammenhang mit späterer psychischer Erkrankung – eine Langzeitstudie. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 47, 400–410. First citation in articleGoogle Scholar

  • Escher, F., Seiffge-Krenke, I., Lothenbach, P. & Müller-Knapp, U. (2019). Veränderungen in den Skalen Bindung und Steuerung der Achse Struktur der OPD-KJ bei stationären Patienten einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 47, 412–425. First citation in articleGoogle Scholar

  • Pokieser, V., Fliedl, R., Zajec, K. & Singer, V. (2019). Nichtsuizidale Selbstverletzung im Zusammenhang mit den Achsen Struktur und Beziehung nach der OPD-KJ-2. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 47, 388–398. First citation in articleGoogle Scholar

  • Schrobildgen, C., Weissensteiner, R., Lazari, O., Goth, K. & Schmeck, K. (2019). OPD-KJ2-SF 12–18 – ein neues Instrument zur Erfassung der Achse Struktur des OPD-KJ-2. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 47, 428–440. First citation in articleGoogle Scholar

  • Task Force OPD-CA-2. (Eds.). (2017). OPD-CA-2. Operationalized Psychodynamic Diagnosis in Childhood and Adolescence. Bern: Hogrefe. First citation in articleGoogle Scholar

Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke, Psychologisches Institut, Johannes Gutenberg-Universität, Binger Str. 14–16, 55122 Mainz, Deutschland, E-Mail
Prof. Dr. Klaus Schmeck, MD MSc, Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrische Forschung, Schanzenstr. 13, 4056 Basel, Schweiz, E-Mail